Integration

Das Wort „Integration“ ist gegenwärtig in aller Munde, da tut es not, sich seiner Herkunft und seiner Bedeutung zu vergewissern. Es geht laut Duden zurück auf das lateinische „integer“, was mit unbescholten oder makellos übersetzt werden kann. Von „Integration“, der Wiederherstellung eines Ganzen, ist erst seit dem 19. Jahrhundert, also dem Zeitalter des Nationalismus und der europäischen Staatenbildung, die Rede. Der Dornseiff listet die Integration in den Wortgruppen des Verbindens, der Zugehörigkeit und des Ankommens auf.

Genau diese Assoziationen sind gewollt, wenn im politisch-soziologischen Kontext von der Integration die Rede ist, speziell der Aufnahme zahlloser Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft. Die Ereignisse in der Silvesternacht 2015/16 in Köln und Hamburg lassen allerdings die Frage zu, ob resp. zu welchen Kosten diese herkuleische Aufgabe gelingen kann. Etliche junge Männer, dem Vernehmen nach aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum, hatten gruppenweise Frauen eingekreist, angefasst, bestohlen, sexuell belästigt, entkleidet und vergewaltigt. Die Behörden sahen sich veranlasst, von einer bisher nicht dagewesenen Form der Kriminalität zu sprechen, die es keinesfalls zu dulden gelte.

Abseits dieser hilflosen Floskeln steht der wachsende Zweifel im Raum, ob die runde Million junger Flüchtlinge in der deutschen Gesellschaft „ankommen“ kann oder auch nur will. Sie sind mehrheitlich in einem Kulturkreis aufgewachsen, der keine klare Trennung von Staat und Religion kennt, keine unabhängige Justiz, keine Sozialfürsorge, keine Freiheit der Meinung und der Kunst und vor allem keine Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Gewalt gegenüber Frauen in Köln, Hamburg und weiteren Großstädten zeigt deutlich, wie wenig kompatibel die westlich-europäischen Gesellschaften mit den Vorstellungen der überwiegend islamisch sozialisierten Männer sind.

Die groteske Nichtpolitik der deutschen Bundesregierung, die von einer Steuerung oder gar Begrenzung des Flüchtlingsstroms weiterhin nichts wissen will, wird in den europäischen Nachbarstaaten mit einer Mischung aus Kopfschütteln und Entsetzen registriert. Sollten die Exzesse der Silvesternacht ein Muster unzivilisierten Verhaltens gewesen sein, müssen sich die Deutschen, speziell die Frauen, auf ungemütliche Zustände in ihren Städten einstellen, dürften Parallelgesellschaften nach französischem Vorbild entstehen. Dann wird sich die Öffentlichkeit an den Schattenbegriff der Integration, nämlich den der Segregation, gewöhnen müssen.

Wie Integration funktioniert, formuliert die Systemtheorie unmissverständlich, wenn sie von einem Prozess spricht, „in dem neue Elemente in ein System so aufgenommen werden, daß sie sich danach von den alten Elementen nicht mehr unterscheiden als diese untereinander“. Die viel beschworenen Werte der westlichen Welt, in die die Flüchtlinge sich einfügen sollen, sind in Deutschland schwerer zu verhandeln als andernorts, zu schnell wird reflexartig der Vorwurf des Rassismus erhoben. Aber dann offenbaren sie sich eben ex negativo: Eine strukturelle Frauenverachtung gehört ganz sicher nicht zum Wertekanon europäischer Kultur.

Braunkohleverstromung

Dieser so harmlos technische wie unfreiwillig putzige Terminus hat wohl kaum das Zeug zum Unwort des Jahres, der damit bezeichnete Prozess ist aber sicher die ökologische Untat des frühen 21. Jahrhunderts. Denn die Energiegewinnung aus Braunkohle ist so aufwändig, umweltzerstörend und klimaschädlich wie keine weitere Art, Strom und Wärme zu produzieren.

Wer einmal eine Reise in die großen Braunkohletagebauten dieser Republik gemacht hat, sieht ein blutendes Land. In Nordrhein-Westfalen im Westen und in Brandenburg im Osten, den verbliebenen Revieren bundesdeutscher Braunkohleverstromung, ist die Erde über etliche Quadratkilometer aufgerissen. Ganze Dörfer und Kleinstädte wurden zur Erschließung des fossilen Brennstoffes planiert, Tausende Menschen ihrer Heimat vertrieben. Durch den energieintensiven Abbau des Bodenschatzes wird das Grundwasser großflächig kontaminiert und kann nicht mehr zur Trinkwassergewinnung genutzt werden. Die CO2-Emissionen der Braunkohlekraftwerke der großen Energiekonzerne übertreffen in ihrer Schädigung der Gesundheit jeden anderen Energieträger.

Sieht so die viel beschworene Energiewende der Bundesregierung aus? Mitnichten, denn infolge des Atomausstiegs hat die dreckige Ausbeutung der Braunkohle beträchtlich zugenommen, allen Klimakonferenzen mit dem Ziel der Senkung des tödlichen Kohlendioxid-Ausstoßes zum Trotz. Es sind sozialdemokratische Wirtschaftsminister der Hauptförderländer, die dem besorgten Publikum die Energie des letzten Jahrhunderts als verlässliche Brückentechnologie verkaufen – auf dem Wege in eine Zukunft der Erneuerbaren Energien. Auch das Totschlagargument der Arbeitsplatzsicherheit einer ganzen Branche darf dabei nicht fehlen. Unterm Strich gerinnt der unschuldige Begriff der Braunkohleverstromung zum Synonym der fortgesetzten Selbstverletzung wider besseres Wissen.

Autogerecht II

Was für eine Botschaft! Mordversuch in Deutschland bleibt folgenfrei, solange er mit dem Auto und dem Smartphone verübt wird. Das Landgericht Stuttgart verurteilte eine Autofahrerin, die am Steuer ihres Wagens auf gerader Landstraße SMS tippte, sich willentlich ablenkte und dabei en passant einen Rennradfahrer tötete und einen weiteren schwer verletzte, zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, sprach sie also faktisch frei. Das Gericht sah die Tatbestände der fahrlässigen Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung ebenso als erfüllt an wie den des versuchten Mordes, weil die Angeklagte nach dem Aufprall Fahrerflucht beging, ohne Hilfe für die von ihr niedergefahrenen Rennradfahrer zu holen. (AZ: 2KLs 71 Js 78596/14)

Es ist grotesk, dass ein Mensch, der sämtlicher Verbrechen dieser Liste überführt ist, nicht ins Gefängnis muss. Mit diesem grausam unverhältnismäßigen Urteil festigt das Landgericht Stuttgart die traditionell deutsche Bevorzugung der Autofahrer vor anderen, in aller Regel schwächeren und damit schutzbedürftigen Verkehrsteilnehmern. Unklar bleibt auch, warum die Angeklagte, die zum Zeitpunkt des Mordversuches 19 Jahre alt war, nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurde. In diesem Land darf man mit Erreichen der Volljährigkeit mit 18 Jahren wählen gehen, eine Wohnung mieten, einen Kredit aufnehmen, einen Arbeitsvertrag abschließen, Alkohol in der Öffentlichkeit trinken und einen Führerschein machen. Warum legt man nicht den gleichen Maßstab der Verantwortlichkeit für tödliches Verhalten im Straßenverkehr an?

Generell verfolgt eine Strafe sanktionierende wie auch abschreckende Absichten; letztere wird durch das Urteil des Landgerichts Stuttgart sicher nicht erreicht. Es festigt sich der unselige Eindruck, dass es sich bei der Tötung eines Menschen mit einem Auto um eine lässliche Sünde handele, die in den Autoverkehr eingepreist sei. Warum nur ist den urteilenden Richtern der Schutz von Radfahrern und Fußgängern so wegwerfend egal, dass sie auf ein naheliegendes Signal verzichten und die junge Straftäterin, die offensichtlich unfähig war, mit der Waffe Auto sorgsam umzugehen, auf freiem Fuß lassen? Weil Stuttgart im Epizentrum der deutschen Automobilindustrie und ihrer Arbeitsplätze sichernden Zuliefererunternehmen liegt? Das urdeutsche Wort „autogerecht“ bekommt dergestalt eine weitere unmenschliche Dimension.

Unbemannt und herrenlos

Die letzten Jahre haben wahrlich ausreichend Vorschläge zur Abbildung geschlechtlicher Vielfalt in der Sprache hervorgebracht. Doch gibt es weiterhin Lebensbereiche, die sich hartnäckig dem diskursiven Einfluss des Weiblichen entziehen oder gar verweigern. Dies wird deutlich an den verwendeten Adjektiva, denen es an einem adäquaten geschlechtlichen Gegenüber mangelt.

Da wäre beispielsweise das seltene Wort „unbemannt“ zu nennen, das nicht etwa eine Single-Frau bezeichnet, sondern im Kontext der Raumfahrt Kapseln, Raketen oder ähnliche Flugobjekte meint, die ohne Männer resp. ohne Menschen an Bord im All unterwegs sind. Das scheinbare Gegenstück „unbeweibt“ verweist nicht auf eine fehlende Astronautin, sondern auf einen Mann ohne Frau.

Ähnlich inkongruent kommt „herrenlos“ daher, in Kombination mit einem Gepäckstück, das im Bahnhof die Gefahr eines Anschlags heraufbeschwört oder mit einem Tier, das allein durch die Straßen irrt. Warnungen vor einem „damenlosen“ Koffer oder Hund werden nicht ausgesprochen – ganz so, als seien Terrorismus und Tierquälerei Männersache.

Sport und Spinonage sind diesbezüglich schon einen Schritt weiter: So gibt es beim Ballspiel zum im Rücken lauernden „Hintermann“ das Pendant der unvermutet auftauchenden „Hinterfrau“, und auch die verdeckt Ermittelnden können „V-Männer“, „V-Frauen“ oder ganz neutral „V-Leute “ sein. Ob das ein Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung ist?

App

Eine App (von Applikation stammend, nicht von Apple herrührend) ist ein Zusatzprogramm, das auf Smartphones läuft und gezielt den Zugang zu einer konkreten Dienstleistung herstellt. Es gibt Apps zur Wettervorhersage, zum Pizzabestellen, zur Suche nach der nächsten Tankstelle, zur Reisebuchung und natürlich zum Flirten und Daten. Anders formuliert, erleichtern Apps den Kontakt zwischen Anbietern und Konsumenten im Zeitalter der alles erfassenden Mobilität – ein Smartphone hat heutzutage schließlich (fast) jeder.

Auch die zahllosen Asylbewerber, die in diesen Wochen nach Deutschland kommen und sich registrieren lassen wollen. Ihre tragbaren Telefoncomputer stellen eine essenzielle Verbindung zur Welt dar, sie nutzen Facebook, Twitter, Skype und WhatsApp zur Kommunikation über Kontinente hinweg. Doch dem dauerhaften Gerede der Digitalisierung zum Trotz, müssen sie für ihren Antrag auf Asyl analog bei den Registrierungsstellen erscheinen. Wozu das führt, lässt sich vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin beobachten.

Früh morgens stehen bereits mehrere Hundert Menschen vor einem LAGeSo-Gebäude an, um eine Wartenummer zu bekommen; diese Nummer wird vielleicht am nächsten Tag oder auch in der nächsten Woche auf einem kleinen Display erscheinen, dergestalt wird der Termin annonciert, zu dem die Wartenden ihren Antrag stellen können. Während des endlosen Ausharrens im Gedränge unter freiem Himmel werden die Menschen durch Absperrgitter kanalisiert, mit den erwartbaren Folgen der Frustration und Aggression.

Es bleibt schleierhaft, warum das LAGeSo angesichts des kontrollierten Chaos auf seiner Webseite keine sprachlich anpassbare App zum Herunterladen für Asylbewerber anbietet, mittels derer (a) eine Vorregistrierung stattfände, (b) eine Wartenummer erhältlich wäre und über die (c) Raum und Zeit zur persönlichen Vorsprache angekündigt werden könnten. Das Aufstellen einiger Router auf dem Gelände und das Installieren von Steckdosen zum Akkuladen komplettierte die Infrastruktur. Mit ein wenig gutem Willen läse sich eine solche Vereinfachung des Verfahrens ganz einfach als App-laus.

Autogerecht I

Dieses Wort findet sich weder im Duden (24. Auflage) noch im Dornseiff (8. Auflage), dabei beschreibt es die deutsche Seele so elementar wie kaum ein anderes. Als nach den Bombardements des II. Weltkriegs praktisch alle Innenstädte in Trümmern lagen, schlug die Stunde der Raumplaner. Sie ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und schufen die „autogerechte“ Stadt – Wohnen und Arbeiten, Konsum und Kultur, Lernen und Freizeit, jeder Lebensbereich hatte sich dem jungen Verkehrsmittel und seinem flächenfressenden Asphalt und Beton unterzuordnen. Unter den mörderischen Folgen dieser Nachkriegsentscheidung leiden die Menschen und die Natur bis heute.

Achtspurige Schnellstraßen durchschlagen ganze Wohnquartiere, SUV mit der Antriebsleistung eines Schützenpanzers blockieren Bürgersteige, Fußgänger, Radfahrer und spielende Kinder gelten als mobile Verkehrshindernisse, Promenaden und Piazzen verschwinden zugunsten von Parkhäusern – kein Land der Welt pflegt ein derart libidinöses bis pathologisches Verhältnis zum Auto wie Deutschland. Die Industrie, in den Augen der Politik sakrosankte Stütze der exportorientierten Wirtschaft, feiert den Einzug digitaler Technologien ins Steuerpult des Fahrzeugs als ästhetisch-funktionalen Fortschritt; für die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer tut sie verlässlich nichts.

Mit dem Totschlagargument der Sicherung von Arbeitsplätzen rechtfertigt die Autolobby die Steigerung des Komforts durch noch mehr Masse und immer höhere Geschwindigkeit, anstatt etwa einen Airbag für Fußgänger und Radfahrer im Falle einer Kollision zu entwickeln. Leise oder gar stumme Motoren zu kreieren, käme den Ingenieuren nicht den Sinn – sollen die lärmgeplagten Menschen sich doch hinter Schallschutzglas verschanzen. Der Benzinpreis ist trotz des längst erreichten Peak Oil noch immer skandalös niedrig, die Treibstoffsteuer wirkt wie eine versteckte Subvention ungebremster CO2-Emissionen. Die Ampelschaltungen privilegieren schamlos die PKW und LKW, ihre Lenker sind beim fahrlässigen Töten von Radlern und Passanten optimal versichert.

Es scheint Teil der DNS der Bundesrepublik zu sein, „autogerecht“ mit „menschengerecht“ zu identifizieren, auch wenn die Einsicht wächst, dass die Städte am Krach, Dreck, Gestank und Platzbedarf der aggressiven Blechkisten ersticken. Anfang der 1970er Jahre wurde in Amsterdam gefordert, die Fahrbahnen zwei Meter in die Erde zu versenken und die Dächer der Autos mit Pflanzen zu begrünen. Naiv, aber charmant und human. Eine Reise egal in welches Land belehrte die Deutschen en passant, wie entspannt es zugehen kann, wenn die Menschen im Auto keinen Fetisch sehen, sondern ein Gebrauchsgut. Aber was will man erwarten von einem Land, dessen Bevölkerung (ihre) Freiheit selbstgerecht über das Fehlen eines Tempolimits auf Autobahnen definiert?

Asyl

Die Flüchtlingskrise, die Europa und Deutschland gerade erschüttert, ist auch eine Krise der Sprache. Die zahllosen Menschen, die sich aus Südosteuropa, von Nordafrika und dem Nahen Osten aus in Richtung Westeuropa aufmachen, sich dabei oft in die Hände skrupelloser Schlepper begeben und auf der Fahrt über das Mittelmeer ihr Leben riskieren, gelten im politischen und medialen Diskurs dieses Landes wahlweise als Flüchtlinge oder als Migranten. Diese wie jene begehren Einlass in Deutschland, dabei sich auf das Recht auf Asyl berufend. Und allen stehen die Türen umstandslos offen.

Das Wort „Asyl“ kommt aus dem Griechischen und meint unverletzlich. In Deutschland ist es kodifiziert in Artikel 16a, Satz 1, GG, der politisch Verfolgten Asylrecht gewährt. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1954 definiert das Recht auf Asyl ebenfalls entlang politischer, nationaler, religiöser und rassischer (sic!) Verfolgung. Beide Texte kennen ausdrücklich weder Armut noch fehlende berufliche Perspektiven als Fluchtgründe. Dieser Umstand kommt in der in Deutschland geführten Debatte vollkommen zu kurz, ebenso werden Flucht und Migration munter durcheinander geworfen.

Die deutsche Regierung verkauft die gute Million an Menschen, die in diesem Jahr nach Deutschand kommen, der Bevölkerung als demographischen Gewinn. Sie sortiert sie en passant in die Kategorie der Zuwanderung, die angesichts des unterstellten Fachkräftemangels nützlich sei, anstatt die damit einhergehenden Belastungen bein Namen zu nennen. Eine solche Haltung ist nicht nur feige, sie ist töricht. Wenn die Bundesregierung der Ansicht ist, es brauche Zuwanderung nach Deutschland, dann soll sie diese steuern anhand klarer Kriterien sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Genau das tun nämlich die klassischen Einwanderungsländer, die Immigration als Investment verstehen.

Da aber Deutschland ein Einwanderungsland ohne Einwanderungsgesetz sein und bleiben will, haben die Verzweifelten nur das Ticket des Asylrechts, auch wenn es in vielen Fällen gar nicht greift. Das Bild des Flüchtlings in den geltenden Gesetzen und Konventionen orientiert sich am heroischen Widerständler gegen die Nazis; die armen Teufel, die aus Motiven der Hoffnungslosigkeit im Heimatland kommen, fallen dabei durchs Raster. Entweder schafft sich die EU ein einheitliches Asyl- und Einwanderungsrecht oder sie zerfällt in wenigen Jahren in überwunden geglaubte Antagonismen. Die Würde des Menschen, die zu schützen sie ja angeblich zu ihrem Daseinszweck erklärt hat, wird dann verletzlicher sein als ehedem.

Ausnahmezustand

Der Souverän ist derjenige, der über den Ausnahmezustand verfügt, so die berühmte Definition politischer Macht des Staatsrechtlers Carl Schmitt. Juristisch gesehen, ist mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes ein Außerkraftsetzen von Regeln und Gesetzen verbunden, an die Stelle der Herrschaft der Verfassung tritt die Herrschaft per Dekret. In der Debatte um die Flüchtlingskrise, die seit Monaten Europa und Deutschland beherrscht, hat sich die deutsche Bundeskanzlerin über geltendes EU-Recht hinweggesetzt und zusätzlich die Wirklichkeit in den Ländern und Kommunen ignoriert, die partout nicht mehr wissen, wo und wie sie die Asylsuchenden unterbringen sollen.

Mit ihrer Zusage, die zahllosen in Budapest festsitzenden Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, und der Behauptung, das Recht auf politisches Asyl kenne keine Obergrenze, hat Angela Merkel eine Blankoeinladung an alle potenziellen Auswanderer im Nahen Osten, auf dem Balkan, in der Levante und im Maghreb ausgesprochen. In Windeseile hat sich Merkels Parole der offenen Grenzen und ausgebreiteten Arme via Smartphone in den Krisengebieten dieser Welt verbreitet. So standen allen Ernstes Tausende Ausreisewillige in Beirut und warteten auf ein Schiff der deutschen Regierung, das sie, so die irrige Annahme, über das Mittelmeer direkt ins Gelobte Land bringen sollte.

Angela Merkel hat eine gefühlsmäßig geleitete Entscheidung getroffen und en passant die Schengen-Regelung zur Sicherung der EU-Außengrenzen und das Dublin-Abkommen zur Bearbeitung von Asylanträgen im Erstaufnahmeland der EU kassiert. Mit dieser nur scheinbar souveränen Geste wird sie bestenfalls zur Getriebenen des Zuwanderungsdrucks, allen Bemühungen um eine konzertierte Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der EU-Staaten zum Trotz. Dass sich kein einziges EU-Mitgliedsland mit der Bundesrepublik „solidarisch“ erklärt, wie Merkel es nun kleinlaut verlangt, ist keine große Überraschung. Wer den Ausnahmezustand mutwillig herbeiführt, muss die folgende Einsamkeit aushalten können.

Sommerloch

Der Sommer mag brütend heiß sein oder verregnet, zuverlässig präsentiert er sich in seiner Pracht wie Not. In der Sprache der Medien umreißt das Sommerloch die nachrichtenarme Zeit der Monate Juli und August, wo nicht nur die Schulkinder Ferien haben, sondern auch die Theater schließen und die Parlamente pausieren. Im Sommer 2015 gibt es zwar mit dem Flüchtlingsstrom und der Griechenlandkrise saisonale Themen von Gewicht, doch versteht es der Politikbetrieb von selbst, sich auf Trab zu halten.

So lässt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig, SPD, verlauten, es sei unsinnig, im September 2017 bei der dann stattfindenden nächsten Bundestagswahl einen eigenen Kanzlerkandidaten der SPD aufzustellen. Die gegenwärtige Kanzlerin Angela Merkel mache ihren Job dermaßen gut, dass es das Beste für das Land sei, sie bis auf Weiteres in der Verantwortung zu lassen und ihr beim Regieren zu assistieren. Ein Kanzlerkandidat der SPD hätte gegen sie ohnehin keine Chance.

Lässt sich die Bedeutungslosigkeit der einst so stolzen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands besser illustrieren als mit dieser peinlichen Geste der Unterwerfung? Was reitet den Landesfürsten Albig, kurz vor dem parlamentarischen Sommerurlaub den eigenen Parteichef (und Juniorpartner Merkels) verbal zu beschädigen? Ist ihm im kühlen Norden die Hitze derart zu Kopf gestiegen, dass er nicht mehr weiß, was er sagt? Wie sehr ist der SPD der Glaube an eigenes Gestalten abhanden gekommen, dass sie sich mit der Dauerrolle der kleinen Schwester an Merkels Seite bescheidet, anstatt selbst bewusst nach der Macht zu greifen, in welcher Konstellation auch immer. Die Verherrlichung der eisernen Kanzlerin offenbart, wie wenig politische Substanz die SPD mittlerweile noch anzubieten hat. Albig ist mehr als der Clown des Sommerlochs, man darf gespannt sein, was ihm zur Mitte der Jahre 2019 und 2023 einfallen wird. So sterben hehre Ideen.

Caitlyn? Chelsea!

Ein aktuelles Lieblingsthema der Medien scheint die wachsende Sichtbarkeit von Trans*menschen zu sein. Auf Foren und Blogs sowie in Zeitungsartikeln, Talkshows und Filmen geht es vermehrt um Menschen, die sich aufmachen, ihr Geburtsgeschlecht zu verlassen, um in ihrer seit jeher empfundenen Identität anzukommen. Meist geraten diese Portraits sensibel und respektvoll, durchsetzt mit Bemühen um Verständnis und Akzeptanz.

Im Fall Caitlyn aka Bruce Jenner aber kommen den berichtenden Journalisten alle passablen Maßstäbe abhanden. Der Gewinner der Goldmedaille im Zehnkampf bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal wird gerade zu einer Ikone des weltweiten Kampfes der Emanzipation von Trans*menschen hochgejazzt – und ist doch nur geeignet, das überwunden geglaubte Bild der halbseidenen, schrillen Transsexuellen zu festigen.

Denn erstens hat Jenner seine/ihre Prominenz im Trash-TV rund um den peinlichen Kardashian-Clan erlangt, in den er vor Jahren einheiratete, um dort als Patriarch zu viel Geld zu gelangen. Zweitens bekommt Caitlyn ob des eigenen Reichtums nichts mit von den existenziellen biographischen Brüchen so vieler Trans*frauen nach dem Coming-out; wer kann sich schon umfassend der schmeichelnden Segnungen der plastischen Chirurgie bedienen und wird von Annie Leibovitz für die Vanity Fair abgelichtet? Drittens schließlich ist es ein Zeichen erklärter Feigheit, im welken Alter von 65 das Trans*sein nachholend öffentlich zu machen, eine klare Mißachtung der zahlreichen Pionier*innen vergangener Jahrzehnte.

Die kleine Trans*gemeinde sollte sich hüten, ausgerechnet dieses Plastikprodukt zum Vorbild zu erheben und in dessen Kielwasser auf mehr Gleichberechtigung zu hoffen. Vielmehr sollte sie dafür streiten, dass Chelsea Manning nicht vollends in Vergessenheit gerät, die in einem Militärgefängnis für ihren Mut einsitzt, Dokumente über US-Kriegsverbrechen an die Plattform Wikileaks übermittelt zu haben. Auf das nüchterne Urteil der Journaille sollte sie dabei nicht setzen, diese lässt sich nur zu gern von Hochglanzbildern inszenierter Bedeutsamkeit blenden.