Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt. – Jorge Luis Borges
An dieser Stelle war die natürliche Grenze auch eine politische. In Mitte teilte die Spree die Stadt einst in Ost und West. Heute führt in gut 20 Metern Höhe ein Steg über den Fluss, der zwei Bauten des Parlamentes miteinander verbindet. Dieser luftige Zugang zum Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH) ist für Kerstin besonders spektakulär, panoramahaft zu sehen sind die Schweizer Botschaft, der Hauptbahnhof, die Bundespressekonferenz, das ARD-Hauptstadtstudio und natürlich der Reichstag. Der empfangende Gang des Gebäudes auf der Ostseite der Spree wird gesäumt von Fotografien der Künstlerin Sophie Calle aus der Wendezeit. Über eine Treppe mit Stufen aus grauem Granit und einem Geländer aus gebürstetem Stahl kommt Kerstin schließlich auf der Arbeitsebene des Hauses an. Hier befindet sich der Zugang zur Bibliothek.
Die Bibliothek des Bundestages ist die Kraftwerk des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses (MELH), sie zählt zu den größten Parlamentsbibliotheken der Welt. Sie versammelt etwa 1,5 Millionen Medieneinheiten, darunter 8.000 Periodika, und alle Amtsdrucksachen seit 1949. In den Untergeschossen des Zylinders mit seiner Schale aus hellgrauem Sichtbeton findet sich das Magazin, das jährlich um 15.000 Bände wächst, ausgegeben werden die online bestellten Bücher im Foyer der Bibliothek und in einer Zweigstelle in einem Nachbarbau. Imposant ist der Lesesaal, der sich über fünf Ebenen erstreckt, die zum Wasser hin verglast sind. Auf einer kreisrunden Galerie findet die geneigte Besucherin gut 600 Zeitschriften zur freien Benutzung vor Ort, es dominieren geistes- und sozialwissenschaftliche Titel aus den Rechtswissenschaften, der Politik, der Geschichte, der Kultur, der Psychologie und der Ökonomie. Kerstin sucht sich 20 aktuelle Hefte aus und geht zu einem Arbeitsplatz mit direktem Blick auf die Spree. Architektur als atmosphärische Rahmung der Arbeit.
Das MELH, ein Entwurf des Architekten Stephan Braunfels, ist der östliche Abschnitt des sogenannten Bandes des Bundes, es liegt auf einer Achse mit dem Kanzleramt und dem Paul-Löbe-Haus (PLH); mit letzterem ist es über einen Laufsteg verbunden, der die Überwindung der einstigen Sektorengrenze symbolisieren soll. Erbaut wurde es von 1998 bis 2003, konzipiert war es von Beginn an als das Herz des Wissens des Bundestages. Neben der Bibliothek sind hier der Pressedienst, die Geheimschutzstelle, ein großer Anhörungssaal und ein Reisebüro für die Abgeordneten untergebracht. Mit der Erweiterung Richtung Osten wurde 2010 begonnen, hierbei kam es immer wieder zu Verzögerungen, weil die Betonplatte des Fundamentes Risse aufwies und ein Wasserschaden chronisch zu werden drohte. Zwischenzeitlich stand gar der Abriss des MELH zur Debatte, nun ist die Übergabe des fertigen Baus auf Ende 2021 terminiert. Die rund 500 gegenwärtig leerstehenden und die projektierten 300 zusätzlichen Büros des Erweiterungsbaus werden angesichts des Platzbedarfs des wachsenden Parlamentes sehnlich erwartet.
Kerstin ist stets aufs Neue begeistert beim Betreten des Lesesaales, der von der Ruhe und der Erhabenheit einer Kathedrale kündet. Sie legt die ausgewählten Zeitschriften auf einen Arbeitstisch und überfliegt die Inhaltsverzeichnisse, um dann einzelne Artikel zu lesen und gegebenenfalls zu kopieren. Ihre Besuche in der Bibliothek sind zum einen verzweifelte Versuche, mit der gewaltigen Wissensproduktion zur Politik und den angrenzenden Disziplinen Schritt zu halten, in der Einsicht, dass kein Mensch all die verfügbaren Analysen, Essays, Interpretationen und Studien jemals auch nur annähernd werde rezipieren, verstehen und verarbeiten können. Doch reicht ein halber Tag im Lesesaal, um zu einzelnen Aspekten des Tagesgeschäftes vertiefte intellektuelle und emotionale Ansichten zu erhalten und darüber teilzuhaben an der Diskussion. Zum anderen hat der Aufenthalt im Lesesaal die Qualität der Kontemplation, gerade im regelmäßig hektischen Alltag des Parlamentes, der von Terminen, Bildschirmarbeit, Telefonaten und Sitzungen gekennzeichnet ist. In der Stille über ihren Texten, aus denen Kerstin mit Bleistift hier und da handschriftlich exzerpiert, tankt sie seelisch auf, dabei tut auch die räumliche Entfernung zum Reichstag und zum PLH auf der anderen Spreeseite gut.
Die Bibliothek ist Kerstins natürliches Habitat. Bereits zu Grundschulzeiten, als sie gerade Lesen gelernt hatte, ging sie nachmittags regelmäßig in die kleine Stadtbücherei im Einkaufszentrum ihres Wohnviertels. Sie war stolz auf ihren Benutzerausweis, auf ihren Namen ausgestellt, der sie berechtigte, pro Monat bis zu zehn Bücher und Tonträger auszuleihen. Stundenlang saß sie in den Räumen, die unter der Obhut weißhaariger Bibliothekarinnen standen, streifte durch den Wald aus Regalen, las sich an einzelnen Büchern fest und vergaß traumversetzt die Zeit. Neben Büchern, die für Kinder und dann Jugendliche geeignet waren, entdeckte sie Tageszeitungen im Format A2 mit wenigen Schwarz/Weiß-Fotos, Schallplatten bekannter und vor allem unbekannter Bands sowie Atlanten, die mit ihren Karten in physikalischer wie politischer Gestalt das räumliche Denken und das Reisen im Kopf beförderten. Als sie später studierte, sammelte sie die Informationen in der Bibliothek des Instituts, vorher den Katalog konsultierend und Literaturlisten abarbeitend. Bei Reisen in fremde Städte weiß sie es stets so einzurichten, dass es Zeit und Gelegenheit gibt zum Besuch einer öffentlichen Bibliothek. Ähnlich wie ein Bahnhof, eine Prachtstraße oder das erste Café am Platz geben die Sammlungen an Büchern, Handschriften, Folianten und Magazinen eine Visitenkarte des jeweiligen Landes ab.
Dabei ist Kerstin durchaus darauf bedacht, ihre eigene Bibliothek mit ihren thematischen Schwerpunkten zu pflegen. Im Jahresrhythmus wird es Zeit für ein neues Regal, um die unablässig wachsende Zahl an Büchern unterzubringen; lange wird dieses System nicht mehr funktionieren, sind doch alle verfügbaren Flächen ihrer Wohnung mit Regalen bestückt, ein Umzug ist auch deswegen unausweichlich. Die private Bibliothek ist in ihren Augen so individuell wie ein Fingerabdruck; was einem Menschen wirklich etwas bedeutet, lässt sich am Inhalt der Regale in seinen vier Wänden ablesen, auch daran, wie behutsam er mit den eigenen Büchern umgeht und zu welchen Konditionen er diese verleiht oder auch nicht. Kerstin ist beruflich gehalten, dauernd zu lesen; viele Texte recherchiert sie in Datenbanken, liest sie als PDF und speichert und bearbeitet sie am Rechner. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass ihre Augen und ihr Geist weniger schnell ermüden, wenn die Buchstaben gedruckt auf einem Stück Papier anstatt als Flüssigkristall am Monitor erscheinen. Das Haptische und das Olfaktorische, vom Ästhetischen zu schweigen, eines solide gebundenen Buches möchte Kerstin nicht missen, erst recht nicht, wenn sie Texte privat und auf eigene Wahl hin liest.
Kerstin studiert die vor ihr liegenden Fachzeitschriften, die sie gottlob nicht selbst abonnieren muss, um à jour zu bleiben, und macht sich Notizen auf ihrem Spiralblock. Das einsame Geschäft des Lesens, Denkens und Schreibens wird befördert durch die andächtige Stille, die in der Rotunde herrscht und der sich die Besucher willig fügen; dank der sakralen Akustik wird selbst ein Räuspern am Nebentisch geschluckt. Unterhalb der Decke des Lesesaales verläuft eine Lichtinstallation des Künstlers Maurizio Nannucci im Anschluss an einen Gedanken der Philosophin Hannah Arendts: „Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns unter Gleichen / Gleichheit ist denkbar als Möglichkeit des Handels für die Freiheit.“ Das neonblaue Band aus Buchstaben ist durch die Glaswand der Bibliothek auch von außen gut lesbar, sein Inhalt stellt die spannungsvolle Verschränkung von Freiheit, Gleichheit und Handeln in der Demokratie pointiert dar. Sich über die theoretischen Implikationen des politischen Geschäftes im Klaren zu sein, befördert hoffentlich dessen Qualität und Verantwortung.
Nach stundenlangem Lesen räumt Kerstin die entliehenen Zeitschriften zurück in ihre Fächer und verlässt den Zylinder des Lesesaales. Sie tauscht dessen intensive Stille gegen die Grabesruhe der großen Halle des MELH. Zwei Drittel des Hauses sind noch ungenutzt, die Büros, die wie die Zinken eines Kammes in querliegenden Trakten von der Halle wegziehen, wurden noch nie bezogen – daher der leblose Kontrast zu den umliegenden Arbeitsgebäuden des Parlamentes. Architektonisch fügt sich das MELH in die Formensprache seiner Nachbarn ein, es dominieren der leuchtende Kunststein, der Granit unter den Füßen, der Stahl in den Händen und das Glas an den Wänden, ergänzt um den Einfall des Lichtes von allen Seiten. Die große Freitreppe am Ufer wird dauernd für irgendwelche Fotoaufnahmen genutzt, Läuferinnen sprinten die Stufen wadenfordernd nach oben, am Haupteingang wesen Mauerreste vor sich hin. Das parlamentarische Ensemble an der Spree entbehrt der Abschreckung der Macht durch eine spezielle Architektur, mit der Ausnahme der Schleusen an den Eingängen sind kaum Sicherheitskräfte zu sehen. Wie gut diese offene Konzeption inmitten der Stadt reift und altert, wird sich in 40 Jahren beobachten lassen. Bis dahin werden noch viele Zeitschriften zu lesen sein.