Das eigentlich Erstaunliche an der Zeitschrift „Lettre International“ ist, dass es sie nach 34 Jahren noch immer gibt. Ein journalistischer Erfolg gegen jede betriebswirtschaftliche Wahrscheinlichkeit. Das Heft, nach eigener Einschätzung „Europas Kulturzeitung“ und geboren aus dem Geist der Dissidenz des Kalten Krieges, erscheint viermal im Jahr; der normale Umfang liegt bei rund 140 Seiten inklusive Umschlag, Sondernummern sind nochmal um 100 Seiten länger. Sperrig das aus dem Zeitungswesen bekannte Nordische Format, Typografie und Layout sind bis zur aktuellen Ausgabe 135 kaum verändert, handschmeichelnd das seidige Papier des Innenteils, das auch nach Jahren nicht vergilbt oder Blasen wirft. Ein immerwährender Manufactum-Katalog des Geistes und des Genusses.
Keimzelle des Blattes war die 1984 in Paris gegründete „Lettre“ (zu Deutsch sowohl Buchstabe als auch Brief), deren Herausgeber, der an der Seine lebende Exiltscheche Antonin Liehm (1924 bis 2020), das Ziel verfolgte, mit den Mitteln einer vielsprachigen Kulturpublikation die politischen und militärischen Grenzen des Eisernen Vorhangs zu überwinden. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurden ein spanischer, ein italienischer und ein deutscher Ableger gegründet; Mitte der 1990er Jahre erschien Lettre simultan auf Polnisch, Serbisch, Rumänisch, Bulgarisch, Ungarisch und Russisch. In den Jahren nach der Epochenschwelle 1989/91 wirkte Lettre als Austausch- und Durchlaufmedium zwischen den sich auflösenden Blöcken in einer sich globalisierenden Welt jenseits der zwei Pole, ein bewusst vage gehaltener Begriff der Kultur erlaubte das Nebeneinander komplett disparater Artikel.
Von Beginn an gehörte es zum Konzept der deutschen Lettre, mit Reproduktionen der Werke internationaler Maler, Grafiker, Bildhauer und Fotografen (m/w/d) auch den visuellen Horizont des Publikums zu erweitern und auszumalen. Die verschiedenen Redaktionen tauschten sich zwar über die Inhalte aus, trafen aber eigenständig die Entscheidung über die Veröffentlichung von Texten und Fotografien sowie über den Erscheinungsrhythmus. Heute ist von diesem imposanten Netzwerk lediglich die deutsche Ausgabe übrig geblieben, ab und an erscheinen Ausgaben in Italien, Spanien und Dänemark. Den ehrgeizigen Versuch einer englischsprachigen Edition hat es bis heute nicht gegeben; der britische Platzhirsch „Granta“ scheint ebenso abzuschrecken wie der US-amerikanische „New Yorker“. Lettre selbst deutet an, dass es für ein solches Vorhaben einen langfristig orientierten Investor brauche.
Die erste deutsche Ausgabe im Sommer 1988 erschien als Spin-off der „tageszeitung“, mit der sie in ihren ersten Jahren eine verlegerische Einheit bildete. Seit Mitte der 1990er Jahre erscheint Lettre in einer eigens dafür geschaffenen GmbH, Redaktionssitz blieb in all diesen Jahren Berlin. „Lettre International“ finanziert sich unabhängig über den Verkauf des Heftes am Kiosk und über den Buchhandel, über das Abonnement und über Anzeigen; projektweise kommt es zu Kooperationen mit einem Automobilhersteller. Hinter dem Titel steht kein großer Medienkonzern, der das Heft als Liebhaberprojekt mit Erlösen aus anderen Produkten quersubventionieren könnte. Auch erhält der Verlag keine Förderung der öffentlichen Hand, was er aktuell in der Debatte um die Unterstützung der Kultur in Zeiten der Pandemie-Maßnahmen wortreich beklagt. Allerdings stiften hin und wieder renommierte Künstler originale Werke, die exklusiv der Leserschaft zum Kauf angeboten werden. Die Druckauflage wird vom Verlag mit 25.000 Exemplaren angegeben, die verkaufte Auflage mit stabilen 16.500 Exemplaren in der Saison.
Lettre lässt sich vom Genre nur schwer festlegen. Veröffentlicht werden Essays, Reisereportagen, wissenschaftliche Analysen und auch Lyrik; eine redigierende oder zumindest lektorierende Hand wird scheint’s nicht angelegt, die Redaktion enthält sich jeglicher Kommentare, auch ein Editorial sucht man vergebens. Immer wieder werden Gespräche publiziert, über politische und literarische Themen und besonders über das Theater. Standen in den ersten Jahren die Texte osteuropäischer und südamerikanischer Autoren im Vordergrund, wurden diese sukzessive um die Arbeiten von Autoren aus China, Japan, Indien und den arabischen Ländern erweitert. Kaum überschätzt werden kann das Gespür der Redaktion für Stimmen, die im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken sind. So mancher Autor machte seine ersten Schritte bei Lettre, bevor ein Buchverlag auf ihn aufmerksam wurde und ihn zu einer Nummer im literarischen Rahmen aufbaute. Lettre fühlt sich offenbar wohl in der Rolle der Avantgarde und schließt an die großen Literaturzeitschriften aus Russland respektive der Sowjetunion an: So veröffentliche Anton Cechov seinen Bericht über die Insel Sachalin 1894 in der liberalen Пуссkaя Mысль, Alexander Solschenizyn seinen Roman über Ivan Denissowitsch 1962 in der linientreuen Hobи Мир.
Eine Abonnenten-Analyse vom Winter 2005 (die mutmaßlich an Gültigkeit nur wenig eingebüßt hat) charakterisiert die Leserschaft von „Lettre“ als „weltoffene Bildungselite“, die „qualitätsbewusst lebt und kauft“. Diese Leser, im Sinne Bourdieus bestens ausgestattet mit kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital, gehen oft und gern ins Theater, ins Konzert und ins Restaurant, außerdem reisen sie gern und viel. Sie sind zu gut drei Vierteln männlich, haben zu fast 80 % einen Hochschulabschluss und verdienen weit überdurchschnittlich. Über die Hälfte ist 50 Jahre und älter, arbeitet vielfach im Kultur-, Medien- und Bildungssektor, dort in der Regel in leitender Position. Dass „Lettre International“ weiterhin an der alten Rechtschreibung von vor 2006 festhält und beharrlich auf das modische Gendern sowie auf die Identitätspolitik verzichtet, scheint die (gegebenenfalls) liberal-konservative Leserschaft nicht zu stören, eher im Gegenteil. In ihr scheinen sich Geist, Geld und Tradition harmonisch zu vereinen, was auch an den Annoncen ablesbar wird: Teure Autos werden ebenso beworben wie chice Restaurants und Uhren, Designerlampen, aktuelle Bücher und Opern-Premieren.
Auch politisch ist „Lettre International“ nur schwer einzuordnen, dem Selbstverständnis nach ist sie à la Hegel einem unabhängigen kulturellen und ästhetischen Nach-Denken des Weltgeschehens verpflichtet. Soziologische, pädagogische und wirtschaftliche Kriterien zur Beurteilung der diskutierten Sachverhalte werden in den präsentierten Texten durchaus herangezogen, allerdings ohne auf ein (partei-)politisch handhabbares Format gebrochen werden zu können. Lettre ist insofern eine elitäre Veranstaltung, als sie zu Kontemplation und Muße einlädt; ein Habitus, den man sich finanziell, sozial und intellektuell leisten können muss. Texte, deren Positionen einander vehement widersprechen, sind in Lettre regelmäßig zu lesen; es ist dem Publikum wohl zuzumuten, für sich die entsprechenden Schlüsse zu ziehen in einer Republik des Wissens und der Anschauung, ohne Dogma und Ideologie. Ob sie dafür außerhalb des eigenen Kosmos wahrgenommen wird? Im Feuilleton der einschlägigen Zeitungen wird Lettre nur selten zitiert.
Lettre ist geradezu rührend analog, die Webseite dient als Hub zum Verkauf des aktuellen Heftes und älterer Ausgaben. Das Verschenken von Free Content sucht man hier vergebens, auch eine digitale kostenpflichtige Version des Heftes für das Tablet gibt es nicht. Allerdings bieten sich die Lettre-Texte nur selten dafür an, am Bildschirm gelesen und zwischendurch konsumiert zu werden, dafür sind sie zu lang, zu gehaltvoll und mitunter zu komplex. Dafür wird den Lesern ein Abonnement des gedruckten Heftes ans Herz gelegt, weil dies die Arbeitsbedingungen der kleinen Redaktion stabilisiere. In der schnelllebigen Medienwelt wird Lettre von den Kollegen größerer Häuser äußerst wohlwollend betrachtet, anscheinend gehen Kauf und Lektüre des Heftes nicht zulasten eigener Produkte. Dabei ist Lettre keineswegs im 20. Jahrhundert steckengeblieben, im Heft finden sich Texte zum Darknet und zum Klimawandel, zur kalabrischen Mafia und zum Landleben, zum russischen Imperium und zur Cancel Culture, zu Afghanistan und zum Regietheater.
Spiritus Rektor ist der Gründungsredakteur, Verleger und Geschäftsführer der Zeitschrift, der mittlerweile Anfang 70 ist, 1979 zum Gründungsteam der „taz“ gehörte und unter anderem für Visa und IBM gearbeitet hat. Seiner Beharrlichkeit, seinem Wissen und seinem detaillierten Netzwerk ist es zu verdanken, dass die Zeitschrift immer wieder originale Arbeiten hoch berühmter Autoren und Künstler (m/w/d) veröffentlichen kann, ohne diesen die marktüblichen Honorare entrichten zu müssen. Die Gefahr dieses Modells liegt in der starken Personalisierung der Rekrutierung; was einmal nach dem Abgang des Chefredakteurs mit dem Heft passieren wird, ist anscheinend konzeptionell nicht geregelt. Der Geist weht offenbar, wo er will.
Lettre hat mit den Jahren seine Loge gefunden, in der „Europas Kulturzeitschrift“ keine Konkurrenz zu fürchten hat. Das Heft wird über den Moment hinaus konzipiert und produziert, Aktualität ist bei einem Quartalsmagazin nicht zu erwarten. Auch wenn Lettre in manchen Cafés ausliegt, sieht man doch selten, dass jemand das Magazin in der Öffentlichkeit bewusst liest. Neben dem Inhalt funktioniert Lettre offensichtlich als Symbol der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die die Zeitläufte zuerst nach Kriterien der Ästhetik beobachtet – oder es in den Augen der Redaktion zumindest sollte. Das Heft mit seiner barocken Überladenheit vermittelt auf subtile Weise das Gefühl von Luxus, wie es ein Flug in der Business Class tut oder das Zücken einer BahnCard 100 der I. Klasse. Der Distinktionsgewinn hält sicher bis zum Erscheinen der nächsten Nummer – ob sie die Texte tatsächlich alle liest, weiß nur die Käuferin allein.