Mоногoрод

  Am Ostrand des Urals schufen Ingenieure seit den dreißiger Jahren einen der größten Industriekomplexe der Welt. Wer wissen will, was die Sowjetunion wirklich war, muß dorthin fahren – nach Magnitogorsk. – Karl Schlögel

Vor 30 Jahren kollabierte die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und zerfiel in 15 seitdem selbstständige Staaten, von denen die Russische Föderation bezogen auf die Fläche wie die Bevölkerung der mit Abstand größte ist. Wer eine Archäologie der historisch gewordenen Sowjetunion betreiben möchte, kann in die Archive gehen und Akten studieren, wie es seit der Archivrevolution der Perestroika viele Historiker getan haben. Auch finden sich in den literarischen Texten der Zeit vor 1991 und auch danach ausreichend Spuren zum Präparieren eines sowjetischen Psychogramms, wie es Svetlana Alexijewitsch modelliert hat. Ein sinnfälliger Eindruck vom Untergang des sozialistischen Imperiums findet sich schließlich in seinen bis heute bewohnten Ruinen, die an den Rändern jeder russischen Metropole liegen und mitten im sibirischen Nirgendwo. Kaum etwas ist so typisch für den Sozialismus wie die Architektur rund um die großen Industrieanlagen.

Die sowjetische Führung unter Josef Stalin fasste ausgangs der 1920er Jahre den Entschluss, aus dem agrarisch rückständigen Russischen Reich binnen eines Jahrzehnts eine Industrienation mit Weltmachtanspruch zu formen. Dazu wurden die Bauern in Russland und der Ukraine enteignet und in Kolchosen zwangskollektiviert; parallel dazu erfolgte in den Weiten Sibiriens die Erschließung wertvoller Bodenschätze und die Gründung gigantischer industrieller Trusts. Die für den Betrieb der Minen und Fabriken benötigten Arbeiter wurden unter den deportierten ehemaligen Bauern ebenso rekrutiert wie unter den Millionen Häftlingen des Gulag. Dessen Lager überzogen die ganze Sowjetunion wie ein Netz, auf dem Rücken dieser Sklaven entstanden riesige Komplexe, die sich monothematisch einem industriellen Zweck verschrieben: Dem Abbau von Nickel, der Förderung von Kohle, dem Gewinn von Mineralien, der Bergung von Gold, der Produktion von Stahl. Die industrielle Arbeit geschah vielfach unter den Bedingungen einer chronischen Verschmutzung von Luft und Gewässern; mit dem Verkauf der Bodenschätze wurde die industrielle Transformation der UdSSR finanziert.

So entstanden in den 1930er Jahren Workuta (Kohle), Norilsk (Nickel), Kirovsk (Apatite) und Magnitogorsk (Stahl), buchstäblich aus der Leere des Permafrostes. Die Arbeiter wohnten anfangs in Zelten, Jurten und Erdlöchern, bevor sie in hölzerne Baracken und geziegelte Häuser umziehen konnten. Nach dem Ende des II. Weltkriegs kamen Togliatti (Auto) und Mirny (Diamanten) hinzu. All diesen Orten ist gemein, dass sie sogenannte Monotowns (Mоногoродa) sind: Die russische Regierung definiert eine Stadt als Monostadt, wenn mehr als 20 % der arbeitsfähigen Bevölkerung in der lokalen Industrie arbeiten. Im Jahr 2021 werden 321 urbane Siedlungen mit insgesamt über 13 Millionen Einwohnern in ganz Russland als Mоногoрод eingestuft. Dieses Erbe der sowjetischen Kommandowirtschaft und ihrer Fünf-Jahres-Pläne ist besonders anfällig für wirtschaftliche Schwankungen auf einem potenziell globalen Markt mit wacher Konkurrenz.

Die Grafikagentur „Zupagrafika“ aus Posen widmet den Monotowns einen eigenen Bildband. Die Agenturgründer David Navarro aus Spanien und Martyna Sobecka aus Polen sind bereits mit mehreren eindrücklichen Fotobänden zum Brutalismus der Architektur des Sojus hervorgetreten; für ihr neues Projekt haben sie den Fotografen Alexander Veryovkin aus Petersburg beauftragt, die Mоногoродa des post-sowjetischen Riesenreiches bildlich zu dokumentieren. Das unter dem sprechenden Titel „Monotowns“ publizierte Werk ist von großer erzählerischer Wucht. Die Fotos, stets im schneereichen Winter aufgenommen, beschreiben die Osmose der industriellen Anlagen und der mit diesen entstandenen Wohnquartiere der Arbeiter. Die abgebildete Generation der Wohnhäuser wurde zum Ende der UdSSR in den 1970er und 80er Jahren errichtet.

Diese Plattenbauten, sogenannte Panelki, waren seit der Zeit Nikita Chruschtschows stilbildend für den Wohnungsbau der Sowjetunion und des ganzen Ostblocks. Die von Alexander Veryovkin aufgenommenen Gebäude stammen aus der Nachfolgegeneration unter Leonid Breschnew, sie erreichen eine größere Höhe mit 9, 12 und auch 18 Geschossen und bleiben in der Regel unverputzt. Typisch für den sozialistischen Städtebau in der UdSSR seit den 1930er Jahren ist die Anordnung der Wohnriegel in parallel gesetzten Zeilen, manchmal einen Hof umschließend, die Flächen dazwischen sind den Planungen zufolge der Begrünung reserviert, zu der es jedoch nicht immer gekommen ist. Die auf diese Weise errichteten Siedlungen unweit der Fabriken dienen allein dem Wohnen und dem Schlafen, ein kulturelles oder sportliches Leben ist in den Trabanten nicht vorgesehen. Sie nehmen bewusst Abschied vom Städtebau europäischer Prägung, der die Viertel über Magistralen, die als Sicht- und Verkehrsachsen fungieren, auf ein Zentrum mit seinen repräsentativen Palästen hin ausrichtet.

Die sowjetische Architekturdoktrin wollte die Wohnbauten, als deren Bauherr allein der Staat auftrat, als Mittel der Kollektivierung und Erziehung der Bevölkerung verstanden wissen. So wurden die Grundrisse der Wohnungen bewusst klein gehalten, um möglichst viele Einheiten und damit Familien auf gegebener Fläche unterzubringen; fehlender Platz etwa in der Küche oder für Kinder sollte über gemeinschaftlich zu nutzende Speisesäle und Krippen ausgeglichen werden. Da die Monotowns am Zeichentisch im Büro entworfen und auf freiem Grund gebaut wurden, fehlen häufig ältere Gebäude wie etwa Kirchen, Kontore, Universitäten oder Burgen ebenso wie Marktplätze; ihr Daseinszweck ist die benachbarte Fabrik, sie gehören zu ihrer Infrastruktur wie Gasleitungen, Brücken, Stromtrassen, Abraumhalden und Förderbänder. Die Menschen sollen in dieser ins Private verlängerten Produktionshalle funktionieren, an ihre intellektuellen, seelischen und intimen Bedürfnisse ist nicht gedacht.

Die Aufnahmen Veryovkins haben die Qualität sorgsam komponierter Stillleben. Eine Doppelseite über Magnitogorsk, arrangiert wie die Flügel eines Altares, zeigt auf der rechten Seite die rauchenden Schlote der Stahlwerke, auf der linken Seite geht der Blick des Fotografen über die flachen Hausdächer zum Horizont, an dem sich die qualmenden Schornsteine wiederfinden. Die Wohnblöcke, deren Monotonie sich in der Masse der Wiederholung potenziert, entbehren jedes Schmuckes an den Fassaden, selten nur sind sie durch verglaste halbe Balkone oder Vorsprünge etwas aufgelockert. Menschen kommen hier wie auf den anderen Aufnahmen nur am Rande vor, sie haben die Aufgabe, eine Maßstäblichkeit ins Bild zu bringen; das gilt auch für gelegentlich gezeigte Hunde oder Pferde. Die Farbpalette umfasst die Grisaille-Töne von Schwarz über Blau und Grau zu Weiß; leuchtende Farben wie Rot, Grün oder Gelb kommen nur zu Auszeichnungs- oder Warnzwecken zum Einsatz.

Besonders hypnotische Aufnahmen stammen aus der Minenstadt Mirny im mittelsibirischen Bergland. Einmal ist im Panorama, wahrscheinlich mit einer Drohne aufgenommen, die rechtwinklig angeordnete Wohnbebauung direkt am Rand des gewaltigen Minenkraters zu sehen. Die einzelnen, unterschiedlich gefärbten und allseits schneebemützten Blöcke wirken wie die Chips auf einer Platine; der Krater scheint sie aufsaugen und verschlucken zu wollen. Eine weitere Aufnahme lässt den Blick über das Innere des künstlichen Kegels schweifen, an dessen fernem Rand sich Fabrik- und Wohngebäude wie Legosteine aufreihen. Auf diesem Bild, das die Winzigkeit des Menschen in dieser lebensfeindlichen Umgebung illustriert, ist die Kälte des sibirischen Winters abseits einer belebenden Vegetation zu spüren. Wie viele Stunden menschlicher Arbeit waren nötig, um im Tagebau das Tal im Innern der Erde zu schaffen, damit diese die Diamanten freigebe?

Das Eintönige der Mоногoрод ist zugleich ihr Wiedererkennungswert. Die Bilder des Bandes erlauben für sich genommen keine klare Identifikation mit einer Stadt, weil es überall gleich aussieht. Die dominante Farbe der Blöcke ist ein Gemisch aus Grau, Sand und Beige, jeden Glanzes durch die strenge Witterung beraubt. Die in serieller Produktion gefertigten Platten sollten in jedem Winkel der Union einsetzbar sein, die Herstellung im großen Maßstab sollte Kosten senken und die Umsetzung der Bauvorhaben vor Ort beschleunigen. Den Siedlungen fehlt eine städtebauliche Mitte, die neben der Befriedigung der Grundbedürfnisse des Leibes und der Mobilität auch kulturelle, sportliche und touristische Sehnsüchte bedient. Die zum Teil monumentalen Blöcke kommunizieren nicht einmal miteinander, sie sind isolierte Elemente einer Kommune von der Baltischen See bis zum Pazifik, die keine Individualität vorsieht. Vor diesem Hintergrund sind Ornamente, Verzierungen, Reliefs und Portale an den Wohnhäusern überflüssig. Es ist schwer vorstellbar, wie sich die Menschen zu ihren Häusern und ihrer Stadt bekennen. Vielleicht sollen sie auch nur mit ihrer Arbeit im Werk verschmelzen, nominell sind sie ja Proletarier im Reich des Sozialismus. Und überall wacht der Gründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin in granitener oder bronzener Gestalt über die Werktätigkeit der Genossen.

Der Band „Monotowns“ von Zupagrafika öffnet auch die Frage nach der Zukunft der vorgestellten urbanen Räume. Die Antwort kann wohl nur von Ort zu Ort gegeben werden. Rund ein Drittel der offiziellen Mоногoродa sind vom Strukturwandel der Wirtschaft akut bedroht und haben Anspruch auf staatliche Unterstützung. Die jenseits des Polarkreises liegenden Workuta und Nickel haben seit dem Ende der Sowjetunion rund die Hälfte ihrer Einwohner verloren – wer es schafft, zieht von hier weg in menschliche Gefilde. Ein Bild aus dem einstigen Kohlezentrum des Imperiums wirkt wie ein Vorgriff auf das Morgen: Der langgestreckten Anlage fehlen die Fensterscheiben, die zugeschneiten Wege zum Haus werden nicht mehr geräumt, der Frost und der Wind setzen dem Beton mit permanentem Abrieb zu, dereinst werden die Panelki im Schnee versinken und zerbersten, dann geben sie einer künftigen Generation an Archäologen Rätsel auf – welche Götter haben hier gewürfelt?

Dass an diesen Orten im Hinterland der UdSSR und Russlands Menschen leb(t)en, belegt der Fotograf mit Abbildungen von Laden- und Hinweisschildern – Buchstaben des kyrillischen Alphabets als Zeugnisse menschlichen Verlangens nach Sichtbarkeit und Orientierung. Alexander Veryovkin, Ästhet wie Chronist, macht der Leserin des Bandes „Monotowns“ ein verführerisches Angebot der Schönheit. Die blinden Fenster in den schmutzig bunten endlosen Fassaden der Blöcke belegen die Versuche des Menschen, der grimmigen Natur ihre Schätze abzuringen. Die zu diesem Zweck errichteten Wohngebäude als Bestandteil der Fabrik sind Teil des ewigen Kreislaufs aus Werden und Vergehen. Veryovkins bewohnte Höhlen als Artefakte haben etwas Anorganisches, das sich umstandslos in die Wüste aus Kälte, Wind und Fels einfügt. Dabei ist das sowjetische Signet aus Hammer und Sichel im Ährenkranz an einer Hauswand in Cherepovets nur Teil der russischen Folklore, ebenso das Monument zur Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg in Magnitogorsk.

Togliatti an der oberen Wolga, einst die größte Monostadt des Reiches, erlitt in den 1990er Jahren einen schmerzhaften Niedergang, die Kriminalität griff um sich, der Stadt drohte das gleiche deprimierende Schicksal wie der US-Schwester Detroit. Die Autofabrik wurde 2009 vom russischen Regime vor dem Bankrott bewahrt, heute fertigt hier der Renault-Konzern seine PKW. Der Wohnkomplex Matryoshka ist in fröhlichen Frühlingsfarben angestrichen, was die Uhr um 20 Jahre vorstellt. Das Militärische des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates wird frappierend ablesbar durch die Aufnahme eines unter freiem Himmel ausgestellten U-Bootes. Der Zug zum Heroischen schließlich zeigt sich an einem Wandrelief des Prometheus am lokalen Kulturpalast, das farblich mit den silbrig blassen Tönen der Umgebung harmoniert. Eine der seltenen Innenaufnahmen des Bandes zeigt das lokale Schwimmbad, wo Jugendliche und Senioren vor einem wandhohen Mosaik ihre Bahnen ziehen.

Ohne die krude Mischung aus Zwang, Rücksichtslosigkeit und Pioniergeist wären die vorgestellten Mоногoродa nicht entstanden, zumindest nicht von relativer Dauer gewesen. Durch das Ende der Sowjetunion sind diese Pyramiden des Industriezeitalters teilweise zu Mausoleen geworden. Doch Kirovsk auf der Kola-Halbinsel zeigt, in welche Richtung es mit einer Monostadt heute gehen kann. Der Abbau von Apatit liegt mittlerweile in den Händen von Phosagro, dem größten russischen Hersteller von Saatgut und Düngemitteln. Zudem hat die Stadt in den letzten 30 Jahren einen bemerkenswerten Prozess der Diversifizierung durchgemacht. Eine ausgebaute touristische Infrastruktur zieht Wintersportler aus Skandinavien und Russland an, der 2018 etablierte Knibirny Nationalpark stellt die Weichen der Stadt auf Umweltschutz. Die klare Nordluft über dem vereisten See Vudyavr ist förmlich zu riechen, die angejahrten Plattenbauten vor den ruhigen Bergen verströmen einen musealen Charme. Und die Fassade der Zentralen Bibliothek aus dem Jahr 1939 mit ihrem vom Trottoir rückversetzten Eingang und den Ziersäulen ist aufwendig restauriert und mit frischen Farben gestrichen. Ein Anfang, immerhin.