Madrid

  Auf Remis zu spielen (mit Weiß immer), ist bis zu einem gewissen Punkt ein Verbrechen gegen das Schach. – Mikhail Tal, Zauberer von Riga, Schachweltmeister 1960/61

In den 1990er Jahren war die katalanische Stadt Linares eines der Schachzentren der Erde, der Weltmeister Garri Kasparow hat das Superturnier öfter als jeder andere Großmeister gewonnen. Ab heute rückt Spanien wieder ins Blickfeld der internationalen Schachszene, denn nun beginnt in der spanischen Hauptstadt das Kandidatenturnier zur Ermittlung des Herausforderers des Weltmeisters. Acht Spitzenspieler machen in einem doppelrundigen Turnier ihren Sieger aus, der sich für das nächste Match um die Weltmeisterschaft qualifiziert. Nach dem über zwei Jahre währenden Aus für fast alle Turniere ist Madrid auch ein Zeichen der wiedergekehrten Normalität.

2013 gab es in London nach einem langen Hin und Her wieder ein Kandidatenturnier über 14 Runden mit acht Spielern, das der junge Magnus Carlsen nach dramatischem Verlauf gewann. Kaum eine Regeländerung in der langen Geschichte des Weltschachverbandes FIDE ist von Profis, Sponsoren, Funktionären und Kiebitzen so einhellig begrüßt worden. Seitdem sind die Kandidatenturniere zu den Höhepunkten des Schachkalenders geworden, die zu einem wahren Fest auf den 64 Feldern führen. Das bisher letzte Kandidatenturnier 2020/21 in Jekaterinburg fiel mit dem Beginn der Pandemie zusammen, es wurde noch begonnen, nach sieben Runden aber unterbrochen. Als es dann ein Jahr später im Frühjahr fortgesetzt wurde, war es im Grunde ein zweites Turnier.

Das Feld des Treffens von Madrid darf als sehr ausgeglichen bezeichnet werden. Es fällt schwer, den einen klaren Favoriten zu benennen, kurioserweise stehen hinter jedem Namen Fragezeichen. Ding Liren aus China, Jahrgang 1992 mit einem Rating von 2806 die Nummer Zwei der Welt, ist erst als Ersatzmann für den gesperrten Sergey Karjakin über die Rangliste ins Feld gerückt. Er hat unter der menschenfeindlichen Covid-Politik der chinesischen Regierung gelitten und durfte nicht ins Ausland zu Turnieren reisen. Niemand weiß also, wie gut er trainieren konnte, wieviel Spielpraxis er aufweist und wie stark er wirklich ist. Alireza Firouzja aus Frankreich, Jahrgang 2003 mit einer Elozahl von 2793, hat einen kometenhaften Aufstieg in die Elite hingelegt. Souverän hat er im letzten Herbst das Grand Swiss in Riga gewonnen und sich darüber für Madrid qualifiziert. Es fehlt ihm allerdings an Erfahrung auf Topniveau; ob er sein druckvolles Spiel am Manzanares über zweieinhalb Wochen wird halten können, ist eine der spannenden Frage dieser Tage.

Der US-Amerikaner Fabiano Caruana, Jahrgang 1992, spielt bereits sein viertes Kandidatenturnier. Der WM-Herausforderer von 2018 ist auf diesem Niveau sicher der Erfahrenste, das Ticket nach Madrid hat er beim Grand Swiss in Riga gelöst. Allerdings hat er sich vor Jahresfrist von seinem langjährigen Sekundanten Rustam Kasimjanov getrennt und seitdem nicht mehr richtig Tritt gefasst. Wenn er einen guten Start erwischt, ist alles möglich, sein Rating ist mit 2783 exzellent. Ian Nepomniachtchi aus Russland hat das letzte WM-Match im Advent 2021 in Dubai demütigend verloren, Madrid ist sein Trostpflaster und eine Chance zur Rehabilitierung. Sein Rating ist mit 2766 sehr gut, mit seinen 32 Jahren zählt er bereits zu den Veteranen. Seine Schwäche ist ganz klar seine fehlende Ausdauer; zudem tut er sich schwer, nach einer Niederlage sich zu fangen und einfach weiter zu spielen. Sein Schach ist sehr attraktiv, seine Kondition unprofessionell.

Der 1996 geborene Ungar Richard Rapport, der seit Jahren in Belgrad lebt und demnächst für Rumänien spielen wird, steht für die Zukunft des Schachs. Er hat sich über die Grand-Prix-Reihe qualifiziert, in den Top Ten ist er seit Jahren zuhause (aktuelle Elo bei 2764). Er spielt ein unorthodoxes furchtloses Schach, das den Gegner früh aus der Theorie holen will. Wenn es gutgeht, glänzt er am Brett, er kann aber auch fahrig und nervös werden. Wenn er in den ersten Runden nicht stolpert, dürfen seine Fans hoffen. Hikaru Nakamura aus den USA gelang mit seinem Sieg beim Grand Prix das Comeback des Jahres. Vor zehn Jahren schon mal Nummer Zwei der Welt, hat er sich in den letzten Jahren zu einem finanziell erfolgreichen Schachstreamer auf Twitch entwickelt, mit einem Millionenpublikum und einem zehnköpfigen Team. Der 1987 Geborene ist im Schnellschach am Rechner eine sichere Bank, ob er im Nahschach mit langer Bedenkzeit sich motivieren kann, werden die kommenden Partien zeigen. Sein klassisches Rating von 2760 stimmt optimistisch.

Teimour Radjabov trägt den zweifelhaften Titel des unsympathischsten Teilnehmers. Der Aseri, Jahrgang 1987, hatte Anfang der 2010er Jahre seine beste Zeit, in den vergangenen Jahren hat er kaum gespielt. Dank eines FIDE-Freiloses ist er überhaupt in Madrid dabei: Vor zwei Jahren wollte er im Angesicht von Covid nicht antreten, der Abbruch des Turniers im Ural gab ihm recht; daher die Wiedergutmachung. Von ihm sind blutleere Remisen und ein Platz am Ende der Tabelle zu erwarten, trotz seiner Elo von 2753. Jan-Krzysztof Duda aus Polen darf durchaus als Geheimfavorit verdächtigt werden. Er gewann im letzten Jahr den World Cup überlegen und hat sich mit seinem forschen Schach in der Weltspitze festgesetzt (Elozahl 2750). An Mut und Zielstrebigkeit fehlt es dem 24 Jahre alten Krakauer nicht, ob er die Geduld, die Härte und die Gelassenheit für 14 heftige Runden hat, werden die kommenden Tage und Wochen offenbaren.

Das Kandidatenturnier von Madrid ist noch auf zweifache Weise ungewöhnlich. So wurde der World-Cup-Zweite, der Russe Sergey Karjakin, der bereits 2016 um die WM spielte, von der FIDE disqualifiziert, weil er nach dem russischen Einmarsch der Ukraine das Vorgehen der russischen Führung in zahlreichen Tweets und Posts gerechtfertigt hat. Seitdem ist der junge Mann, der auf der Krim geboren wurde, mit 12 Jahren den Großmeistertitel erwarb und mit 19 zum russischen Schachverband wechselte, in der Schachwelt isoliert. Und dann hat der seit 2013 amtierende Weltmeister Magnus Carlsen mehrfach angedeutet, dass er kein Match mehr um die Schachkrone spielen wolle, es sei denn, es handele sich beim Herausforderer um einen Repräsentanten der jungen Generation. Diese Äußerungen Carlsens haben für Unmut unter den Kollegen und Kiebitzen gesorgt, die vom Weltmeister mehr Ernst und Ehrfurcht gegenüber dem Titel und dem Schach erwarten. Außerdem seien die romantischen Zeiten vorbei, als der Champion sich seinen Gegner nach privaten Kriterien aussuchen konnte. Vor allem aber bekommen Carlsens Überlegungen vor Beginn des Turniers den Charakter einer Wettbewerbsverzerrung. Denn sollte er wirklich nicht mehr antreten, wäre auch der zweite Platz verbunden mit einer Qualifikation für das nächste WM-Match. Möge Carlsen sich besinnen und den Besten, der sich durchsetzt, als vollkommen und willkommen akzeptieren und dann sein unnachahmliches Schach zeigen. Alles andere wäre Schiebung.

Der Spielort könnte pompöser nicht gewählt sein. Die acht Großmeister treffen im Palacio de Santona aufeinander, 1730 gebaut im verschwenderischen Stil des Rokoko und derzeit von der Handelskammer von Madrid genutzt. Die riesigen repräsentativen Räume mit den vergoldeten Säulen, den Wand- und Deckengemälden und kostbaren Vorhängen lenken optisch eher ab; das Spielkabinett findet hinter eigens gezogenen Stellwänden Raum, die eine nüchterne Atmosphäre kreieren und das Schach ins Zentrum rücken. Die Spieler, die alle den letzten zwei Jahren viel Schnellschach online gespielt haben, werden sich umstellen müssen auf die stundenlange Begegnung am Brett mit schön geschnitzten Holzfiguren und einem echten Kontrahenten. Das Zeitkontingent von 120 Minuten für die ersten 40 Züge klingt üppig, ist aber gewöhnungsbedürftig, da das vertraute Inkrement fehlt. Aber die acht sind allesamt Profis, von denen man es erwarten kann, dass sie die je spezifischen Regeln eines Turniers adaptieren. Und alle wissen, dass eine solche Chance so schnell nicht wieder kommt. Es wird Zeit für das beste Schach. Es kommentieren Jan Gustafsson, seines Zeichens Geschäftspartner und Sekundant Magnus Carlsens, und Judit Polgar, beste Spielerin aller Zeiten. Auf geht’s, der Sommer ist gerettet.