Die Erschaffung der Welt hat nicht ein für allemal stattgefunden, sagten Sie zu mir, sie findet unabwendbar alle Tage wieder statt. – Marcel Proust
Am 10. Juli 1871 wurde Marcel Proust in Auteuil geboren, seinerzeit ein ruhiger Vorort, heute ein vornehmer Stadtteil im Westen von Paris. Sein Vater war einer der berühmtesten Ärzte Frankreichs, er wurde der herausragende Epidemiologe der III. Französischen Republik. Die jüdische Mutter stammte aus einer Bankiersfamilie mit deutschen Wurzeln im Elsass, der zwei Jahre jüngere Bruder Robert wurde später Mediziner wie der Vater. Zwischen 1907 und seinem Tod 1922 schrieb Marcel Proust sein solitäres Werk „A la recherche du temps perdu“, zu Deutsch „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Auch wenn dieser Riesenroman, der einem Rundgang durch die mit unermesslichen Schätzen geschmückten Säle des Louvre, der Eremitage oder der Vatikanischen Museen gleicht, in der Ich-Form erzählt wird und der Erzähler den Namen Marcel trägt, muss man sich hüten, den Text als Autobiografie zu lesen. Auch wenn sich viele Szenen im Roman mutatis mutandis auch im Leben des Autors hätten zutragen können, ist der Text ein Werk der Fiktion.
Allerdings stellt es eine Hilfe beim Verständnis des mit Anspielungen und Metaphern reichen Textes dar, ein paar Daten aus dem Leben seines Autors präsent zu haben. Wie sein Held Marcel, hat auch der Autor Proust etliche Jahre seines Lebens als Snob in den Salons der Pariser Hocharistokratie der Belle Epoque zugebracht. Von klein auf kränkelnd, lebt der heranwachsende Marcel in der und für die Literatur, einen anderen Beruf als den des Schriftstellers vermag er sich nicht vorzustellen. Der Vater Adrien im realen Leben (wie der namenlose Vater im Roman) stellt sich eine Laufbahn als Diplomat für seinen Sohn vor; dieser studiert aus lustlosem Gehorsam Jura und Philosophie, ist allerdings durch chronisches Asthma für eine professionelle Tätigkeit im Ministerium oder im auswärtigen Dienst ungeeignet. Sein Ehrgeiz besteht darin, Zugang zu den exklusiven Zirkeln der Pariser Gesellschaft zu finden, die sich in sagenumwobenen Salons trifft, zu denen man nur durch Empfehlungen und Einladungen Zutritt erhält. Marcel charmiert erfolgreich Bekannte, die ihm Türen zu den Soiréen öffnen können, ganz wie sein Schöpfer Proust.
In den Salons des Faubourg Saint-Germain herrschen Dünkel, Distinktion und Dekadenz. Die Gastgeberinnen suchen sich in ihren kulinarischen und künstlerischen Arrangements zu übertreffen, sie schotten sich eifersüchtig gegen Emporkömmlinge ab und tratschen in deren Abwesenheit über ihre engsten Getreuen. Marcel beteiligt sich eifrig an diesem Klatsch, seine Jugend, sein einnehmendes Äußeres, sein Witz und der gute Name seiner Familie machen ihn zu einem gern gesehenen Gast. Erste literarische Versuche für das Feuilleton des Figaro haben das gesellschaftliche Pariser Leben zum Thema, als teilnehmender Beobachter seziert Marcel das Geflecht der Beziehungen der Prinzessinnen, Herzoginnen, Offiziere, Fabrikanten, Maitressen, Spekulanten, Professoren und hohen Beamten. Dabei herrscht ausgangs des 19. Jahrhunderts in diesen Kreisen des Adels und der Großbourgeoisie eine tiefe Skepsis vor der Staatsform der III. Republik. So gibt sich ein allseits beliebter Dandy im Gespräch geheuchelte Mühe, ein jüngst geschehenes Mittagessen mit dem Präsidenten Jules Grévy im Elysée-Palast als eine langweilige Angelegenheit erscheinen zu lassen, um die es weiß Gott kein Aufheben zu machen gelte.
Das Tableau der Figuren der „Recherche“ setzt sich aus fiktiven wie realen Personen zusammen. Der Maler Elstir, der Komponist Vinteuil, der Schriftsteller Bergotte entstammen komplett der Fantasie Marcel Prousts, auch wenn er Anleihen bei von ihm geschätzten Künstlern des Fin de Siècle genommen hat. Die Damen und Herren der Gesellschaft, denen Marcel im Theater, beim Konzert, beim Diner und am Strand begegnet, sind den Menschen nachempfunden, die Proust in den Salons der Jahrhundertwende getroffen hat, verschlüsselt, überzeichnet, addiert, aber bestenfalls pseudonymisiert. Einige dieser Freundinnen und Freunde Prousts zeigten sich wenig begeistert, halbwegs kenntlich in seinen Romanen aufzutauchen, manche kappten gar den Kontakt. Bedrückend real ist die Affäre um den jüdischen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, die für Jahre das Klima der französischen Gesellschaft vergiftete und die Menschen in Anhänger und Gegner des des Hochverrats angeklagten Militärs spaltete. Ebenso historisch ist der I. Weltkrieg, der im Rahmen des letzten Bandes der „Recherche“ das Leben der Menschen prägte und für eine offene Feindschaft gegenüber allem Deutschen, dem Kriegsgegner, sorgte. Die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 führten dazu, dass adlige und intellektuelle Emigranten von Petersburg nach Paris kamen und das Leben der Salons bereicherten. Auch die Spanische Grippe wird erwähnt, die im Jahr 1918 allein in Frankreich 400.000 Menschenleben forderte.
Der Autor Proust lässt seinen Erzähler Marcel, der zum Ende des Romans endlich zum Schriftsteller wird und sich der Arbeit des Schreibens hingibt, folgende Charakterisierung seiner Figuren machen: „In diesem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist, muß ich zum Preise meines Landes sagen, daß die Millionärsverwandten unserer Francoise, die ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatten, um ihrer schutzlosen Nichte zu helfen, die einzigen Personen sind, die tatsächlich existierten.“ Der Autor Proust schöpft bei der Komposition seines Romans aus der Erinnerung, aus seinem eigenen Leben, er präsentiert aber ein Kunstwerk, das es der Leserin ermöglicht, das Buch ihres eigenen Lebens zu lesen. Er bringt seine erdachten Figuren zum Sprechen, so wie Kinder mit ihren Puppen sich unterhalten.
Während Marcel im Roman immer wieder vom aufkeimenden Antisemitismus in den Salons berichtet, ist die innig geliebte Mutter im Roman, anders als im Leben, keine Jüdin. Während der Bruder Robert für den Autor Proust eine lebenslang wichtige Rolle spielte und seine letzten Manuskripte für den Druck vorbereiten sollte, ist Marcel in der „Recherche“ ein verwöhntes Einzelkind. Die Homosexualität des Autors Proust schließlich war für seine engere Umgebung kein Geheimnis, spätestens nach dem Tod der Eltern 1903 respektive 1905 musste er keine familiären Rücksichten mehr nehmen. Für das entschieden heterosexuelle Auftreten des Ich-Erzählers Marcel in der „Recherche“ und das Auslagern männlicher homosexueller Neigungen und Praktiken vor allem auf den Baron Palamède de Charlus und den Marquis Robert de Saint-Loup sind zwei Gründe möglich. Zum einen soziale Skrupel des wertkonservativen Autors, der instinktiv das Andenken seiner Familie im Blick hatte und auch die Publikationsaussichten seines Romans nicht schmälern wollte; zum anderen das abschreckende Schicksal des schwulen irischen Dichters Oscar Wilde, mit dem Proust persönlich bekannt war und der 1895 wegen einer homosexuellen Beziehung zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und dessen Existenz dadurch in Scherben fiel.
In den sieben Bänden seiner „Recherche“ entwirft Marcel Proust ein Bild der Belle Epoque in Frankreich, wie es farbenprächtiger, opulenter und anziehender nicht sein könnte. Der Roman gibt Auskunft über seine Zeit, wie es die Affiches eines Henri Toulouse-Lautrec tun, die Empfänge der Gräfin Elisabeth Greffulhe, die Klavierwolken eines Eric Satie, die Tänze der Ballets Russes mit Vaslav Nijinsky, die Auftritte Sarah Bernhardts im Theater, die Kleider von Mariano Fortuny und die Pariser Weltausstellung von 1900. In den Salons der feinen Gesellschaft, zu der der Autor Proust ebenso Zugang gefunden hat wie der Erzähler Marcel, hält man die Glorie der französischen Monarchie hoch, rühmt die Abkunft des eigenen Adelsgeschlechts aus dem 9. Jahrhundert, heiratet strategisch-inzestuös in der eigenen Linie und richtet überhaupt sein Sinnen und Trachten auf Begegnungen mit den „richtigen“ Leuten. Bei den Bällen und Matineen in den großzügigen Stadtpalais im Faubourg Saint-Germain oder auf den Schlössern in der Normandie oder der Champagne scheint die Zeit stillzustehen, während draußen mit der Fotografie, der Elektrizität, dem Telefon und dem Automobil sich die Boten einer beschleunigten Ära der Masse und der Urbanität ankündigen.
Der Autor Proust, der sich jahrelang im Müßiggang und im geistreichen Geplauder beim Souper gefiel und der seine literarischen Ambitionen immer wieder aufgeschoben hatte, macht dann nach der Überwindung der Depression, in die er nach dem Tod seiner Mutter 1905 fiel, mit seinem Roman Ernst. Er kehrt dem gesellschaftlichen Leben den Rücken zu, verlässt seine Wohnung am Boulevard Haussmann, der ersten eigenen nach dem Tod der Eltern, kaum noch und schreibt ohne Unterlass. Er lässt sein Schlafzimmer mit Kork gegen die störenden Geräusche des Hauses und der Straße auskleiden, hält die Verhänge permanent geschlossen und schreibt im Bett sitzend per Hand. Was wie eine Parodie auf einen Dichter klingt, wird für Marcel zur Berufung: „Wie viele wenden sich daher denn auch vom Schreiben ab! Wie viele Verpflichtungen nimmt man nicht auf sich, um gerade dieser einen zu entrinnen! Jedes Ereignis, ob Dreyfus-Affäre, ob Krieg, hatte den Schriftstellern andere Entschuldigungen geliefert, um nur jenes Buch nicht entziffern zu müssen; sie wollten dem Recht zum Siege verhelfen, die moralische Einheit der Nation neu erschaffen, sie hatten keine Zeit, an Literatur zu denken. Aber das waren nur Ausflüchte, weil sie nicht oder nicht mehr über Genie, das heißt Instinkt verfügen. Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen.“
Für den Autor Proust wird das Schreiben eine Frage des Lebens, ganz wie für den Erzähler Marcel. Das Vehikel, mit dem er sich den Rohstoff seines Schreibens erschließt, ist die Erinnerung an die Kindheit im ländlichen Combray, die Besuche Charles Swanns bei den Eltern, das Spielen auf den Champs Elysées, die unbeschwerten Tage am Strand von Balbec, die Reise mit der Mutter nach Venedig, unwillkürlich ausgelöst durch den Verzehr der Madeleine zum Tee und das Stolpern über einen Pflasterstein auf dem Hof des Palais der Prinzessin von Guermantes. In den Tiefen seines Gedächtnisses findet der Autor all die Szenen seiner Vergangenheit aufgehoben, die er mit der Tinte zu Papier bringt und sie dergestalt der Zeit und ihrer vernichtenden Wirkung entreißt. Das Schreiben wird einerseits eine Hymne auf die Schönheit, andererseits eine künstlerische Opposition gegenüber dem jedes Leben bedrohenden Tod. Dem Autor Proust blieb noch die Zeit, sein Werk nach Jahren intensiver Arbeit, trotz schwacher Gesundheit und exzessivem Medikamentenkonsum zu vollenden, auch wenn die letzten drei Bände erst posthum nach 1922 erschienen. In den letzten Jahren seines Lebens wurde Proust von einem Geheimtipp zu einer Berühmtheit, so erhielt er 1919 den Prix Goncourt, die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, und wurde 1921 für den Nobelpreis gehandelt (der dann an Anatole France verliehen wurde).
In Frankreich hat Marcel Proust den Status eines Klassikers, der neben Honoré de Balzac und Gustave Flaubert steht. Auch in Deutschland werden seine Werke rege gekauft (und hoffentlich auch gelesen). Die erste Übersetzung des kompletten Zyklus von Eva Rechel-Mertens aus den 1950er Jahren galt lange Zeit als Goldstandard des deutschen Proust-Kosmos; ihre behutsame Revision durch Luzius Keller und Sibylla Laemmel in den 1990er Jahren war nach editorischen Verbesserungen des französischen Originals notwendig geworden. In den 2010er Jahren unternahm Bernd-Jürgen Fischer das Wagnis einer Neuübersetzung ins Deutsche. Vergleicht man stichprobenhaft die kanonische Version bei Gallimard mit ihren Übertragungen ins Deutsche, so hat jede davon ihre Berechtigung. Mal ist der blumenhafte Stil Rechel-Mertens‘ genau richtig, mal dessen Präzisierung durch Keller und Lämmel, mal der etwas härtere Vorschlag Fischers. So wie es nicht die eine Einspielung der Goldberg-Variationen gibt, gibt es nicht die eine Übersetzung Prousts ins Deutsche – der Reichtum seines Werkes liegt gerade darin, dass er verschiedene Interpretationen nebeneinander stehen lassen kann. So kann es nicht zuletzt als eine soziologische Studie des Habitus mit seinen feinen Unterschieden gelesen werden.
Wer heute die „Recherche“ liest, hat zwei sich wunderbar ergänzende Empfindungen. Der Romanzyklus ist fraglos eine kolorierte Quelle für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Frankreich mit den Debatten der Zeit um Musik, Architektur, Politik und Literatur. Das Langgedicht kommt genauso bestürzend aktuell daher, was an Prousts revolutionärer Technik des Schreibens liegt. Das nicht-lineare, kreisförmige Erzählen, das muntere Springen in der Zeit über Tage und Jahre, häufiger Perspektivenwechsel beim Schildern der Handlung, extreme Genauigkeit bei der Beschreibung von Emotionen und Kommunikationen, die Subjektivität des Erlebten und des Darüber-Sprechens, das Suspendieren eines allwissenden Erzählers, das Akzeptieren logischer und temporaler Brüche im Traum und in der Fantasie, die ästhetische Deklination der sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitalien und ihrer korrespondierenden Schichten im Geiste Pierre Bourdieus – all das wird von Proust erstmals in dieser Dichte literarisch präsentiert. Die „Recherche“ ist sicher auf dem Hochplateau der Literatur des 20. Jahrhunderts anzusiedeln, ohne aber hermetisch oder abweisend zu wirken. Hat man sich erst einmal an die sehr spezielle Sprache Proust gewöhnt mit ihren ellenlangen Sätzen voller Konjunktive, Metaphern und Einschübe, kann man sich getrost dem Strom seines Schreibens überlassen und sich lesend der Freude an seiner Kunst hingeben.
Die „Recherche“ ist keine Autobiografie, sondern eine literarische Schöpfung ihres Autors. Die Erzählung aus der Ich-Perspektive kann als Angebot an die Leserin verstanden werden, sich selbst als Figur und Créatrice des Textes zu verstehen. Durch diesen Kunstgriff des Autors Proust bekommt das, was Marcel erlebt und aufschreibt, über die subjektive Erfahrung hinaus den Anspruch der weiteren Gültigkeit, also der Wahrheit. Auf dem Weg zum Werk liegt weniger die Eingabe, sondern die kontinuierliche Arbeit, Tag für Tag, besser Nacht für Nacht. Das im Gedächtnis Verwahrte, beim Schreiben und Nachdenken wieder Aktualisierte, ist nicht nur leicht und heiter, sondern auch traurig und bitter – Erinnerung verklärt nicht nur, sie stellt auch scharf. Das Schreiben nun hebt das Erlebte auf die Ebene des Eingeordneten: „Nicht allein die Kunst verleiht den belanglosesten Dingen Zauber und Geheimnis; die gleiche Kraft, sie in eine innige Beziehung mit uns zu bringen, kommt auch dem Schmerz zu.“ Erst im Schreiben des eigenen Lebens, das so individuell wie ein jedes andere ist, kommt Marcel zu sich. Die „Recherche“ ist ein Roman über das Runden der Identität mit dem Mittel der Erinnerung. Schreiben macht glücklich, die Zeit dazu muss man sich nehmen.