Marzahn

Die Fahrt mit der S-Bahn hinaus Richtung Osten nach Marzahn ist für Sascha eine Reise durch Raum und Zeit. Schon von fern sind die weiß-gelben Doppel-Wohntürme am Helene-Weigel-Platz auszumachen, die wie ein Eingangstor in den Bezirk wirken. Nach dem Ausstieg aus dem S-Bahn-Tunnel legt sie unwillkürlich den Kopf in den Nacken und zählt die Etagen der gewaltigen, über 70 Meter hohen Stahlskelettkonstruktionen, sie kommt auf 24. Geradezu putzig wirkt zu ihren Füßen das angejahrte Rathaus des Bezirks, von außen mit braun-beigen Kacheln verkleidet. Um den Helene-Weigel-Platz, benannt nach der großen Schauspielerin vom Theater am Schiffbauer Damm, sind allerlei Geschäfte gruppiert, viele Menschen erledigen ihren Wochenendeinkauf. Vor dem Rathaus steht ein Pritschenwagen mit einer Lautsprecheranlage, hier beginnt gegen Mittag der Pride Marzahn.

Er wird organisiert von Quarteera, einem Verein, in dem sich Schwule, Lesben und Transmenschen aus der russischsprachigen Gemeinde der Stadt begegnen. Sie wollen für mehr Akzeptanz gegenüber queeren Menschen werben, speziell in Marzahn, aber potenziell überall. Die meisten der Teilnehmenden sind in ihren 20ern, viele sind trotz der Hitze festlich geschminkt, tragen Perücke und haben sich in den Fummel geworfen. Überall leuchten die Regenbogenflaggen, auch vereinzelt Logos geneigter Parteien, Transparente wenden sich gegen Homophobie in Polen oder Russland. Von den Reden auf Russisch und auf Deutsch bekommt Sascha nicht viel mit, so schlecht ist die Tonqualität. Doch es ist klar, dass es um die Rechte der LSBTIQ-Menschen hier vor Ort geht, wo besonders viele russischsprachige Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion leben.

Marzahn am Ostrand der Stadt an der Grenze zu Brandenburg war das größte Neubaugebiet der DDR, Mitte der 1970er Jahre entworfen am Reißbrett, erschlossen und errichtet in den 1980er Jahren. Die neuen Wohnungen erschienen vielen DDR-Bürgern attraktiver als die verrotteten Altbauquartiere im Prenzlauer Berg oder in Friedrichshain, die Häuser hatten Fahrstühle, Fernheizung, isolierende Fenster und Müllschlucker, die Infrastruktur war vorhanden, die Verkehrsverbindung in die Innenstadt wurde ausgebaut. Architektonisch dominieren Plattenbauten, die meisten davon Elfgeschosser vom Typ WBS 70, das riesige Areal wird von breiten Magistralen umschlossen wie eine Insel aus Beton. Zwischen den Stillleben der Wohnblöcke liegen meist fußläufig zu nutzende Wege, mittlerweile sind im Zuge einer umfassenden Sanierung gepflegte Grünanlagen entstanden, deren Bäume wachsen und jeden Sommer mehr Schatten spenden. Etwa 60.000 Wohneinheiten gehören derzeit in Marzahn zum Mietbestand, sie umschließen ringförmig die dörfliche Anlage des alten Kerns mit seinen Straßen mit Kopfsteinpflaster zwischen den Einfamilienhäusern.

Der Zug setzt sich in Bewegung Richtung Allee der Kosmonauten, rund 500 Menschen folgen dem Lautsprecherwagen, von dessen Fläche eine Moderatorin die Teilnehmer per Mikrofon immer wieder an das Befolgen der Hygienemaßnahmen erinnert, die angesichts der Mittagshitze kaum beachtet werden. Über dem Zug liegt die typische Partystimmung à la Pride, verboten schöne Menschen allerlei Geschlechts liegen sich in den Armen, deuten laszive Tanzschritte an und filmen sich dabei. Ihre geschmeidigen Körper erscheinen Saschas verbrauchten Augen vollkommen, sie selbst hat reichlich Platz inmitten der Menge, sie wird ob ihres Alters und trotz der frischen Tönung des Schopfes als Fremdkörper schlicht übersehen. Die politische Dimension dieses Feierzuges liegt am Ort: Gelegentlich stehen verdutzte Passanten am Wegesrand, die in Marzahn einen solchen Ausbruch des Konfettis nicht gewöhnt sind. Wie immer bei Pride-Demos ist die Polizei nur pro forma dabei, um den Zug vor dem Autoverkehr zu schützen; Übergriffe humanoider Kampfhunde gibt es nicht.

Was auf dem Kurfürstendamm zur kommerziellen Folklore geronnen ist, hat hier zwischen den grauen Riegeln den Charakter einer Mutprobe. Marzahn ist nicht gerade als liberaler Bezirk bekannt, viele Anonyme leben hier nur, weil sie sich anderswo keine Wohnung leisten können. Dabei ist die Realität klar besser als das Image, die Kriminalitätsbelastung ist in anderen Bezirken deutlich höher. Menschen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR schätzen die Gegend, weil sie sich hier ohne ein Wort Deutsch im Alltag bewegen können. Reisebüros, Cafés, Feinkostgeschäfte, Arztpraxen und Nachbarschaftstreffs funktionieren auf Russisch; gerade passiert der Pride eine Kirche mit dem russisch-orthodoxen Kreuz auf der golden schimmernden Kuppel, die Hügel der Gärten der Welt kommen gleich danach. Insgesamt wird die Zahl der Russischsprachigen an der Spree auf 220.000 Menschen geschätzt, allein in Marzahn sollen es fast 40.000 sein.

Der Zug biegt nun in die Raoul-Wallenberg-Straße ein, auch dieser Name eine Hommage an die Helden des Sozialismus, in deren Geist Marzahn geplant wurde. Die Plattenbauten der DDR sind eine Variation des ПАНЀЛЌІ genannten Wohnungsbaus der UdSSR der 1970er und 80er Jahre, wie er in den Metropolen des Sojus bis heute zu finden ist – auch das mag ein Grund für die Anziehungskraft des Bezirks für die post-russische Gemeinde sein. Deren Queers werden sich in Deutschland aber um Längen wohler fühlen als in Russland und der Ukraine, aber auch Polen oder Ungarn, wo Homosexualität zwar offiziell kein Verbrechen ist, im Alltag aber unzweifelhaft stigmatisiert wird. So ist in den genannten Ländern Werbung für Homosexualität, was immer das sein soll, verboten. Die Machosprüche des russischen Präsidenten Vladimir Putin tun das ihre, viele russische Männer definieren sich viel stärker über Gewalt als die deutschen, Frauen werden von ihnen als Heilige verehrt, aber wie Huren behandelt. Da können Queers nur unter die Räder kommen.

Der Zug ist am Endpunkt angelangt, dem Freizeittreff Marzahn am Victor-Klemperer-Platz, aus den Boxen schallen unverwüstliche Hits wie YMCA und I will survive, abwechselnd mit russischem Techno. In diesen Zeiten fallen Großereignisse wie eben der CSD dem Corona-Regime zum Opfer, der Marzahn Pride mit seinem familiären Flair kann dagegen ohne Schwierigkeiten stattfinden. Er ist, so nimmt es Sascha wahr, dezentral entstanden als ein Akt der Nachbarschaftshilfe der besonderen Art. Die Botschaft lautet auf Deutsch wie Russisch eingängig „Liebe ist Liebe“, ganz ohne feministisch dekonstruktivistischen Überbau mit politisch korrektem Gendern, wie er im dekadenten Westen die Diskussionen um die angemessene Repräsentation lähmt. Der Verein Quarteera existiert seit 2010, zehn Jahre später gab es den ersten Marzahn Pride, dem in diesem Jahr der zweite folgte. Möge er dazu beitragen, dass die Menschen in Marzahn einander besser verstehen, ob Russen, Vietnamesen oder Deutsche, ob homo, hetero oder trans, ob jung oder alt.

Sascha steigt in die nahe Straßenbahn Richtung Hackescher Markt, von dort geht es weiter mit der S-Bahn Richtung Westen. Als sie am Savignyplatz aussteigt und zu Fuß weiter zu ihrer Wohnung läuft, ist sie im Herzen Charlottenburgs angekommen, bereits nach der Oktoberrevolution bis in die Weimarer Jahre ein Magnet für russische Emigranten. Damals flohen sie vor den bolschewistischen Mördern, im Berlin der Inflation konnten sie von ihren geretteten Juwelen und Goldstücken gut leben, über 300.000 sollen es damals insgesamt gewesen sein. Ob der vielen Russen hieß die Gegend im Volksmund seinerzeit Charlottengrad. Hundert Jahre später ist die Szene hier gar nicht so verschieden. Viele SUV haben russische Kennzeichen, aus den Adeligen, Künstlern und Offizieren von damals sind die Oligarchen von heute geworden, in den Schönheitsfarmen rund um den Olivaer Platz wird selbstredend Russisch gesprochen, gleiches gilt für das Café Grosz und die Buchhandlung РУϹϹКІ ЌНІГІ. Russland ist grenzenlos und unfassbar, auch das russische Berlin von Marzahn bis Charlottenburg. Im reichen Westen sind die Häuser älter und die Räume höher.