Matt

Wenn Sascha abends nach Hause kommt, wird sie von der Stille ihrer Wohnung empfangen. Nach einem langen Tag im Büro hat sie danach Sehnsucht, ihr matter Körper und ihre erschöpfte Seele kommen zu sich. Sie hängt ihre Jacke an den Haken im Flur, trinkt ein Glas Milch in der Küche und wechselt im Wohnzimmer in ihre Puschen. Zwischen dem Schreibtisch und dem Stehpult findet sich ein altes Nachtschränkchen ihrer Oma, auf dessen marmorner Platte ein Schachbrett aus Palisander ruht. Auf den 64 Feldern ist ein Stillleben arrangiert, es zeigt die Schlussstellung der vierten Partie zwischen Bobby Fischer und Mark Taimanow, gespielt 1971 im kanadischen Vancouver. Der nachmalige Weltmeister hatte seinen Gegner in einem klassisch gewordenen Endspiel Zug um Zug die Luft zum Atmen genommen, schließlich seinen Läufer geopfert und zwei unaufhaltsame Freibauern geschaffen.

Die hellen („weißen“) Felder haben die Farbe matten Elfenbeins, die dunklen („schwarzen“) liegen ruhig wie milde Schokolade. Die hellen Figuren schimmern wie feuchter Sand, die dunklen leuchten wie ein kräftiger Kakao. Der doppelte Farbklang zwischen Feldern und Figuren ist optimal ausgewogen, die Zugehörigkeit zu je einem Lager ist eindeutig. Auch sind die Steine aus poliertem Buchsbaum mit dem Bleigewicht im Sockel für das Auge deutlich voneinander zu unterscheiden, ihre Proportionen sind harmonisch. In ihrer Größe passen sie zum Brett, die Kantenlänge eines Feldes entspricht der Höhe eines Turmes. Unter diesen visuellen Umständen werden Augen und Geist nicht abgelenkt, die Spielerin kann sich auf das Wesentliche konzentrieren.

Sascha stellt ihre Aktentasche auf den Boden und legt Brillenetui, Telefon, Zeitung und Notizbuch auf den Schreibtisch. Ihr Blick schweift unweigerlich zum Schachbrett, wo Schwarz in aussichtloser Position aufgegeben hatte. Bis zum Matt, dem offiziellen Ende einer Partie, lassen es die wenigsten kommen; es ist ein Akt der Höflichkeit, dem Gegner zuzutrauen, einen objektiven Vorteil zum Sieg zu verwerten. Die Etymologie des Wortes ist nicht eindeutig geklärt; „mat“ bedeutet im Persischen tot, im Altfranzösischen kraftlos, beide Bedeutungen passen gut zu einem vollständig paralysierten König, der sich der Schachs nicht länger zu erwehren weiß. Ein Spiel mit militärischer Zielsetzung, das gemeinhin als eine Mischung aus Kunst, Wissenschaft und Sport definiert wird.

In Russland, einem Land mit einer langen Tradition im Wettkampf- wie im Amateurbereich, ist Schach in allen Schulformen verbindliches Schulfach. Mehrere Pilotprojekte haben die verantwortliche Ministerin zur Überzeugung kommen lassen, dass das alte Schachspiel bei Kindern und Jugendlichen Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Planung, Konzentrationsfähigkeit sowie Verantwortungsbereitschaft fördere; Eigenschaften, die sich gewinnbringend auf andere Fächer übertragen lassen wie auf das soziale Miteinander. Dabei werden die Regeln des Spiels und seine strategischen wie taktischen Feinheiten nicht primär am Monitor gelehrt und geübt, sondern am Brett mit Figuren aus Holz. Das haptische Erlebnis im realen Raum trägt seinen Teil zum Einstieg in die autonome Welt des Geistes bei.

Das Auffällige einer Partie ist ihre Dauer über Stunden. Mit der Zeit entstehen auf dem Brett bizarre Muster, zufällig oder sinnvoll, ob nun ein Patzer zieht oder ein Champion. Bei Turnieren schlendern die Spieler, wenn sie vom eigenen Tisch aufstehen, durch den Spielsaal und werfen einen prüfenden Blick auf die Nachbarbretter. Dieses Kiebitzen findet sich unter Kindern wie unter Großmeistern, der Bann des Spiels geht über die eigene Partie hinaus. Außerdem ist es lehrreich, einmal die Perspektive zu wechseln und die Stellung aus der Sicht des Gegners zu betrachten. Die Figuren sind die Materialisation des Geistes, drücken sein Denken und Streben aus, sein Können und sein Fehlen. Dabei hilft es, erlerntes Wissen etwa in der Eröffnung zu erinnern und dergestalt Zeit zu sparen; doch letztlich entscheiden die guten Züge in der gegebenen Position.

Schach lässt sich nicht nur spielen, sondern auch sprechen. Deutsche Termini wie der „Zugzwang“, die „Zeitnot“, der „Fingerfehler“ oder der „Zwischenzug“ haben den Einzug ins internationale Schachvokabular geschafft und werden im Englischen, Französischen und Russischen verstanden. Die algebraische Notation einer Schachpartie wird dem Laien wie eine komplexe Formel vorkommen, die Schachspielerin sieht nach 1. e4 e5, 2. Sf3 Sc6, 3. Lb5 a6 4. La4 Sf6 5. 0-0 Le7 6. Te1 b5 7. Lb3 d6 8. c3 0-0 9. h3 die Tabiya der Geschlossenen Spanischen Partie. Die Leningrader Variante, der Drache in der Sizilianischen Verteidigung, die Berliner Mauer und das Londoner System sind für sie Namen ausgeklügelter Eröffnungen und keine Sehenswürdigkeiten während einer Europareise.

Am Abend vorher hat Sascha die Partie zwischen Bobby Fischer und Mark Taimanow nachgespielt, dabei die Kommentare eingehend studiert. Diese ästhetische Praxis ist zugleich erholsam und fordernd, vergleichbar dem Zuhören einer Arie von J. S. Bach. Wenn der letzte Akkord der Goldberg-Variationen verklungen ist, lauscht sie seinem Verklingen im Raum nach und braucht die Stille, um die betörende Schönheit der Musik auszuhalten. Nach dem letzten Zug Fischers entsteht eine geometrische Komposition, die sie länger betrachten und so erfassen möchte; den verbliebenen Steinen scheint es recht zu sein, in der Schlussstellung zu verharren, bevor sie für die nächste Partie aufgereiht werden, schweigsam und entschlossen.

Der niederländische Schachgroßmeister und Autor Jan Hein Donner wurde nach einem Hirnschlag zum Pflegefall und konnte in der Folge nur unter Mühen mit einem Finger tippen. Er schrieb, dass seine Welt nun sehr klein geworden sei, daran sei ein Schachspieler aber gewöhnt. Das Reich des Schachs bleibt offen, es wartet auf seine heimkehrenden Bewohner und öffnet seine Grenzen bereitwillig deren Gästen. Sascha spürt, wie ihre Müdigkeit peu à peu von ihr abfällt, wie bei der Analyse der Stellung ihre Jagdlust erwacht. Sitzt sie am Brett oder spielt eine Partie im Netz, will sie durchaus gewinnen. Aber ebenso wichtig ist ihr der Glanz des Spiels, zu dem der Gegner beiträgt. Diese Kooperenz ist das Wesen des Schachs, ungeachtet des Ausgangs. Wie eine süße Droge lockt es die ihm Verfallenen, bietet wachsenden Genuss bei Steigerung der Dosis. Sein Versprechen ist wohlige Ermattung, wie nach dem Orgasmus.