Freiheit hat ihren Sitz im Gesellschaftlichen, während Zwang und Gewalt im Politischen lokalisiert sind und so das Monopol des Staates werden. – Hannah Arendt, Vita activa
„Die Mauer ist auf!“ – Mit diesen Worten kam ein Kommilitone am Freitagmorgen ins Seminar. Kerstin hatte gerade Platons Politeia auf den Tisch gelegt und sich auf eine Diskussion der verschiedenen Staatsformen eingestellt. Doch nun kannte die Runde nur ein Thema: Der Kommilitone erzählte, er sei gestern Abend noch mit dem Auto zum Kurfürstendamm gefahren, dort wäre alles voller Trabbis und Ossis gewesen, dazu eine Stimmung wie auf einer rauschenden Party. Die Anwesenden inklusive des Dozenten schauten sich ungläubig an, über die Vorzüge der Aristokratie gegenüber der Demokratie bei Platon wollte niemand so richtig debattieren. Hier im Seminar am Otto-Suhr-Institut ging es um politische Theorie, ein paar Kilometer weiter ostwärts hingegen realisierte sich die politische Praxis.
Die Mauer ist auf! Diese vier Worte, zu einem einfachen Satz gereiht und mit einem Ausrufezeichen beglaubigt, gaben den Ereignissen der letzten Wochen und Monate einen weiteren Schub. Das Jahr 1989 war an Erschütterungen und Umbrüchen wahrlich nicht arm, dass aber nun die innerdeutsche Grenze offen sein sollte, überstieg die Phantasie auch derjenigen, die sich professionell mit Politik befassten. Im Januar hatte es in Prag große Demonstrationen zur Erinnerung an Alexander Dubcek und Jan Palach 1968/69 gegeben. Anfang Oktober hatte die Führung der DDR mit großem Pomp den 40. Jahrestag ihrer Gründung begangen, unter wohlwollender Teilnahme des Generalsekretärs der KPdSU, Mikhail Gorbatschow. Im Sommer waren immer mehr DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Österreich und weiter in die Bundesrepublik geflohen, im Oktober schwollen die friedlichen Demonstrationen in Leipzig immer mehr an, ohne dass die Staatsmacht einschritte. Von Reisefreiheit war die Rede, von freien Wahlen, von Rechtsstaatlichkeit, von Parteienpluralismus, auch von vollen Regalen und weniger Wartezeit auf ein Auto.
Und nun, wie es amtlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand, hatte das Politbüro der SED beschlossen, den Bürgern der DDR ohne vorherige Beantragung Reisen in den Westen zu gestatten, unverzüglich, wie ein Funktionär während der Pressekonferenz auf Nachfrage eines Journalisten bekräftigte. In Berlin, der geteilten und weiterhin kriegsversehrten Hauptstadt, brauchte es nur ein paar Meter, um von einem politischen System ins andere zu reisen – Bornholmer Straße, Friedrichstraße, Kochstraße waren die geläufigen Namen der Grenzübergänge, die die Mauer zumindest semipermeabel machten. Und nun sollte die Wechselrichtung auch von Ost nach West gehen? Kerstin und Yannis, die im Seminar beide gut miteinander lernen konnten, schauten sich ungläubig an und beschlossen, am Abend zum Brandenburger Tor zu fahren, der aufgeworfenen Grenznarbe im Herzen der Stadt.
Es war schon dunkel, als sie ihre Räder an einer Laterne der Straße des 17. Juni anschlossen. Das Brandenburger Tor lag in einem fahlen Licht, das aus der Nebelsuppe des November stach. Scharen junger Leute zogen dorthin, viele hatten geöffnete Sektflaschen bei sich. Im Näherkommen wurden die heiteren Stimmen rund um das Tor immer lauter, Lachen und Jubelrufe mischten sich ineinander, hier und da zog eine Silvesterrakete in den blauschwarzen Himmel, Polizei war nirgends zu sehen. Yannis, der in Westberlin geboren wurde, machte Kerstin auf die Ruine des Reichstages aufmerksam, der wie ein großes Wrack im Niemandsland diesseits der Mauer schlummerte. Das Brandenburger Tor mit seiner Quadriga auf dem Dach lag bereits auf dem Territorium der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Hier stießen die beiden so unterschiedlichen Hälften der Stadt aufeinander, einander aus der Nähe nicht als Teile des Gleichen erkennend.
An dieser Position machte die Mauer nicht nur einen Schlenker, der den Maßen des alten Pariser Platzes folgte, sie war hier auch einen guten Meter tief mit flachem Plateau in über drei Metern Höhe. Erwartete man hier ernsthaft Panzer, die um jeden Preis aufzuhalten seien? An jeder anderen Stelle der Stadt war die Mauer zwar ebenso hoch, aber nur eine Handbreit tief, gekrönt von glattem Rundbeton, der das Festhalten und Überklettern unmöglich machen sollte. Hier nun tanzten die Menschen auf der Mauer, dem weltweiten Symbol des Kalten Krieges, der Teilung Deutschlands, der Konkurrenz zwischen Freiheit und Kommunismus. Yannis gab Kerstin die Aufstiegshilfe einer Räuberleiter, wie sie es in der Kindheit genannt hatten, helfende Hände zogen sie sicher nach oben auf die Mauer, Yannis folgte behende. Ihre Wangen wurden tränenfeucht, als sie der surrealen Szene gewahr wurde.
Spontan schloss sie Yannis in die Arme, sie musste irgendwohin mit ihrem Überschwang. Yannis sprach sie mit dem neuen Namen an, der bereits offiziell beim Amtsgericht beantragt war, gelegentlich verwendete er das alte Pronomen, um sich gleich darauf zu korrigieren. Sie war jetzt ein halbes Jahr auf Östrogenen und hatte in dieser Zeit deutliche Veränderungen an sich wahrgenommen, Veränderungen, die sie ersehnt und gewollt hatte. Die Haare waren länger und welliger geworden, die Haut feiner, die Augen etwas zu dramatisch geschminkt, die Schuhe hatten nun Absätze, der Pullover war hell und flauschig, der Mantel fiel glockig. Vor allem hatte sich ihr Körpergeruch verändert und, wie sie beim Mustern ihrer Gestalt im Schaufenster meinte, auch ihre Bewegungen. Ihr fehlte die Distanz, um die Entwicklungen zu überblicken und reflektieren, wie bei einer nachholenden Pubertät schlugen die Hormone über ihr zusammen, kein Tag war wie der andere, Gewissheiten lösten sich unter der Haut auf.
Und nun geschah Vergleichbares mit der Stadt, in der sie seit dreieinhalb Jahren lebte. Sie hatte sich, welch treffender Titel, einen behelfsmäßigen Personalausweis ausstellen lassen, der auf einen überholten Namen unter einem antiquierten Portrait lief; doch in dieser Situation der Euphorie dachte niemand ernsthaft an eine Ausweiskontrolle. Kerstin und Yannis ließen sich auf der östlichen Seite der Mauer auf den Boden herab, auch hier tanzten und sangen die Leute. Unmittelbar vor dem Brandenburger Tor standen Grenzsoldaten der DDR seitlich aufgereiht, den Blick versteinert nach vorn, die Beine leicht breit, die Hände im Rücken verschränkt, Waffen waren nicht zu sehen. Ein junger Mann ging auf die Formation zu, streckte einem Soldaten die Hand zum Gruße aus; eine Geste, die er geduldig wiederholte, doch kein Soldat traute sich, die Hand zu ergreifen und zu schütteln. Mittlerweile wurde ein Mann im Rollstuhl von der Mauerkrone hinuntergelassen, Volksfeststimmung allemal. Auf dieser Seite war die Mauer ein monotones Werk aus blassem Beton, auf der anderen Seite eine Galerie spitzer Graffiti.
Ihre bisherigen Besuche in der Hauptstadt der DDR waren auf offiziellem Wege erfolgt. Sie beantragte bei einer der dafür vorgesehenen Stellen ein Tagesvisum, fand sich zum festgesetzten Termin am gewählten Grenzübergang ein, tauschte 25,- DM in 25,- Ostmark um und betrat das Reich des Sozialismus. Auf den Toiletten roch es nach Wofasept, auf den Straßen nach Kohleöfen. Einmal fuhr sie im Advent hinaus nach Weißensee und spazierte stundenlang über den verschneiten jüdischen Friedhof; als sie danach an einem Imbiss einen Tee trank, hielten alle anderen Gäste wohlweislich Abstand, zu westlich war sie, als dass ein unbefangenes Gespräch möglich schien. Ein anderes Mal ging sie für 3,- Ostmark ins Berliner Ensemble und sah Bertolt Brechts Galileo Galilei. Und dann kaufte sie in einer großen Buchhandlung Unter den Linden einen aufwändig gestalteten Atlas und ein Lehrbuch der Psychologie, zu einem Bruchteil des Preises in einer westlichen Buchhandlung. Einmal gar war sie zu Besuch bei Bekannten ihrer Mutter in Lichtenberg, sie wurde herzlich bewirtet und schämte sich beim Abschied dafür, dass sie nun wieder über die Grenze durfte, ihre Gastgeber aber nicht.
Diese Bilder zogen an ihr vorbei, als sie nun mit Yannis und weiteren Männern und Frauen einen Sirtaki tanzte, als spielten sie übermütig an einem kretischen Strand. Um sich herum nur leuchtende Gesichter, englische, französische und spanische Sprachfetzen mengten sich unter das Deutsche. Das gelbe Licht der Peitschenmasten schien hier wärmer, als es aus der Entfernung wirkte. Die Grenzanlagen jenseits des Tores waren nicht auszumachen, sie wurden von der Dunkelheit geschluckt. Der Mumm-Sekt, der hier in zahlreichen Flaschen kreiste, hatte Kerstin leicht beschwipst; als rauschhaft ließ sich die Situation beschreiben, als anarchisch, unkontrolliert und verspielt. Yannis und Kerstin konnten nicht anders als sich zu freuen, zu lachen, zu jubeln und singen. Sie stimmten den Schlusschor aus Beethovens 9. Sinfonie an, Freude schöner Götterfunken, mit dem Text von Friedrich Schiller. Die Umstehenden fielen in die Melodie ein, wortsicher waren nicht alle.
Zu keinem Zeitpunkt hatte Kerstin das Gefühl, dass die Situation kippen könnte. Sie hatte noch die entsetzlichen Bilder aus Peking vor Augen. Im Juni hatten Tausende von Studenten den Platz des Himmlischen Friedens im Herzen der chinesischen Hauptstadt besetzt, bei der gewaltsamen Räumung durch die Polizei kamen Hunderte Menschen ums Leben. In Europa vollzog sich im Sommer 1989 die Agonie des Kommunismus dafür in rasantem Tempo: In der DDR beklagten Bürgerrechtler die Fälschung der Kommunalwahlen, Ungarn baute die Grenzbefestigung zu Österreich ab, in Polen wurde der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident gewählt. In den Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen schlossen sich geschätzte zwei Millionen Menschen zu einer 600 km langen Menschenkette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius zusammen, um gegen die Folgen des Hitler/Stalin-Paktes vom August 1939 zu protestieren und um Unabhängigkeit für ihre Länder einzufordern. Ein für ewig gehaltener Zwang fiel von den Menschen und den Gesellschaften ab, die politische Macht der Partei kondensierte, die Freiheit schaute den Menschen aus dem Spiegel ramponiert, aber fröhlich ins ungläubige Gesicht.
Vor nicht einmal einer Woche hatten sich auf dem Alexanderplatz rund eine halbe Million Menschen versammelt, um friedlich gegen das SED-Regime zu protestieren. Nicht nur Künstler wie Ulrich Mühe, Bärbel Bohley, Heiner Müller und Christa Wolf sprachen zu den Anwesenden, auch der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage ergriff das Mikrofon und mahnte unter Pfiffen vage Reformen an. Erneut wurde deutlich, dass von einer nach Hundertausenden zählenden Masse keine Gefahr ausgeht, wenn diese für die Sache der Freiheit auf die Straße geht und auf besonnene Kommandeure der Streitkräfte trifft, die sich weigern, in die Menge feuern zu lassen. Und diese Abwesenheit einer Eskalation war auch an diesem kalten Novemberabend sichtlich zu greifen.
Irgendwann hatten sich Kerstin und Yannis ausgetaumelt. Sie halfen einander erneut auf die Mauer hinauf und wieder hinab, die politischen Begriffe Ost und West hatten gegenwärtig keine geographische Entsprechung mehr. Aus der Innenstadt zogen Ströme von Menschen durch den Tiergarten in Richtung Tor, rufend und klatschend, einer trug gar eine schwarz-rot-goldene Trikolore. Kerstin absentierte sich kurz in Richtung Gebüsch, um sich zu erleichtern; die Kälte des Abends hatte ihre Blase gereizt, auch das eine neue Erfahrung. Als sie auf ihrem Rad saß und durch leere Straßen in Richtung ihrer neuen Wohnung fuhr, hatte nur ein Gedanke Platz: Gerade hatte etwas begonnen, was keine der Anwesenden voll verstand oder auch nur zu benennen gewusst hätte. Die Zeit hielt den Atem an und verschwisterte sich mit dem Raum.