Memopиaл

  Als Roginski, ein ehemaliger politischer Gefangener und nun Vorsitzender der Moskauer Gruppe von Memorial, gegenüber Schmyrow bekannte, das restaurierte Perm-36 wirke auf ihn wie ein echtes sowjetisches Straflager, empfand Schmyrow das als das höchste Kompliment. – Masha Gessen

Die Nichtregierungsorganisation Memopиaл ist ein Kind von Perestroika und Glasnost der späten UdSSR unter Mikhail Gorbatschow. 1988 gegründet, hat sie sich akribisch der Rekonstruktion des stalinistischen Terrors der 1930er Jahre verschrieben, der Millionen Menschen das Leben kostete und das Riesenreich mit einem Netz an Arbeitslagern überzog. 2016 wurde die Organisation zum „ausländischen Agenten“ erklärt, Mitte November 2021 hat die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ihre Auflösung beantragt. Hinter diesem Prozess stehen mutmaßlich politische Motive: Die Arbeit von Memorial kollidiert zusehends mit der offiziellen Geschichtspolitik der russischen Führung, die auf eine Glorifizierung des Gewaltherrschers Josef Stalin hinausläuft.

Gründungsvorsitzender von Memopиaл wurde der Atomphysiker und Dissident Andrej Sacharow, der 1986 sein Exil in Gorki verlassen durfte und nach Moskau zurückkehrte. Seit 1998 wurde die Organisation vom Historiker Arsenij Roginski geleitet. Gegenwärtiger Vorsitzender ist Jan Raczynski, er wurde in den vergangenen Jahren mehrfach von der russischen Justiz zu Geldstrafen verurteilt. Anfängliches Ziel war es, ein Denkmal (Memorial) für die Opfer des Stalinismus zu errichten; einzelne Mitglieder forderten zudem Gerichtsverfahren gegen die noch lebenden Verantwortlichen der staatlichen Verbrechen. Im Oktober 1990 wurde das sogenannte Solovetzki-Monument, ein großer Felsbrocken von den Solovki-Inseln, als Erinnerung an das erste sowjetische Arbeitslager der frühen 1920er Jahre, vor der Lubjanka, dem Sitz des Geheimdienstes KGB, errichtet. Dieses Projekt bezog sich auf einen Vorschlag Nikita Chruschtschows auf dem 22. Parteitag der KPdSU im Jahr 1961.

Darüber hinaus arbeitet Memorial an der detaillierten Beschreibung des kommunistischen Schreckensregimes. Es werden, soweit zugänglich, Akten studiert und publiziert; Briefe, Zeichnungen und Berichte von Überlebenden der Deportationen und der Arbeitslager werden veröffentlicht; Erinnerungen an die Lagerzeit aus dem Samisdat werden publiziert; Interviews mit Überlebenden werden auf der Webseite zur Verfügung gestellt; das ehemalige Lager Perm-36 am Westhang des Urals wurde 1996 zu einer Gedenkstätte umgebaut; 1999 wurde eine Sammlung mit Artikeln zur Repression von Deutschen in der Sowjetunion veröffentlicht; 2004 wurde eine Webseite mit einem virtuellen Gulag-Museum freigeschaltet; Regionalgruppen führen lokale Recherchen und Grabungen nach Massengräbern seinerzeit Exekutierter durch. Die Datenbank der Opfer umfasst 3,5 Millionen Biografien. Seit 1999 führt die Organisation den Wettbewerb „Der Mensch in der Geschichte“ durch, bei dem Schüler aus allen Teilen Russlands Schicksale in ihrer Familie erforschen.

Memorial arbeitet weitgehend ehrenamtlich sowie auf Spendenbasis. Sie möchte die Erinnerung an die „ungesetzlichen Repressionen“, wie die Verhaftungen, Folterungen, Schauprozesse, Deportationen und Exekutionen Stalins und seiner Komplizen in der UdSSR beschönigend genannt wurden, lebendig halten respektive erst ermöglichen. Das russische Justizministerium hat Memorial 2016 als „ausländischen Agenten“ eingestuft. Dies bedeutet, dass die Organisation politisch arbeitet und in Teilen aus dem Ausland finanziert wird; dieser Hinweis muss auf der (noch erreichbaren) Webseite memo.ru angegeben werden. Zu den institutionellen Förderern zählen aus Deutschland etwa die Friedrich-Naumann-, die Friedrich-Ebert- und die Heinrich-Böll-Stiftung, aber auch die Stiftungen der russischen Oligarchen Vladimir Potanin und Mikhail Prochorow. Mittlerweile gibt es in rund 80 Ländern regionale Gruppen, seit 1993 auch eine in Deutschland. Die hier tätige Übersetzerin Irina Scherbakowa hat diverse Zeugnisse von Gulag-Insassen auf Deutsch herausgegeben. Für sie ist das Verfahren zur Liquidierung politisch motiviert.

Mitte November 2021 begann in Moskau der Prozess mit dem Ziel, Memorial zu verbieten und aufzulösen. Der gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation wird laut Anklage vorgehalten, gegen die „Interessen der nationalen Sicherheit“ zu wirken, ihre Arbeit solle zudem „die sittliche und geistige Entwicklung von Kindern negativ beeinflussen“. Unter dem Vorwand der Pandemie findet die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, auch bereits akkreditierte Pressevertreter sind nicht zugelassen. Die Staatsanwaltschaft, sekundiert von der Telekommunikationsaufsicht Roskomnadzor, stützt sich auf ein psychologisch-linguistisches Gutachten, das die Inhalte auf den Webseiten von Memorial als „extremistisch“ einstuft. Mit einer Entscheidung des Moskauer Stadtgerichtes wird Mitte Dezember 2021 gerechnet. Es steht zu vermuten, dass das groteske Verfahren auch eine Reaktion auf die westlichen Proteste gegen die Verhaftung Alexej Nawalnys Anfang des Jahres ist: Die Härte gegen regimekritische oppositionelle Stimmen nimmt drastisch zu.

Die Arbeit von Memorial zur Dokumentation und Archivierung der Stalin-Ära liegt mittlerweile quer zur offiziellen Erinnerungs- und Gedenkpolitik Russlands unter Präsident Wladimir Putin. Dieser äußert sich regelmäßig zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion, speziell zum „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941 bis 1945. Putin, der den Titel „Woschd“ (russisch Boждь, „Führer“) von Josef Stalin (1878 bis 1953) übernommen hat, sieht in dem Diktator vornehmlich den Generalissimus, der die Sowjetunion unter übermenschlichen Anstrengungen vor dem Hitler-Faschismus bewahrt habe. In dieser Akzentuierung geraten die chronischen Verbrechen des kommunistischen Regimes (von der Zwangskollektivierung der Bauern Anfang der 1930er Jahre mit Millionen Hungertoten in der Ukraine (Holodomor) über den Großen Terror der Jahre 1936/38 mit seinen berüchtigten Tribunalen gegen alte Bolschewiki sowie Hunderttausenden Erschossenen und Millionen Deportierten bis zur Versklavung ganzer Völker in den Lagern Sibiriens) zur lässlichen Begleiterscheinung auf dem Weg der UdSSR vom rückständigen Bauernstaat zur Industrienation und Atommacht binnen einer Generation.

An das begleitende Leid der Opfer dürfe zwar erinnert werden, keineswegs aber an die Macht, die Schuld und die Verantwortung der Täter aus den Reihen der Geheimdienste, des Innenministeriums und der KPdSU. Der Schutz der „historischen Wahrheit“ hat in Russland mittlerweile Verfassungsrang, ein Vergleich der totalitären Unrechtsstaaten des Nationalsozialismus und des Stalinismus kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Kein einziger Täter musste sich in der Sowjetunion und später in Russland für seine Taten vor Gericht verantworten, kein Minister, kein Parteifunktionär, kein Lagerkommandant, kein Richter, kein Verhörspezialist, kein Wachsoldat. Der Stalinismus wurde nie juristisch aufgearbeitet, die zarten politischen und literarischen Auseinandersetzungen mit den Jahren der Unterdrückung und des Personenkultes wurden unter Leonid Breschnew ab 1964 wieder eingestellt. Im Russland der Gegenwart greift eine von der Regierung geförderte Sowjetnostalgie um sich, eine historisch penibel arbeitende NGO wie Memorial stört da nur.

Der Gulag ist nicht länger tabuisiert, seit dem Ende der UdSSR sind die Schriften von Warlam Schalamow, Jewgenia Ginsburg und Alexander Solschenizyn aus dem Inneren der Lagerhölle in Russland erhältlich. In Magadan im hohen Nordosten Sibiriens an der Kolyma, wo ab den frühen 1930er Jahren unter entsetzlichen Bedingungen Gold gefördert wurde, gemahnt seit 1996 die „Maske der Trauer“ des Bildhauers Ernst Neiswestny an die Opfer des Lagersystems; gleichzeitig steht in Magadan bis heute die 1989 errichtete Statue Eduard Bersins, des Gründers des Dalstroi, jenes Industriekomplexes, der das Kolyma-Gebiet kolonialisierte und mit Millionen von Häftlingen zur Zwangsarbeit versorgte. Die Arbeit von Memopиaл wird in Russland seit Jahren systematisch behindert: Lesungen, Diskussionen und Filmvorführungen werden von Schlägern gesprengt, ohne dass die Polizei eingriffe; mehrere Repräsentanten der Organisation wurden inhaftiert, entführt und ermordet. Das Logo der Menschenrechtsorganisation, eine brennende Kerze, erinnert nicht zufällig an das verwandte Motiv von Amnesty International.

Wer sich nicht an die kanonische Lesart der Geschichte hält, muss mit verschiedenen Strafen der Behörden rechnen. So wurde der Aktivist und Historiker Jurij Dmitrijew (Jahrgang 1956), der für Memopиaл in den Wäldern Kareliens an der Grenze zu Finnland zu stalinistischen Hinrichtungen geforscht und dabei Gräber mit Erschossenen entdeckt hatte, im Jahr 2020 auf der Basis anonymer Denunziation mit fingierten Indizien der Kinderpornographie für schuldig gesprochen und zu dreizehn Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Das offizielle Vorgehen der Regierung gegen Memorial korrespondiert mit lückenhaftem Wissen der Bevölkerung über die Vergangenheit und ihr Desinteresse daran. Eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Levada, seit 2016 selbst als „ausländischer Agent“ deklariert, aus dem Jahr 2009 ergab, dass in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen der Anteil derer, die keinerlei Kenntnis der Fakten des stalinistischen Terrors hatten, bei 35 % lag. Eine Levada-Umfrage im Jahr 2013 ergab, dass lediglich 5 % der Befragten „recht gut“ über die Arbeit von Memopиaл Bescheid wussten, 56 % hatten „nichts davon gehört“.

Die Kennzeichnung Memorials als „ausländischer Agent“ bedient das tschekistische Motiv, Russland sei von Feinden umgeben und im Inneren von „Volksfeinden“ bedroht. Damit kann Präsident Wladimir Putin seine autoritäre Herrschaft legitimieren. Nicht zuletzt passt der Prozess in das Muster einer strukturierten Öffentlichkeit, die unter der Dominanz der Regierung steht und oppositionelle oder auch nur unabhängige Medien im Inland nicht mehr kennt. Zur Kontrolle der Öffentlichkeit, i. e. der Zeitungen, des Fernsehens, des Internets und auch der Universitäten und Theater, zählt die Durchsetzung einer historischen Doktrin, die sich positiv identitätsstiftend auf Josef Stalin bezieht und keine differenzierte oder gar kritische Analyse und Interpretation des sowjetischen Erbes zulässt. Der Opferkult, den Memopиaл in den Augen des Kreml treibt, lenkt von den heroischen Leistungen des Boждь ab. Der ehemalige Auslandsagent Wladimir Putin will verhindern, dass der Geheimdienst NKWD als die Bande von Folterknechten, Sadisten und Henkern dasteht, die er war. Er verordnet Russland eine politische Amnesie.