Menschenfeindlich

  Der Bundestag ist das Hollywood der Politik
Roger Willemsen, Das Hohe Haus

„Die Arbeitsbedingungen im Bundestag sind menschenfeindlich.“ Diese Aussage traf eine Bundestagsabgeordnete der Linken vor zwei Wochen auf Twitter, nachdem während einer Sitzung zwei Kollegen im Plenum kollabierten und notärztlich versorgt werden mussten. Sie begründete ihre Einschätzung mit den langen Sitzungen in verbrauchter Atemluft, während derer kein Wasser zur Erfrischung getrunken werden dürfe; auch sei eine Sitzungsdauer von 15 und mehr Stunden viel zu strapaziös, um den Reden konzentriert zu folgen. In der Konsequenz, so die Abgeordnete der Linken, könne sie keine gute Arbeit leisten.

Was sie nicht sagte: Neben der zu versteuernden Aufwandsentschädigung von gut 10.000,- Euro pro Monat, erhalten die Abgeordneten eine üppige Amtsausstattung (en détail nachzulesen unter bundestag.de/abgeordnete). Dazu zählen rund 4.400,- Euro monatlich als steuerfreie Aufwandspauschale, ein voll möbliertes Büro mit IT-Infrastruktur in den Liegenschaften des Parlamentes und eine Pauschale von derzeit 22.200,- Euro pro Monat zur Beschäftigung persönlicher Büroleiter, Sekretäre und Referenten (m/w/d). Eine Bahncard 100, ein Kontingent innerdeutscher Flüge, die Verfügbarkeit des Fuhrparks des Deutschen Bundestages innerhalb der Hauptstadt sowie eine Altersentschädigung nach bereits einem Jahr Zugehörigkeit zur Gesetzgebung runden das Angebot zur ungestörten Mandatswahrnehmung ab.

Weiter wird die Arbeit der Parlamentarier (m/w/d) maßgeblich von einem Schweif an Mitarbeitern und Praktikanten (bis zu vier pro MdB, zusätzlich kommen noch die Fraktionsreferenten hinzu) vorbereitet und begleitet. Sie leisten Recherchedienste, organisieren den Büroalltag, erledigen die Kommunikation mit der Verwaltung, buchen die Reisen, bereiten die Ausschusssitzungen vor, lesen und exzerpieren Texte, verfassen Redeentwürfe, kanalisieren Interviewanfragen, bespielen digitale Medien, sortieren die Wähleranliegen. Diese Schatten des Betriebes gewährleisten, dass die MdB gut präpariert in die Anhörungen, Abstimmungen und Debatten gehen, sie orchestrieren die Interaktion der Fraktionen, ohne dass ihr Anteil am Gelingen Erwähnung fände. Ihr Arbeitstag endet mitunter erst am späten Abend.

Der Deutsche Bundestag wird nicht umsonst als Arbeitsparlament tituliert, da aus pragmatischen Gründen die Hauptarbeit in den 27 Ausschüssen stattfindet. Im Plenum treffen sich die Abgeordneten zu Gesetzeslesungen, namentlichen Abstimmungen, Vereidigungen und Gedenkfeiern. Selten einmal sind alle derzeit 709 MdB komplett im Plenarsaal des Reichstages versammelt, meist nehmen sie speziell an den Debatten ihrer Fachgebiete teil, die sie jederzeit für eine Zigarette, einen Toilettengang, ein Telefonat oder einen Imbiss verlassen können. Überdies gibt es im Kalenderjahr bloß 22 Sitzungswochen (mit jeweils einem überlangen Debattentag), die verbleibende Zeit verbringen die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen oder haben Urlaub.

Angesichts dieser Umstände die Arbeitsbedingungen der Parlamentarier als menschenfeindlich zu bezeichnen, zeugt von einer gehörigen Portion Chuzpe. Die fragliche Abgeordnete aus Brandenburg hat ihr Mandat erst seit zwei Jahren und scheint bereits völlig von der Mitte-Blase zwischen Empfängen, TV-Shows, Vernissagen und teuren Restaurants aufgesogen worden zu sein, ohne die Themen der Bevölkerung, die sie de lege lata vertreten soll, noch wahrzunehmen. Unzumutbar dürften die Arbeitsbedingungen im Logistikzentrum bei Amazon sein, die einer Verkäuferin beim Discounter, eines Wachmanns auf dem Betriebsgelände oder eines Zimmermädchens im Luxushotel; von den Sklaven im sowjetischen Gulag zu schweigen.

Groteskerweise wird das Etikett „menschenfeindlich“ zur Charakterisierung der eigenen Arbeitsbedingungen von einer Politikerin der Linken verwendet, jener Partei, die sich gern in Positur wirft zur rhetorischen Vertretung der Interessen der prekär Beschäftigten. Dabei ist das Parlament weit davon entfernt, die Bevölkerung in ihrer Heterogenität abzubilden: Im Bundestag sitzen derzeit 190 studierte Juristen, 106 Sozialwissenschaftler und 99 Politologen (Angaben aus „Kürschners Volkshandbuch“ der 19. Wahlperiode). Naturwissenschaftlicher Sachverstand und unternehmerische Erfahrung sind lediglich in Spurenelementen vorhanden, Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes sind überproportional häufig vertreten. Ganze vier MdB geben an, arbeitslos respektive ohne Berufsausübung zu sein.

Jene eingangs zitierte Abgeordnete, im früheren Leben nach einem MBA in Brüssel als Lobbyistin eines Softwarekonzerns tätig, erfüllt die impliziten Kriterien des politischen Apparates zur Rekrutierung des Nachwuchses; bildungsferne und arme Schichten bleiben strukturell außen vor. Bei einem Mindestlohn von 9,35 Euro brutto pro Stunde (ab 2020) und einem durchschnittlichen Brutto-Jahresarbeitslohn von knapp 36.000,- Euro für eine Alleinstehende dürften vielen Menschen die wirtschaftlichen und sozialen Arbeitsbedingungen im Bundestag nicht krankmachend vorkommen, sondern ausgesprochen privilegiert. Dass einer Parlamentarierin die Maßstäbe öffentlich dermaßen verrutschen, wird kaum dazu beitragen, das Vertrauen der Deutschen in ihre Volksvertretung (wieder) zu stärken.

Abgeordnete des Bundestages sind nach Artikel 38, Absatz 1, GG „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Wollen sie wiedergewählt werden, empfiehlt es sich durchaus, die Fraktionsdisziplin zu beherzigen und Politik als Teamsport zu begreifen. Es dürfte indes keine weitere Branche geben, in der die Beschäftigten nominell keine Vorgesetzte haben, eigenverantwortlich Präsenz zeigen und über die Höhe ihrer Bezüge selbst entscheiden. Das Selbstgespräch der Legislative verhindert seit Jahren eine Reform des Wahlrechts, um die stetig wachsende Zahl der Mandate zu verringern – kein MdB wird der Verkleinerung des Bundestages und damit der potenziellen Selbstabschaffung zustimmen. Menschenfeindlich? Welch ein Auswuchs an Hybris.