Mila

Im Mila beginnt ihr Wochenende. Kerstin fährt am Freitagnachmittag den Rechner herunter, schließt ihr Büro ab und schiebt ihr Fahrrad aus dem Hof des ehemaligen Reichsinnenministeriums. Beim Treten in die Pedale durch den Tiergarten entspannt sich ihr Leib von den Stunden am Pult, ihr Hirn lässt ab vom Gelesenen, Bedachten, Gesprochenen und Verfassten. Zu dieser Stunde ist es egal, dass der Wind von vorn kommt, wie beim Kreuzen mit Segeln nimmt sie seine Energie auf und konvertiert sie in Vortrieb. Ihre Seele wird von Minute zu Minute leichter, schwebt auf der Schwelle zur Zweckfreiheit. Am Savignyplatz angekommen, kettet sie ihr Rad an und weiß sich am Ziel.

Das Quartier zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße konserviert das alte Charlottenburg. Hier ist die Buchladendichte legendär hoch, der Bücherbogen etwa bietet eine einmalige Auswahl zu Architektur, Design, Mode, Malerei und Fotografie. In den angrenzenden Straßen gibt es eine Papeterie, Boutiquen, Galerien und ein Teefachgeschäft, es werden Antiquitäten, Möbel, Porzellan und edle Stoffe verkauft, den Bedarf an Grundnahrungsmitteln deckt der unvermeidliche Bioladen, im Jazzclub gibt es regelmäßig Konzerte. Hier leben Bourgeoisie, Boheme und russische Geschäftsleute einträchtig Seit an Seit, unter den Brücken der Hochbahn haben sich Obdachlose notdürftig eingerichtet. In einer Seitenstraße voller Hotels und Lokale betritt Kerstin das Kaffeehaus Mila.

Vor Jahren kam sie nach einem Film in ihrem Lieblingskino am Boulevard auf dem Heimweg hier vorbei, die Hinweistafel „Offener Schachabend“ auf dem Trottoir ließ sie neugierig eintreten. Ein langgestreckter Raum mit dem Tresen parallel zur Längswand, gedämpftes Licht, ein Überangebot an internationalen Zeitungen und Magazinen, dunkler Holzboden, rote Sessel und Bänke, dezenter Clubstil. Und tatsächlich, im hinteren Teil des Cafés saßen Männer und auch ein paar Frauen an Schachbrettern im FIDE-Standard, stumm die Figuren ziehend und gelegentlich einen Schluck Bier oder Wein nehmend. Kerstin setzte sich als Kiebitz dazu, es dauerte nicht lang, und sie spielte selbst eine Partie. Der Beginn einer Gewohnheit.

Im Mila kommen im Wortsinn Schachfreunde zusammen, die um des Spieles willen spielen. Es fehlt die weihevolle Atmosphäre eines Vereins, hier werden zwischen den Zügen auch Worte gewechselt, ohne dass vom Nebenbrett Gezischel käme. Und wenn ein Telefon zwischendurch klingelt, ist das nicht wie bei einem Turnier gleichbedeutend mit dem Verlust der Partie. Kerstin trinkt eine Schale Milchkaffee und fragt sich, warum er so vorzüglich schmeckt. Ist es die Güte der Maschine, die Technik des Röstens, die Qualität der Bohnen, das Können der italienischen Kellner? Sei’s drum, Schach passt exzellent ins Kaffeehaus, wie vor 100 Jahren bereits in Wien und Paris. Meist quellen Motown-, Soul- und Funksongs aus den Boxen, sie treiben das Geschehen auf den 64 Feldern an.

Namensgeberin für das Mila ist die Chefin gleichen Vornamens. Ihr und ihrem Mann, der selbst regelmäßig mitspielt, gehören das Haus, in dessen Parterre das Café liegt, und wahrscheinlich die halbe Nachbarschaft; der weiße SUV der Patronin parkt unbehelligt auch im Halteverbot. Kerstin begreift nicht, warum in dieser belebten Ausgehgegend auch am Freitagabend die Besucherfrequenz eher dürftig ist, was angesichts der leckeren Speisen, aus regionalen und saisonalen Zutaten gekocht und gebacken, unverzeihlich ist. Offenbar muss das Lokal sich nicht selbst tragen, was es der Hausherrin erlaubt, in ihrem privaten Salon neben dem Schachabend auch Italienisch-Konversation und Salsakurse anzubieten.

Mit der Zeit ist Kerstin zur Stammgästin im Mila geworden, was an ihrer Passion für das Schachspiel ebenso liegt wie am geschmackvollen Interieur des Kaffeehauses. Wenn sie auf der Grenze zwischen Nachmittag und Abend hineinkommt, wird wie von den bereits Spielenden begrüßt und zu einer Partie aufgefordert. Der Kern der Schachliebhaber (m/w/d) ist erstaunlich stabil, selten verirren sich neue Spieler zu ihnen. Sie sind überwiegend im Rentenalter und spielen der Entspannung und der stillen Geselligkeit wegen, die sie im Internet nicht finden. Für Kerstin ist das Schachspiel ein willkommenes Ritual, abseits ihrer beruflichen Funktion zu denken, zu genießen und zu zocken – hier spielt sie wagemutig und experimentell, weil es nicht um Mannschaftspunkte oder Elozahlen geht.

Nach ein paar Partien und einigen Heißgetränken fühlt sie sich frisch und gereinigt von der Fron der Woche. Sie sagt ihren Schachkollegen Auf Wiedersehen bis zum nächsten Freitag, zahlt und geht auf die lärmende Straße ins Treiben der Nacht. Beim Überqueren der Kantstraße kommt sie an einem improvisierten Mahnmal für einen getöteten Radfahrer vorbei, ein weiß gestrichenes Geisterrad erinnert an den schrecklichen Unfall vor einigen Wochen. Auf dem Nachhauseweg fährt sie extra vorsichtig an den rangierenden Großkarossen vor den chicen Restaurants vorbei. Sie denkt über einzelne Züge nach und freut sich über gelungene Kombinationen, nun ist sie reif für den Schlaf. Orte des Analogen wie das Mila machen die mörderische Stadt erträglich.