Mittsommer

  Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf. – Lars Gustafsson, Der Tod eines Bienenzüchters

Lasse nahm die letzte Kurve zum abgelegenen Ufergrundstück besonders langsam, als wollte er die Ankunft feierlich herauszögern. Der geliehene Volvo kam schließlich mit knirschenden Reifen zum Stehen, der Motor erstarb. Lasse und Grit lösten die Sicherheitsgurte, öffneten die Schläge und standen vor ihrem erdroten Sommerhaus, umflossen von hohem gesundem Rasen. Das weitläufige Grundstück in der Nähe von Gävle gab es damals günstig, wenn Schweden etwas im Überfluss hat, dann ist es Platz. Das Haus hatte Grit selbst entworfen, die Planungsarbeiten erledigte sie an den Wochenenden, die Erschließung und die Bauleitung im Urlaub. 25 Jahre nach Fertigstellung war es weiterhin ihrer beider Sehnsuchtsort, die Luft voller Kiefernduft, Harz, Moos und leichtem Salz vom nahen Meer, manchmal im Herbst kamen Elche vorbei. Der beste Ort, um Mittsommer zu feiern. Sie würden Edvard Griegs Hochzeitstag auf Troldhaugen auf dem Klavier spielen, zu Abbas Arrival tanzen und alle zusammen Auld lang syne singen.

Die Kinder würden erst morgen kommen, so hatten Lasse und Grit den Abend für sich. Sie luden die Einkäufe in die Küche, öffneten die Fenster, drehten den Hauptwasserhahn wieder auf und gossen die Pflanzen im großen Wohnzimmer mit seiner Glasfront zum Wasser hin. Es war nach 18:00 Uhr, es würde noch über Stunden hell sein, bevor der Himmel sich kurz grauweißblaufahl eintrüben würde, um frühmorgens die Sonne wieder zu begrüßen. Grit sortierte die mitgebrachten Konserven, Mehl-, Butter- und Reispackungen, Marmeladengläser und Gewürze sowie die Luftballons, Blumenbänder, Girlanden, Servietten und Wimpel zur Dekoration; frischen Fisch, Brot, Eier, Obst und Gemüse würde sie morgen im Ort kaufen. Dieser Mittsommer sollte für sie ein ganz besonderer werden, hatte sie doch Anfang der Woche ihren schwedischen Pass bekommen. Sie war nicht mehr nur mit einem Schweden verheiratet, sie war nun offiziell Bürgerin des Landes, in dem sie seit 30 Jahren lebte. Ihr deutscher Pass war noch einige Jahre gültig, sie würde sich kurz vor dem Erreichen des Ablaufdatums entscheiden, ob sie ihn verlängern wollte. Sie tippte in die Telegram-Familiengruppe: Pappa och jag är redan vid vattnet, vi ser fram emot att se dig, puss mamma.

Grit ging ins Bad, pinkelte ausgiebig und wusch sich die Hände mit ihrer geliebten Seife aus Olivenöl, die sie von ihren Besuchen in Deutschland in größeren Mengen mitbrachte. Sie musterte sich wohlwollend im Licht der matten Lampe: Die dichten dunkelblonden Haare frisch geschnitten und gewaschen, die Lippen noch immer voll, die Brauen im Bogen gezupft, die Augen umkränzt von Fältchen, die Lider leicht abgesenkt, die Grübchen in den Wangen noch neckisch wie ehedem. Die rotgoldenen Ringe in den Ohrläppchen standen ihrem Frischluftteint hervorragend, Lasse hatte sie ihr zum Erhalt des Einbürgerungsdokuments geschenkt. Haut und Bindegewebe unterhalb des Halses waren noch straff und zart, als Folge guter Gene, vegetarischer Kost und täglichem Yoga. Im Frühjahr nächsten Jahres würde sie 60 werden, vielleicht ein guter Zeitpunkt, sich die Haare kurzschneiden zu lassen und das Tönen aufzugeben. Für das Schwimmen und die Sauna wäre es allemal praktischer.

Sie hatte in Hamburg Architektur studiert und dann im Jahr des Mauerfalls in einem großen Büro an der Elbe ihre erste Stelle angetreten. Sie war reichlich desillusioniert von den begrenzten Möglichkeiten, die Architekten und Stadtplaner im Geflecht der Entscheidungsträger in Deutschland hatten. Die Projektentwickler gaben die Zahl der Wohnungen und ihre Grundrisse vor, die Bauordnungen regelten die Balkongröße, die Fassadenbeschaffenheit und die Zahl der PKW-Stellplätze vor und unter dem Haus, die föderalen Fesseln trieben noch jedem neuen Bau seinen denkbaren Glanz und seine innige Schönheit aus. Nach zwei Jahren reichte es Grit, sie bewarb sich erfolgreich nach Helsinki, wo sie nicht nur mit Stahl, Glas und Beton, sondern auch mit Licht, Luft, Stein und Holz bauen wollte. Sie studierte das organische Werk Alvar Aaltos, seine Häuser für private Auftraggeber, seine Verwaltungsgebäude, Schulen, Sportstätten, Bibliotheken und Konzerthallen, die ihr wie Elemente der sie umgebenden und aufnehmenden Natur vorkamen. In Deutschland schloss sie Baulücken, in Finnland variierte sie Formen, Wind und Farben auf freiem Feld.

Ein neuer Auftrag führte sie auf die andere Seite der Baltischen See nach Stockholm zu Lunding Större Leistikov, einem der renommiertesten Architekturbüros in Skandinavien. Sie verstand sich auf Anhieb mit den Gründern, die sie ihrerseits ob ihrer Energie, ihrer Ideen und Arbeitsdisziplin in Schweden halten wollten. Als sie für das Büro die Umsetzung des Erweiterungsbaus eines Krankenhauses in Skärholmen betreute, lernte sie Lasse kennen, ein Jahr jünger, Assistenzarzt der dortigen Abteilung für Innere Medizin. Er hatte während des Studiums im Jahr der Wende und der Vereinigung zwei Semester in Rostock verbracht und beeindrucke Grit mit Grundkenntnissen der deutschen Sprache. Schwedisch zu lernen fiel ihr leicht, auch wenn sie sich bis heute den deutschen Akzent erhalten hatte. In Schweden war sie tysken, in Deutschland nannte man sie unsere Schwedin. Ihr Zugang zur Welt geschah primär über das Zeichnen, eine universell verständliche Sprache.

Lasse und Grit wurden ein Paar. Grit hatte sich neugierig auf den großen schweigsamen Lasse mit den eisblauen Augen eines Huskys, die immer leicht verweint wirkten, eingelassen, aus dem anfänglichen Verliebtsein wurde endlich Liebe. Grit stellte sich und ihrem Gefährten die Frage, ob sie dauerhaft in Schweden würde bleiben wollen. Sie reiste mehrfach im Jahr nach Deutschland, um ihre Eltern bei Bremen zu besuchen, auch ihren älteren Bruder und dessen Partner sah sie bei der Gelegenheit. Sie stellte schließlich fest, dass sie sich eine Rückkehr in die deutsche Enge nicht länger vorstellen konnte; durch Helsinki und Stockholm, gänzlich vom Krieg und seinen Verwüstungen verschont, war sie für ein Leben in Deutschland verdorben. Auch war ihre Arbeit als Architektin im Norden von größerer Freiheit und Anerkennung gekennzeichnet; sie konnte viel mit Holz bauen, das nordische Licht als Gestaltungsfaktor einsetzen und die endlosen Wälder und das Wasser des städtischen Archipels als Referenz benutzen. Ein halbes Jahr nach der Heirat mit Lasse war sie mit Anders schwanger.

Sie bezogen eine familiengeeignete Wohnung in Östermalm, die Grit mit ihren hohen Decken, den großen Zimmern, den Flügeltüren und den Dielenböden an die gespenstischen Gemälde Vilhelm Hammershøis aus der Strandgade in Kopenhagen erinnerte. Während in Deutschland die automobile Gewalt in den Städten sie vom Fahrradfahren abhielt, trat sie in Stockholm täglich in die Pedale, um ins Büro zu fahren und um Anders, später auch Anda und Svea von der Kita abzuholen. Das Gebäude war zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden, immer wieder in den folgenden Jahrzehnten auf den jeweiligen Stand der Technik gebracht worden. Als sich ihnen die Gelegenheit bot, die Wohnung zu kaufen, mussten Lasse und Grit nicht lange überlegen, die Gespräche mit der Bank über einen Kredit verliefen positiv. Als ihre Eltern sie einmal über die Weihnachtstage in Stockholm besuchten, waren sie ob der Großzügigkeit der Saalflucht entzückt; ihr Bruder war einmal zu Pfingsten zu Gast im Sommerhaus in Gävle gewesen. Grits Mutter freute sich innig für ihre Tochter, dass sie neben dem fordernden Beruf auch eine Familie hatte. Grits Vater und Lasse schienen sich ohne Worte zu verstehen und zu akzeptieren, sie gingen sogar zusammen in den Schären Angeln.

Grit erwachte aus ihren Gedanken und ging aus dem Bad in die Küche, die sich zum Wohnzimmer hin öffnete. Lasse stand auf der Terrasse und arrangierte Tisch und Stühle für die Ankunft der Kinder. Anders wollte allein kommen, Anda mit ihrem Mann Stellan und der zehn Monate alten Gunina, Svea hatte sich mit ihrer neuen Freundin Nika angekündigt. Mittsommer war eine gute Gelegenheit, alle zusammen zu sehen und miteinander zu feiern. Grit war erstaunt, wie schnell die Kinder groß geworden waren. Sie lernten das Schwimmen im offenen Meer, brauchten keine Stützräder fürs Fahrrad, streiften wochenlang durch die Wälder in der Mückenhitze des August, konnten schmackhafte von giftigen Pilzen unterscheiden. Hatte sie ihnen nicht die ersten Worte auf Deutsch und auf Schwedisch beigebracht, blutende Knie verpflastert, verlorene Teddys wiedergefunden, Mumins gemalt, Plätzchen im Advent gebacken, gemeinsam beim Krippenspiel gesungen, ihnen erst kürzlich bei den Hausaufgaben für Mathematik geholfen und sie ermahnt, besser nicht zu früh mit dem Kiffen anzufangen? Nun waren sie schon Jahre aus dem Haus, gingen ihrer Wege und ließen ihre Eltern zurück. Anders eher verschlossen und vergeistigt, Anda ständig am Planen, Organisieren und Zusammenführen, Svea rebellisch, anarchisch und dann wieder versöhnlich. Ihr Sohn und ihre Töchter waren das Wichtigste, was sie im Leben hatte.

Sie trat durch die offene Tür ins Freie und schmiegte sich an den Vater ihrer Kinder. Lasse, attraktiv wie er war, hatte sie in den drei Jahrzehnten ihrer Beziehung kein einziges Mal betrogen, sie hingegen konnte einmal während eines Auftrags in Helsinki den Avancen eines jüngeren Kollegen nicht widerstehen. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis gab es erste Todesfälle, Halbwüchsige wurden zu Halbwaisen, Ehen wurden geschieden, Menschen wurden krank und blieben allein. Lasses Schwester hatte sie einmal gefragt, ob es ein Geheimnis ihrer Ehe gebe; sie wirkten so glücklich und harmonisch miteinander wie am Tag ihrer Begegnung. Grit konnte die Frage nicht beantworten. Sie wusste nur, dass sie Lasse so wollte, wie er war und wie er sich mit der Zeit entwickelte. Er hatte seinen Beruf, der ihn so ausfüllte wie sie der ihre, beide waren noch leidlich gesund. Sie profitierte von der Gleichstellung der Geschlechter in Schweden, die der in Deutschland deutlich voraus war. Dazu gehörte auch eine Infrastruktur zur Betreuung der Kinder, die es den Frauen nicht nur erlaubte, in Vollzeit zu arbeiten, sondern sie ohne schlechtes Gewissen dazu ermunterte. Vor einigen Jahren ging sie das erste Mal zur Pride Parade in Stockholm, der dramatisch geschminkten Svea war es ausdrücklich nicht peinlich.

Sie streichelte Lasse über den muskulösen Rücken. Sie blickte gern zu ihm auf, in sein offenes Gesicht, über dem das Haar in grauweißen Stoppeln abstand. Sie bekam Lust auf ihn, auf seinen weiterhin sehnigen Körper. Låt oss använda tiden ikväll, lächelte sie ihn an. Er verstand genau, was sie meinte und was sie wollte. Sich befingernd wie Pubertierende, fanden sie den Weg ins Schlafzimmer, wo das Bett noch nicht bezogen war. Sie kleideten einander aus und sanken auf die große feste Matratze, der hölzerne Rahmen knarrte leicht unter ihrem Gewicht in Bewegung. Ihre Leiber kannten einander und wussten, was und wie es der jeweils andere wollte. Das Alter gab ihnen zudem die Möglichkeit, einander wieder neu zu entdecken. Es ging nicht um eine erotische Leistung, sie fanden alle Zeit, die sie brauchten. Mit einem Klecks Gleitgel konnte sie sein Eindringen diskret erleichtern. Sein Atem ging schneller, er fand seinen Rhythmus, der sie zum Keuchen brachte, beider Schweiß vermischte sich. Sie legte ihn sich schließlich auf den Rücken, ihn fest umspannend und rittlings sich an ihm reibend; mit einem lauten Schrei kam sie sodann an ihr Ziel, klebrig im Schoß. Hier in der Waldeinsamkeit vor Gävle musste sie nicht an sich halten, morgen zur Feier des Mittsommer würde sie eine gelöste Madonna im Kreise ihrer Lieben sein. Zerbrechliches Glück.