Sulzer

Im Leben des Robert Stettler geht alles seinen gewohnten Gang. Der allein lebende Mann, früher hätte man ihn „Junggeselle“ genannt, ist leitender Dekorateur des noblen Kaufhauses Quatre Saisons einer namentlich nicht benannten Schweizer Stadt (mutmaßlich Bern). Diesen und keinen anderen Beruf wollte Stettler von klein auf ausüben, seinen Arbeitgeber hat er sein Berufsleben nicht gewechselt, seine Inszenierungen der sieben Schaufenster zur Straßenfront in bester Lage tragen zu Renommee und Umsatz des Hauses erheblich bei. Sein Gespür für Licht und Raum bringt die präsentierten Waren optimal zur Geltung, lässt die Kundschaft staunen und kaufen. So gediegen erfolgreich könnte es bis zur Rente weiter gehen, an die Stettler mit Ende 50 schon öfter denkt.

Doch so ruhig unspektakulär bleibt es nicht im neuen Roman „Unhaltbare Zustände“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer. Von einem Tag zum anderen ist mit Werner Bleicher ein neuer Dekorateur im Haus – kein Assistent, kein Kollege, vielmehr ein Rivale, in dem der Eigentümer des Warenhauses die Zukunft des Handels sieht. Der junge Bleicher wird eingestellt, ohne dass man Stettler auch nur davon in Kenntnis setzt – und prompt bekommt er den Auftrag, das besonders wichtige Weihnachtsgeschäft im Schaufenster zu orchestrieren. Stettler weiß nicht, wie er mit der unvermuteten Konkurrenz umgehen soll. Der Neue trägt die Haare länger, er schwärmt von Oskar Schlemmer, sieht in der Werbung ein Spektakel und ignoriert Stettler in allem, was er tut. Diesem bleibt nichts anderes, als auf das Scheitern seines Gegners zu hoffen.

Alain Claude Sulzer, Jahrgang 1953, hat ein weiteres Mal eine tragikomische Geschichte vorgelegt mit einem Einzelgänger im Zentrum, über den die Zeit hinweg zu gehen droht. Stettlers persönliche Turbulenzen werden gebrochen im gesellschaftlichen Sturm der Chiffre „1968“, die zeitverzögert auch in der provinziellen Schweiz ankommt. Die jungen Leute tragen Blue Jeans, sie demonstrieren für das Frauenwahlrecht (das tatsächlich erst 1971 in der Eidgenossenschaft eingeführt wird), selbst der Chef hat einen Pilzkopf wie die Beatles. Eines schönen Sonntagmorgens hängt die Fahne der kommunistischen Guerilla des Vietcong am Münsterturm, in Frankfurt/Main stecken die Vorläufer der RAF gar ein Warenhaus in Brand, als Fanal gegen den „Konsumterror“. Stabilität inmitten dieser Veränderungen gewährt Stettler einzig die Brieffreundschaft zu einer bewunderten Radiopianistin, die er jedoch nie treffen wird, selbst dann nicht, als sie in seiner Heimatstadt unvermutet ein Konzert gibt.

Wie in den anderen Romanen Sulzers auch, spielt die Musik in den „Unhaltbaren Zuständen“ eine wichtige Rolle. So reist Lotte Zerbst, die Pianistin, 1963 nach Berlin, um mit ihrem ehemaligen Lehrer (und Peiniger) das Eröffnungskonzert der neu erbauten Philharmonie zu erleben. Von der Architektur des Scharoun-Saals ist sie ebenso hingerissen wie von seiner Akustik (die mit Pistolenschüssen austariert wurde). Das örtliche Konzerthaus sagt eine Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch wegen des Einmarschs sowjetischer Truppen in Prag ab. Bei einer nächtlichen Expedition durch „Amüsierlokale“ ist Stettler entsetzt über den Beat, zu dem die jungen Leute einzeln tanzen, ohne seiner gewahr zu werden. Und von der verehrten Pianistin kennt er nur ihr Spiel und ihre Stimme, ein öffentlich zugängliches Foto gibt es offenbar nicht, da von ihr keine Schallplattenaufnahmen erhältlich sind. Formal ist der Roman wie ein Libretto komponiert, mit Prolog, mehreren Akten, retardierenden Momenten und der dramatischen Auflösung.

Das Leitmotiv der „Unhaltbaren Zustände“ ist das vergebliche Verhindernwollen des drohenden Wandels. Stettlers sozialer Konservatismus zeigt sich unter anderem darin, dass er nach dem Tod seiner Mutter die einst gemeinsame Wohnung nicht renoviert; seine gestalterische Ader im Umgang mit Kulissen bleibt einzig professionell. Dass er keine intime Beziehung hat, nimmt er ergeben hin. Dass er keine Freunde sein eigen nennt, verwundert ihn nicht weiter. Erst das Eindringen der Außenwelt in seine schützende Routine verunsichert ihn. Sein Lebenstraum, in Haltung und Würde zu verschwinden, wird zerstört, als das Ziel bereits in Sichtweite ist. Er weiß nicht, wie er sich gegen Bleicher, den Vertreter der Avantgarde, wehren soll; schleichend registriert er, dass er von seinen Kolleginnen und Kollegen gemieden wird, die mit der Zeit zu gehen bereit sind, während er zum Auslaufmodell sich gestempelt sieht.

Stettler verliert schließlich das ungleiche Duell gegen Bleicher, am Ende tritt er selbstzerstörerisch auf die Bühne, die „seine“ Schaufenster über die Jahrzehnte für ihn waren. Alain Claude Sulzer treibt diese persönliche Katastrophe mit einer antiquierten Sprache sachlich unbarmherzig voran, dabei eine tiefe Sympathie für seinen Antihelden hegend. In dieser Form ist Sulzer, der abwechselnd in Basel und Berlin lebt, ein heißer Kandidat für den Büchner-Preis (verdient hätte er ihn bereits für seinen „Perfekten Kellner“, für seine „Falsche Zeit“ oder für seine „Privatstunden“). Stettlers Desaster ist überzeitlich, die Verquickung mit 1968 demonstriert ein weiteres Mal, wie souverän sich der Autor in verschiedenen Epochen zu bewegen vermag und wie solide er die Umstände seiner Geschichten recherchiert und arrangiert. Am Ende bleibt das Streben nach Glück, dessen Verwirklichung nicht vom Einzelnen allein abhängt. Vor seiner Verzweiflung war Stettler absichtslos genügsam.