Im Januar 2010 verdichteten sich Gerüchte zur Gewissheit: Über Jahrzehnte hatten katholische Priester am von Jesuiten geleiteten Canisius-Kolleg in Berlin Schülerinnen und Schüler sexuell bedrängt. Die Opfer dieser Übergriffe schwiegen lange aus Scham über das Erlittene, noch heute kämpfen manche mit den seelischen Folgen der Traumen. Ende September 2018 legte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) eine Studie zu Strukturen und Dynamiken des sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester in ihrem Verantwortungsbereich vor, das Canisius-Kolleg war beileibe kein Einzelfall.
Die Studie, erarbeitet von Forschern (m/w) der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen (freilich ohne Zugriff auf Originalakten der katholischen Kirche zu erhalten), offenbart ein bestürzendes System des Wegschauens und des Vertuschens, in Teilen gar der Komplizenschaft. Bischöfe versetzten Pfarrer stillschweigend, ohne sich um Aufklärung oder strafrechtliche Konsequenzen zu kümmern. Kindern und Jugendlichen wurde nicht geglaubt, die bezichtigten Kleriker genossen via Status einen Nimbus der Unschuld. Heute will die DBK, nach einem Eingeständnis der Schuld und des Versagens, die Opfer entschädigen und künftigen Missbrauchsfällen vorbeugen. Mit einem routinierten Kyrie eleison ist es nicht getan, Beichte und Absolution allein helfen nicht.
Das Risiko sexueller Grenzüberschreitung besteht besonders in Verhältnissen, die durch Macht und Abhängigkeit konstituiert sind: Erwachsene gegenüber Minderjährigen, Autoritäten gegenüber Namenlosen, Lehrende gegenüber Lernenden, Charismatiker gegenüber Zöglingen, Männer gegenüber Frauen; bei katholischen Priestern mag der Zölibat als Signum nicht gelebter Sexualität begünstigend für Übergriffe wirken. Die Abwesenheit von Zeugen und das bewusste Situieren der Akte in geschlossenen Räumen lassen unwillkürlich Zweifel an der Richtigkeit potenzieller Vorwürfe aufkommen.
Im Evangelium äußert sich Jesus bildmächtig zur Vernutzung der Schwachen durch die Starken: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“ (Mk 9,42) Anlässlich der Präsentation der zitierten Studie wurde am Dom zu Münster die Skulptur „Mahnender Mühlstein“ enthüllt, die den Bibelvers plastisch in den städtischen wie auch sakralen Raum stellt. Für das Mahlen des Korns ist der Mühlstein unentbehrlich, im übertragenen Sinn ist er eine Last, die das Fortschreiten auf gewohntem Wege unmöglich macht und mit dem Untergang droht.
Der Apostel Paulus stimmt in einem seiner Briefe das Hohelied der Liebe an: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnisse hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“ (1 Kor 13,2-3) Die Kernbotschaft des Christentums vom Ursprung an ist die Liebe, auch gegenüber Fremden und Feinden; sie tritt auf im Gewand des Verzeihens und der Vergebung.
Die Krux jener lyrischen Passage ist ihre kategoriale Unschärfe. Zur Liebe gehören neben der Fürsorge und der Hingabe auch das Begehren und die Erotik, die Verführung und die Sexualität, nicht zuletzt die Lust und der Rausch. Dass die katholische Kirche über Liebe predigt durch Priester, die die körperlich-sinnliche Dimension dieses Gefühls und Handelns anderen Menschen gegenüber qua Amt nicht kennen dürfen, sondern geschlechtslos bleiben sollen, lässt sie in dieser Hinsicht peinlich amputiert wirken. Die begonnene Diskussion über die Folgen des Missbrauchsskandals wird dementsprechend heikel verlaufen.
Die katholische Kirche ist eine Institution, die in ihrer langen Geschichte gewaltige Verwerfungen vom Investiturstreit über das Abendländische Schisma und die Reformation bis zur Säkularisierung im Zuge der Napoleonischen Kriege überstanden hat. Hat sie auch seit der Renaissance deutlich an politischer Macht eingebüßt, ist ihr kultureller Einfluss bis heute ungebrochen, wenn auch regional, national und kontinental unterschiedlich ausgeprägt. Gegenwärtig leben rund 1,2 Mrd. römisch-katholische Christen (m/w), das entspricht etwa 17,5 % der Erdbevölkerung. Die katholische Kirche ist damit zahlen- wie flächenmäßig die größte je gesehene Religionsgemeinschaft.
Die genannte Studie beschränkt sich auf die 27 Diözesen in Deutschland, der Analysezeitraum erstreckt sich von 1946 bis 2014. Demnach gelten 1.670 Kleriker als belastet, 3.677 Minderjährige sind als Opfer zu beklagen; die Dunkelziffern dürften deutlich darüber liegen. Diese spröden Zahlen sind blendende Chiffren für das erschütterte Vertrauen vieler Christen in ihre Gemeinschaft; auch in Australien, Irland und den USA harren vergleichbare Skandale der Aufarbeitung. In einer Zeit, wo in Deutschland Priestermangel und rückläufige Mitgliederzahlen Hand in Hand gehen, könnte sich mit der falsch verstandenen Praxis der Liebe das Ende einer 2.000 Jahre währenden Geschichte der Wunder und Geheimnisse abzeichnen. Dann wäre der Mühlstein keine Metapher mehr.