Mutter

  Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück
Gen 3,19

Kaum zu glauben, ihre Mutter ist jetzt seit fast drei Jahren tot. Die letzten 20 Monate ihres Lebens hatte sie in einem Altenheim zugebracht, bei sich rapide verschlechternder Beweglichkeit. Wenn Kerstin heute ins alte Haus ihrer Eltern kommt, sieht das frühere Zimmer ihrer Mutter so bewohnt aus, als halte diese gerade im Nebenraum ein Nickerchen in ihrem Lieblingssessel und käme gleich zurück. Die Einrichtung ist kaum verändert, das Bett, der Schrank, der Schreibtisch und das Bücherregal laden sie ein, einfach wieder einzuziehen. Wir warten auf Dich, scheinen die Tapeten und Vorhänge zu summen.

Der Kleiderschrank ist weitgehend leergeräumt, Kleider, Wäsche und Schuhe ihrer Mutter wurden nach ihrem Tod weggeworfen. Nun liegt in den Regalen noch Bettzeug, um das Zimmer für gelegentliche Gäste zur Nacht behaglich zu machen. Auf einem Kleiderbügel hängt ein leichter Übergangspullover, von der Konsistenz fast ein dickes T-Shirt. Wenn Kerstin dieses letzte Textil, das von ihrer Mutter hier geblieben ist, berührt, verlangsamt sich ihr Atem, sie meint den Geist ihrer Mutter streicheln zu können. Solange dieses Leibchen hier im Schrank hängt, ist ihre Mutter noch nicht ganz gegangen, so ihre Wunschvorstellung.

Bei jedem Besuch im alten Elternhaus nimmt sie sich Memorabilia mit. Das können Bücher sein, etwa Gedichtbände von Hermann Hesse und Wislawa Szymborska oder die Neue Jerusalemer Bibel in der Einheitsübersetzung, ein edles Messer von WMF, eine rote Teetasse, ein wollener Schal oder eine Kette aus Bernstein. Auch eine Rolle mit Abfallbeuteln, die zu kaufen Kerstin niemals in den Sinn käme, findet den Weg in ihren Koffer. Wenn sie sie in ihrer Wohnung verwendet, fühlt sie in diesem Haushaltsritual ihre Mutter anwesend. Doch bleiben genügend persönliche Dinge ihrer Mutter in ihren Räumen, um ihre Spuren nicht vollends zu verwischen. Kein Museum des Vergessens, sondern eine Alltagsbereitschaft.

Kerstins Kopf weiß, dass ihrer Mutter Tod eine Erlösung für sie darstellte. So gern sie gelebt hatte, so schwer und lang war ihr Sterben. Zu ihrem letzten Geburtstag hatte sie ihr drei Gläschen mit Honig geschickt, gesogen von Bienen aus der großen Stadt. Als Kerstin ihr von dieser seit Jahren um sich greifenden Praxis erzählte, wurde ihre im Dämmer der Medikamente liegende Mutter wieder wach; die Imkerin in ihr fragte nach Informationen über den Großstadthonig und freute sich über das Geschenk, wie sie hinterher am Telefon flüsterte. Als Kerstin zwei Wochen später wieder am Bett ihrer Mutter stand, waren aus dem Honigglas vielleicht drei Messerspitzen entnommen, mehr konnte sie partout nicht lutschen und schlucken. Mit feuchten Wattestäbchen fuhren die Pflegerinnen über ihre trockene Mundschleimhaut.

Seit Jahresbeginn war die medizinische Behandlung von einer kurativen auf eine palliative umgestellt, mit ausdrücklicher Billigung ihrer Mutter. Sie war erschöpft von den Fahrten ins Krankenhaus, wo man ihr schon lange nicht mehr ursächlich helfen konnte. Sie bekam neben angst- und krampflösenden Arzneien auch Morphium, der Dekubitus am Steiß war mit einem besonders aggressiven Bakterium besiedelt, das den nahenden Tod mit einem beißenden Gestank verhieß. Ihre Augen lagen starr und vor Schmerzmitteln glänzend in den tief gewordenen Höhlen, auf eine Berührung am kalten Handrücken reagierte sie nur noch reflexhaft. Als ihr schließlich ein Sohn einer lieben Freundin aus alten Grundschultagen deren letzte Lebensgrüße überbrachte, schien sie endlich gerüstet, diese Welt hinter sich zu lassen. Vier Tage später war sie tot.

Kerstins Herz kann diese Tatsache nicht immer bejahen. Wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt und das Foto des kleinen Mädchens, das ihre Mutter werden sollte, betrachtet, oder wenn sie am Grab steht und ein Licht in die Laterne stellt, kann sie das Wort „tot“ nicht auf ihre Mutter beziehen, jedem Wissen zum Trotz, auch wenn ihr Name in den Grabstein über ihrer Urne geschnitten ist. Sie erzählt ihr Begebenheiten aus ihrem Leben, das nolens volens weitergeht, und hofft auf eine Reaktion, die nicht einmal des Nachts im Traum kommt, geschweige denn im Gebet. Wie gerne würde sie mit ihr über ihren neuen Job im Parlament sprechen, über den letzten Aufenthalt im Kloster oder über ihre chronischen Arthroseschmerzen im Knie – ihre Mutter hätte ehrliches Interesse daran und nähme Anteil im Gespräch.

Kerstin fehlt die Mutter vor allem, weil sie selbst keine Familie hat. Wie denn auch, mit ihrer sozialen Behinderung liegen eigene Kinder und eine Partnerschaft außerhalb jeder Reichweite. Sie hat sich eingerichtet in ihrem Leiden in Einsamkeit ohne jede Form eines gemeinsamen Lebens mit einem geliebten Menschen. Ihre Mutter hat auf diesen traurigen Umstand stets mit Sorgen und einem Hilfswillen reagiert, so irreal dieser auch bleiben sollte. Kerstin erfüllt das Los ihrer Großmutter, die, nachdem sie ihre gerade geborene Tochter erzwungenermaßen zur Adoption freigegeben hatte, allein und ohne jede emotionale Bindung in der anonymen Großstadt lebte, geächtet im sozialen Aus und zum Schweigen gezwungen über ihre Schande.

Wie freute sich Kerstin für ihre Mutter, dass sie ihre leibliche Mutter noch kennenlernen konnte, bevor diese vollends im Nebel der Demenz verschwand. Wenn Kerstin diese beiden Frauen auf den Fotos betrachtet, sieht sie ihr eigenes Gesicht, ihren schlanken Wuchs und ihre mit dem Alter gebeugte Haltung. Und sie sieht zwei Frauen, die sich in ihrem Leben behaupten mussten, ohne Mann oder gegen ihren Mann – und sie nimmt das Echo auf und trägt es in die nächste Generation. Wenn die Bienenwachskerze, die sie in ihrem Schlafgemach für ihre Mutter entzündet, schließlich erlischt, bleibt ein Stumpenrest übrig. Diesen zerbröselt sie und gibt ihn der nächsten Flamme zur Nahrung.

Die Liebe ihrer Mutter zu Büchern lebt in Kerstin weiter, ebenso ihr Versinken in der Fantasie. In Freundschaftsfragen kommt sie entschieden nach ihrer Großmutter; diese lebte allein für sich, während ihre Mutter noch im Ende von Freundinnen umgeben war. Wenn sie selbst dereinst sterben wird, werden keine Kinder ihr das Grab bereiten; sie wird so tot sein, als hätte sie niemals gelebt. Ihre Mutter hingegen bekommt jeden Dank, zu dem Kerstin in ihrer Trauer fähig ist: Sie hat einen vorderen Platz in ihren Erinnerungen, wo sie präsent ist jeden Tag. Und immer wieder vernimmt Kerstin ein schlichtes „Ich liebe Dich, egal was Du tust“. So zärtlich zu sich selbst kann Kerstin nicht sein, darin liegt ihr Versagen.