Nachverdichtung

Das erste, was Kerstin beim Besuch in ihrer Heimatstadt auffällt, ist die gute Luft. Auch im drückenden Dürresommer liegt ein Geruch aus Flieder und Wiese über den mäßig befahrenen Straßen des Viertels, in dem sie ihre Jugend verbrachte und das Gymnasium besuchte. Das Quartier, vor gut 60 Jahren als neuer Stadtteil am Reißbrett entstanden, wird auch Gartenstadt genannt, es liegt nahe am innerstädtischen See und ist trotz der zentralen Lage aufgelockert und großzügig begrünt. Heute ist nicht länger mehr auszumachen, dass das Gebiet nach dem II. Weltkrieg am Rande der Stadt lag, gekennzeichnet durch Feldwege, Wiesen, Wäldchen und Gehöfte.

Kaum ist die Haustür ins Schloss gezogen, kann Kerstin schon den Spaziergang beginnen. Das Viertel bleibt vom Durchgangsverkehr weitgehend verschont, das Geräusch entfernter Motoren schwillt dezent an und wieder ab, das Singen der Vögel ist der dominante Klang an diesem schläfrigen Sonntag. Kerstins Blick geht über die Reihenhäuser ihrer Jugend, die ihr seinerzeit viel größer vorkamen. Dass sich die Gegend nach und nach verändert, ist nicht nur ein Ausdruck ihrer geschönten Erinnerung, sondern wird bestätigt durch Fotos aus der Kindheit des Areals. Da die Stadt einer ungebrochenen Attraktivität ausgesetzt ist, müssen die politisch Verantwortlichen ergänzenden Wohnraum für ihre kommenden Neubürger (m/w/d) schaffen. Dies geschieht bevorzugt unter dem Etikett der Nachverdichtung.

Damit ist gemeint, dass auf einer gegebenen (und nicht zu vergrößernden) Fläche mehr Menschen leben und wohnen können als bisher. Das wird erreicht durch die vertikale Nachverdichtung, bei der Dachböden zu Maisonettewohnungen ausgebaut werden oder ein weiteres Geschoss aufgesetzt wird; bei der horizontalen Nachverdichtung werden Baulücken geschlossen oder Brachen mit Wohngebäuden bebaut. Mit dieser Maßnahme soll der Zersiedelung sowie der Versiegelung des Umlands begegnet werden, die stets von wachsendem Pendleraufkommen begleitet werden und zu vermehrtem Verkehrslärm und verschmutzter Luft führen. Zudem liegen Abwasserrohre, Stromkabel und Gasleitungen bereits in der Erde, die aufwändige Erschließung von Grund auf entfällt.

An sich ist die Nachverdichtung die städtebauliche Reaktion auf einen stetigen Bedarf an Wohnraum, eingebettet in den Jahrhunderte währenden Lebenszyklus der Stadt. Die spannende Frage bei dieser Art des Weiterbauens eines Quartieres ist, ab wann sich dessen Charakter substanziell verändert. Kerstin kann sich erinnern, als ihre Familie vor über vierzig Jahren das Haus bezog, dass einige hundert Meter davon entfernt ein alter Bauer eine kleine Viehwirtschaft auf einer Weide betrieb. Nach dem bald erfolgten Tod des Bauern baute sich ein Architekt die imposante Scheune des Hofes zum stattlichen Atelier mit Wohnhaus um, die angrenzende Wiese wurde parzelliert, auf ihr entstanden mit den Jahren Mehrfamilienhäuser. Das Ländliche von einst ist dem Wohngebiet mittlerweile ausgetrieben, das Parkartige ist noch erhalten geblieben.

Zum Gelände des lokalen Sportvereins, wo Kerstin früh mit dem Lauftraining begann, gehörten ehedem auch mehrere Tennisplätze. Diese wurden bereits vor einer Generation planiert und mit zwei Reihen an Einfamilienhäusern bedeckt. Nicht alle Autos der Bewohner finden Platz in den Garagen, so parken die immer größer und breiter werdenden Karossen gratis auf den Trottoirs und stehen Kinderwagen und Rollatoren im Weg. Im lokalen Einkaufszentrum sind die meisten Ladengeschäfte längst verschwunden, an ihrer Statt sind Apartments eingerichtet. Auf den in Kerstins Gedächtnis weitläufigen Grünanlagen rund um die katholische Kirche wurden nach und nach zusätzliche Wohnriegel gebaut. Nachverdichtung aus der Perspektive der ersten Anwohner bedeutet Verengung des Wohn- und Lebensraumes.

Der Generationenwechsel der Eigentümer und Mieter des Viertels hat längst professionelle Spekulanten angezogen. So drängen finanzstarke Investoren die gegenwärtigen Besitzer der Immobilien und vor allem der Grundstücke zum Verkauf – um die alten Häuser abzureißen und an ihrer Stelle neue und größere Gebäude für mehr Menschen zu errichten. Die Nachverdichtung ist ganz wörtlich zu nehmen: Den neuen Gebäuden fallen öffentliches Straßenland und die so typischen Grünanlagen zum Opfer, an den Straßenrändern stehen die wuchtigen SUV Spalier, die Müllabfuhr kommt kaum mehr durch die schmal dimensionierten Straßen. Die traditionelle Achillesferse der Nachverdichtung ist die nicht mit wachsende Infrastruktur der Mobilität, von den Planern und Genehmigern im Bauamt gern übersehen.

Unterm Strich läuft die Nachverdichtung darauf hinaus, dass sich mehr Menschen den gleichen Raum teilen müssen, was zu Lasten der Erholungsqualität des Viertels geht, das einst genau dafür gerühmt wurde. Kerstin und ihre Clique haben früher Fangen und Verstecken in den Gärten, Wegen und Parks spielen können und sind natürlich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Das ist für die Kinder dieses Viertels nicht mehr selbstverständlich. Auch heute noch ist das weitgehend homogene Wohngebiet ein Trainingsziel für Fahrschüler, weil sich hier neben dem Einparken die Rechts-vor-Links-Regel gut üben lässt. Außerdem können die künftigen Autofahrer sich an die viel zu vielen PKW auch in diesen bürgerlichen Wohnquartieren gewöhnen – und das ist einer Universitätsstadt, die sich selbst gern als Fahrradstadt rühmt.

Ein entschiedener Gewinn ist in Kerstins Augen die üppige Vegetation der Gegend. Zwischen den Häusern wachsen und wuchern schattenspendende Bäume, blickdichte Hecken und lieblich duftende Sträucher und Blumen. Die Fotos aus ihrer Kindheit und Jugend wirken nicht nur wegen des Schwarz/Weiß-Modus von vorgestern; sie zeigen fast nur Asphalt, Steine und Beton, hier und da noch Bauholz. Das Gartenhafte des Viertels ist sein großer Trumpf, auch wenn vereinzelt die Vorgärtchen mit ihren grauen Kieseln die Anmutung der Abdeckung eines Saunaofens haben. Beim Hitzegewitter, das sich aus der Schwüle dankbar entlädt, sitzt Kerstin auf dem überdachten Balkon des Hauses und streckt die Nase in das dampfende Gras. Das ist der Geruch ihrer frühen Jahre, kostbar und gottlob noch wiederholbar.

Die Zukunft des Viertels steht auf der Kippe, was auch an seiner Anziehungskraft und der der Mutterstadt liegt. Die Rasen vor etlichen Häusern sind Carports gewichen, die blühenden Rhododendren und die Kirschbäume stehen in den benachbarten Gärten, die Grundstücke wirken wie geschrumpft unter den austreibenden Häusern nach ihrer Umwandlung von einem Eigenheim zum Mehrparteienhaus. Eine Bürgerinitiative formiert sich, um gegen den anstehenden Abriss ihrer in die Jahre gekommenen Mietriegel durch eine Investmentgesellschaft zu protestieren. Es war bei der Konzeption des Viertels Ende der 1950er Jahre erklärte Absicht, dass auch Mieter in einer grünen, friedlichen Gegend sollten wohnen können. Diese sanfte Emanzipation wird aktuell durch ihren eigenen Erfolg bedroht, die Nachverdichtung bedient neben den Wohnbedürfnissen zusätzlicher Anwohner auch die Finanzinteressen anonymer Projektentwickler. Am Ende dieses Prozesses steht eine andere Stadt.