Der vorletzte Fehler gewinnt. – Savielly Tartakower
Zum Ende ging es dann ganz schnell. Beim Match um die Schach-WM in Dubai zwischen Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Ian Nepomniachtchi war nach der elften von 14 Partien Schluss. Der Titelverteidiger kam durch einen Sieg mit Schwarz auf die notwendigen 7,5 Punkte, seinem Gegner gelang nicht einmal der Ehrentreffer. Viermal gewann Carlsen, keinmal Nepomniachtchi. Dieser Wettkampf wird als jener in Erinnerung bleiben, den der Herausforderer stümperhaft vergeigte.
Ian Nepomniachtchi (auf Russisch Ян Aлєксандрович Непомнящий, was soviel bedeutet wie der, der vergisst), wird aufgrund der Schwierigkeit der Aussprache seines Namens außerhalb Russlands kosehaft Nepo genannt. Er hatte sich beim Kandidatenturnier 2020/21 in Jekaterinburg für das Match gegen Magnus Carlsen qualifiziert, die Kiebitze freuten sich auf eine spannende Auseinandersetzung. In den ersten fünf Partien lieferte Nepo dem Weltmeister ein Ringen unter gleichen. Er zeigte sich in der Eröffnung sehr gut präpariert, konnte mit seinen drei Weißpartien in der Spanischen Eröffnung die typische langfristige Initiative erhalten, mit Schwarz glich er jeweils souverän aus. In der zweiten Partie hatte er einen beträchtlichen materiellen Vorteil und einen Riesenspringer im gegnerischen Lager, allerdings gab er das Material klug zurück, um des Weltmeisters Angriff zu neutralisieren. Er ließ sich auf Carlsens Geduldsspiel ein und zeigte sich ihm technisch ebenbürtig. Seinem Ruf, sehr rasch, aber sauber zu ziehen, blieb er im ersten Drittel des Matches treu.
In der sechsten Partie kam es dann zu einem schachlichen, vorentscheidenden Drama. Carlsen wich nach 1. d4 mit Weiß von den ausgetretenen Pfaden ab, es ergab sich ein kompliziertes Mittelspiel à la Reti und Katalanisch, in dem Nepo mutig beide Türme für die gegnerische Dame investierte. In paralleler Zeitnot verpassten beide Spieler eine klar bessere Fortsetzung. Schließlich stand ein Endspiel mit seltener Materialverteilung auf dem Brett: Weiß K, T, S, 2B – Schwarz K, D. Die Computer bewerteten das Endspiel als ausgeglichen, allerdings konnte Carlsen ohne Risiko auf Gewinn spielen und zeigte seine vollendete Technik, während Nepo kurz vor dem objektiven Remishafen durch Dauerschach die einzig rettende Zugfolge übersah und schließlich verlor. Die Partie dauerte 136 Züge und fast acht Stunden, ein Rekord in der Geschichte der Wettkämpfe um die Weltmeisterschaft.
Zwei Tage später bei der achten Partie schien Nepo noch unter der Erschöpfung diseses Marathons zu leiden. Er wählte mit Schwarz die Russische Verteidigung gegen Carlsens 1. e4, die als feuerfeste Remiswaffe gilt. Nach frühem Abtausch aller Springer und einer symmetrischen Bauernstruktur verzichtete Nepo auf die Rochade und zettelte einen Königsangriff an, den die Position nicht hergab. Er büßte durch einen Anfängerfehler zwei Bauern ein und fand sich in einem schwierigen Damenendspiel wieder. Er kämpfte verzweifelt darum, den weißen König ins Freie zu locken, um ein Remis durch Dauerschach zu erreichen, doch vergebens: Ein weiteres Mal zeigte Carlsen seine maschinenhafte Präzision bei der Behandlung des letzten Partieabschnitts und erntete den vollen Punkt, den er selbst nach eigener Aussage gar nicht angestrebt hatte.
Die neunte Partie nach einem Ruhetag zeigte dann Nepos finalen Zusammenbruch. Er hatte sich tags zuvor die Haare schneiden lassen und wirkte körpersprachlich präsent und entschlossen. Die komplizierte Stellung mit aktivem Figurenspiel und Raumvorteil aber, die sich aus der Englischen Eröffnung ergab, misshandelte er mit Weiß wie ein Patzer. Er verbrachte kaum Zeit am Brett, stattdessen im Ruheraum, zog unangemessen schnell, ohne die komplexen Varianten zu berechnen, wohl um Carlsen auf der Uhr unter Druck zu setzen. Nepo stellte durch einen schlimmen Bauernzug einen Läufer ein und taumelte dem Ende ein paar Züge weiter entgegen. Es tat beim Zuschauen weh, ihn so sehr neben sich stehend zu erleben. Leicht verwundert strich Carlsen den dritten Sieg ein, zu dem er außer der erbarmungslosen Widerlegung der Fehler des Herausforderers nichts beizutragen brauchte.
In der elften Partie wählte der Herausforderer, der mit dem Match abgeschlossen zu haben schien, mit Weiß die trendige Italienische Partie, die zu ruhigen Manövern (daher auch Giucco Piano genannt) führt und beide Farben am Spiel beteiligt – eine Herangehensweise, die der Weltmeister perfektioniert hat. Doch die Idee, Carlsen mit eigenen Waffen zu schlagen, ging nach hinten los. Als dieser einen Abtausch der Leichtfiguren vorbereitete im Vorgriff auf ein Remis, unterlief Nepomniachtchi ein schlimmer Schnitzer, der seinen König schutzlos ließ, bei einer Computerbewertung von -6. Hatte er das Desaster tatsächlich nicht gesehen oder vielmehr unbewusst herbeigeführt, weil er nicht länger leiden und das Match so schnell wie möglich beenden wollte? Magnus gab die Qualität und erhielt einen starken Königsangriff. Doch verpasste er ein schnelles Matt und musste mit einem Plusbauern ins Turmendspiel, das er überzeugend zum Sieg im 49. Zug führte.
So erreichte er bereits nach elf von maximal 14 Partien die erforderlichen 7,5 Punkte zur Verteidigung des Titels – befreiender Applaus im Zuschauersaal und Partystimmung im norwegischen Lager! Nepo sprach bei der abschließenden Pressekonferenz von einer wichtigen Erfahrung, die er in diesem Match gemacht habe – als sei er zu Trainingszwecken angereist. Weiter offenbarte er eine viel zu optimistische Einschätzung der jeweiligen Stellungen, bewertete die eigenen Chancen als zu gut und zeigte kaum Gespür für die Gefahren für seinen König. Nepo und sein Team müssen bei der Analyse des Matches herausfinden, warum seine Nerven und seine Kondition der Belastung des Kampfes trotz der guten ersten Hälfte nicht standgehalten haben. Falls es eine Strategie für den Fall eines Rückstands gab, hatte Nepo sie schlicht vergessen.
Nepo fiel in überwunden geglaubte Untugenden zurück, spielte launisch mit dem Charme eines Zockers. Außerdem demonstrierte er Probleme mit seiner Einstellung: Nach exzellentem Spiel zu Beginn geriet er nach der sechsten Partie erkennbar aus dem Tritt und verschlimmerte seine Lage durch trotzig wirkendes Schach, das, wie er selbst in einem Interview bekannte, auf Großmeisterniveau nichts verloren habe. Er nahm es gelassen hin, dass sein Landsmann Daniil Dubov dem Weltmeister als Sparringpartner in der Vorbereitung auf das Match diente; Nepo hatte Dubov, der bereits 2018 zum Team Carlsen zählte, absichtlich nicht um Unterstützung gebeten, um ihn nicht in Loyalitätskonflikte zu stürzen. Vielleicht ist er kein Spieler für das Monoformat eines Duells, wo er jeden Tag dem selben Gegner gegenüber sitzt. Es ist schade für die ganze Schachwelt an den Monitoren, dass er sich selbst so himmelschreiend unter Wert geschlagen hat. Immerhin nimmt er noch die 800.000 € Preisgeld für den Zweitplatzierten mit nach Hause, sein Renommee als Großmeister der Extraklasse ist jedoch fürs Erste ruiniert.
Zur politischen Situation in den Vereinigten Arabischen Emiraten äußerte sich Nepo so wenig wie Carlsen; immerhin steht Homosexualität unter Strafe in dem islamisch geprägten Land, das sich mit der Soft Power der Kultur, der Architektur und des Sports ein offenes, weltläufiges Image zu geben trachtet. Als Profis des reisenden Schachzirkus als Teil der globalen Unterhaltungsindustrie nehmen sie die Gagen, die ihnen Sponsoren und Mäzene zu zahlen bereit sind. Auf der Seite chess24.com, die zum börsennotierten Unternehmen des Weltmeisters gehört, wurden die Partien in voller Länge übertragen, begleitet von sachkundigen Großmeistern und präsentiert wie eine Samstag-Abend-Show, mit permanenten Live-Schaltungen zum Spielort auf der Expo in Dubai. Allerdings gab es hier keine Kommentare in russischer Sprache, ganz so, als sei die stolze Schachnation Russland, die von Nepo den Titel erwartete, vom Champion Magnus Carlsen bereits abgeschrieben.
Durch die Demütigung von Dubai ist Nepo für das nächste Kandidatenturnier qualifiziert, das mutmaßlich im Jahr 2022 stattfinden wird. Ob er dann eine zweite Chance für den Titelkampf erhält, ist fraglich. Bekommt er es dort doch nicht nur mit den beiden Herausforderern der WM-Matches von 2016 und 2018, Sergey Karjakin und Fabiano Caruana, zu tun (ersterer war in Dubai sein Sekundant), sondern auch mit den aufstrebenden Spielern der nächsten Generation Jan-Krzysztof Duda (Polen) und Alireza Firouzja (Frankreich). Vor allem letzterer, der im Dezember 2021 die magische 2800er Grenze bei den Elozahlen überschritten hat, gilt mit seinen gerade 18 Jahren ob seines riesigen Talents als natürlicher Anwärter auf die Schachkrone. Nepo steht bis auf weiteres im Schatten seines Generationenkollegen und Freundes aus Jugendtagen Magnus Carlsen. Er wird in Erinnerung bleiben als der Hasadeur, der durch nicht erzwungene Fehler die Partien und den Wettkampf wegwarf.