Finnland ist ein sportverrücktes Land. Bezogen auf die Einwohnerzahl, zählt es zu den führenden Ländern weltweit, besonders in den Wintersportarten. In den 1920er Jahren dominierten finnische Läufer die noch jungen Mittel- und Langstrecken. Unter den ob ihres enormen Tempos „Flying Fins“ genannten Läufern ragte Paavo Nurmi (1897 – 1973) heraus, der bei den Olympischen Spielen von Antwerpen 1920, Paris 1924 und Amsterdam 1928 neun Gold- und drei Silbermedaillen gewann und reihenweise Weltrekorde aufstellte. Diese sportlichen Erfolge aus der Kindheit der neuzeitlichen Olympiade stehen bis heute singulär in der Leichtathletik.
Paavo Nurmi wurde 1897 im westfinnischen Turku, der ehemaligen Residenzstadt während der schwedischen Herrschaft des Landes, geboren. Sein Vater, ein armer Kleinbauer, starb früh, sodass Paavo als Jugendlicher mit körperlich harter Arbeit zum Familieneinkommen beitragen musste. Seine karge Freizeit nutzte der sportlich talentierte Junge zum Laufen, das nur geringe finanzielle Investitionen erheischte; früh stellten sich regionale und nationale Erfolge ein. Scheinbar nach Belieben beherrschte er die 5.000 und die 10.000 Meter ebenso wie den Hindernis- und den Geländeparcours, manchmal mehrere Rennen pro Tag laufend. Rare Filmaufnahmen aus den 1920er Jahren zeigen Nurmi im Ziel locker und entspannt, während seine geschlagenen Gegner teilweise kollabierten.
Paavo Nurmi wurde zur Identifikationsfigur des erst 1917 von Russland unabhängig gewordenen Finnlands. Seinen sportlichen Ruhm nutzte er unter anderem zur Werbung für ein leistungssteigerndes Medikament. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) sah hierin sowie in großzügigen Reisekostenzuschüssen und Antrittsgeldern zu Wettkämpfen eine Verletzung des Amateurstatus und sperrte Nurmi noch vor den Olympischen Spielen in Los Angeles 1932 lebenslang. Dessen ungeachtet trug er zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1952 in der finnischen Hauptstadt Helsinki die olympische Fackel ins Stadion, zur Rührung seiner Landsleute und der Sportfans weltweit. Der Sportheros Finnlands starb 1973 und wurde in seiner Heimatstadt Turku beigesetzt.
Als an ein systematisches Lauftraining noch nicht zu denken war, absolvierte Nurmi stoisch diszipliniert seine Übungseinheiten. Er überlegte sich im Vorfeld, wie schnell er die anvisierte Strecke im Turnier laufen wollte, und errechnete den dafür notwendigen Kilometerschnitt. Den kontrollierte er im Training mit einer Stoppuhr, was zu dieser Zeit niemand von der Konkurrenz machte. Im Ergebnis lief Nurmi die Wettkämpfe nicht gegen seine Wettbewerber, sondern gegen die Zeit. Er variierte während des Trainings auf federndem Waldboden das Tempo, baute Wiederholungen und Intervalle ein, feilte an der optimalen Schrittlänge, steigerte klug das Pensum und sparte Energie, indem er den Oberkörper ruhig hielt. So paarten sich Ökonomie und Eleganz.
Die deutsche Bildhauerin und Grafikerin Reneé Sintenis schuf 1926 ihre Bronzeskulptur „Der Läufer Nurmi“. Die Künstlerin, selbst sport- und geschwindigkeitsbegeistert und in jener Zeit auf dem Gipfel ihrer Karriere, muss sich als Gleichgesinnte des Finnen erlebt haben. Die gut 40 cm hohe Plastik, eine überaus gelungene Studie der Kinästhesie, vermittelt den Eindruck purer Schnelligkeit kombiniert mit Ausdauer. Der dargestellte Körper scheint die Schwerkraft hinter sich zu lassen, er transformiert Materie in Energie.
Die rechte Ferse setzt raumgreifend weit vor dem Körperschwerpunkt auf, gleichermaßen springend wie schreitend, das Knie ist fast gestreckt. Der linke Fuß befindet sich auf Höhe des Beckens, die Sohle parallel zur Erde, den kompletten Schwung holt der Läufer aus der Hüfte. Die Dynamik der sehnigen Beine wird befeuert durch die Statik eines geraden Rückens bei versetzt schwingenden Armen, der Blick des hageren Modellathleten ist bereits im Ziel. Die Bronzefigur vermittelt die vorbildliche Haltung beim Laufen, die Nurmi mutmaßlich ebenso genießt wie das Publikum.
Prominent platziert vor dem Olympiastadion in Helsinki, steht eine lebensgroße Statue Nurmis, nicht weit davon eine weitere des finnischen Läufers Lasse Viren, in den 1970er Jahren ein Nachfolger des großen Paavo. Die für den Außengebrauch gefertigten Werke strahlen eher Wucht denn Gefallen aus. Der deutschen Bildhauerin Sintenis ist es mit ihrer filigranen Skizze von 1926 vergönnt, schiere muskuläre Kraft in anmutiger Bewegung zu zeigen; der Nurmi ihrer Plastik könnte binnen eines Augenblicks vom linearen Laufen ins zirkuläre Tanzen fallen, so schwungvoll und zufrieden zeigt er sich in seinem Leib.
Seit Paavos Tagen hat sich die Leichtathletik kolossal weiter entwickelt. Frühkindliche Förderung, wissenschaftlich gesteuerte Trainingsmethoden, besseres Material und genetisch begünstigte Athleten (m/w) lassen heute ganz andere Marken realistisch erscheinen. Doch ist es evident, dass Nurmi, dessen Name zum Synonym für den Ausdauerlauf wurde, mit seiner vegetarischen Ernährung und seinem Verzicht auf Alkohol intuitiv richtig lag. Am Ende zählt ohnehin die sportliche Einstellung, und die dürfte bei Nurmi gelautet haben: Laufen ist Leben, alles andere ist Warten.