ÖRR

Die für den 1. Januar 2021 angesetzte Erhöhung des Rundfunkbeitrags von 17,50 Euro um 86 Cent je Monat und Haushalt ist fürs erste vom Tisch, nachdem der Landtag von Sachsen-Anhalt im Dezember sein Plazet verweigert hat. Die Zustimmungen aller 16 Landesparlamente wären notwendig gewesen, in der Folge wäre das jährliche Budget des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) von jetzt rund 8 Mrd. Euro um gut 455 Mio. Euro gestiegen. Gegen die ausgefallene Erhöhung haben die ARD und das ZDF beim Bundesverfassungsgericht geklagt, das nun über die Höhe des Zwangsbeitrags zu entscheiden hat. Dieser Eklat hat die notwendige Debatte um den ÖRR erneut entfacht – auf dem Prüfstein steht ein Mediensystem, das sich in großen Teilen überlebt hat.

Der abgabenfinanzierte ÖRR mit seinen rund um die Uhr zu empfangenden über 70 Radiowellen und rund 25 TV-Programmen ist ein Kind der frühen Bundesrepublik, deren Medienordnung sich als duales System beschreiben lässt: Auf der einen Seite der öffentlich-rechtliche Rundfunk, auf der anderen Seite das privatwirtschaftlich organisierte Zeitungs- und Verlagswesen, beides zunächst unter der Lizenz der westlichen Alliierten. Die Einrichtung des ÖRR nach dem Vorbild der britischen BBC sollte zum einen der politischen „Umerziehung“ der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des III. Reiches dienen; zum anderen waren Sendefrequenzen für Radio und Fernsehen in den Nachkriegsjahren knapp, so dass der Zugriff primär über öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten plausibel erschien.

Dieses Nebeneinander von Funk und Fernsehen sowie Zeitungen und Zeitschriften erfuhr mit der Lizensierung privater TV-Kanäle Anfang der 1980er Jahre eine Erweiterung. Nach der Vereinigung Deutschlands 1990 wurde das Sendegebiet der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Mit der massenhaften Verbreitung des Internets als Empfangs- und Sendemedium ab Ende der 1990er Jahre ist die mediale Nachkriegsordnung endgültig passé. Die Menschen sehen sich einem globalen Überangebot an TV-Sendern und Radiostationen, Streaminganbietern und Videoportalen, gedruckten Zeitungen und aggregierten Nachrichtenservices, dazu Messengerdiensten, Blogs und Datenbanken im Internet gegenüber. Diese Angebote finanzieren sich über verpflichtende Beiträge aller, über Abonnementgebühren, über Genossenschaftsmodelle, über Werbung oder über die Monetarisierung der Nutzerdaten.

Seit der Umstellung von der Geräte- auf die Haushaltsabgabe 2013 sprechen die Lobbyisten des ÖRR nicht länger von einer „Rundfunkgebühr“, sondern von einem „Rundfunkbeitrag“. Sie versteigen sich gar zu Adelung der Gebühr zu einer „Demokratieabgabe“, da ihr politisches und kulturelles Programm den Bürgern (m/w/d) ausgewogene Informationen bereitstelle, die eine faktenbasierte Meinungsbildung und damit Beteiligung am öffentlichen Leben erst ermöglichten. Das Typische dieses Finanzierungsmodells liegt in seiner lebenslangen Verpflichtung für jeden Haushalt respektive Bewohner Deutschlands. Die fehlende Möglichkeit, sich diesem Arrangement zu entziehen (weil man bestimmte Sender nicht schaut oder gar kein TV nutzt), macht die Rede von einer „Zwangsabgabe“ zutreffend – die Bürger bekommen ein Angebot, das sie unter Androhung einer Gefängnisstrafe nicht ablehnen können.

Anfang 2019 geriet das berüchtigte „Framing-Manual“ einer Kommunikationswissenschaftlerin versehentlich an die Öffentlichkeit. Das Papier, als Grundlage ARD-interner Diskussionen gedacht, macht eine ganze Reihe Vorschläge für den rhetorischen Umgang mit Kritikern des ÖRR. So müsse, heißt es unfreiwillig komisch, die Kommunikation „immer in Form von moralischen Argumenten stattfinden“. Nach diesem Verständnis ist die „Rundfunkbeteiligung gelebte Eigenverantwortung für die deutsche Kultur, Wirtschaft und Demokratie als Grundlage unseres individuellen Wohlergehens“. Die Darstellung gipfelt in der salbungsvollen Aussage: „Wir beteiligen uns am gemeinsamen Rundfunk ARD um unserer selbst und unseres Landes willen.“ Eine stabile Infrastruktur des ÖRR erscheint derart als Agent der Daseinsversorgung, analog der Gerichte, der Polizei, der Schulen und der Straßen.

Dabei ist es empirisch gesichert, dass die Nutzung des linearen TV-Programms vor allem bei Menschen jenseits der 55 Jahre verbreitet ist, während für die unter 34-jährigen das Internet die Hauptquelle der Nachrichten geworden ist. Sie entscheiden sich gegen ein Fernsehprogramm, das mit der Geste des Erziehens daherkommt und politische, wirtschaftliche und soziale Prozesse aus einer ethisch korrekten Perspektive verhandelt. Zu den wenigen Stärken des ÖRR zählen sein dichtes weltweites Korrespondentennetzwerk, seine Lokalberichterstattung und die Präsentation der Kultur in all ihrer Vielfalt im Radio. Das allerdings wäre für einen geringen Teil der aktuellen Abgabe zu haben – das Gros des Budgets fließt in die Pensionen ehemaliger Mitarbeiter, in obszön teure Sportrechte und in die Finanzierung massenkompatibler Unterhaltungsshows, wie sie auch die werbefinanzierten privaten TV-Anstalten produzieren.

Die in Deutschland bestehende unterschiedliche Regulierung von Presse und Rundfunk ist nur historisch zu erklären, an ihr muss nicht ad nauseam festgehalten werden. Die nutzungsunabhängige Zwangsabgabe zementiert die Sonderrolle des ÖRR in Wirtschaft und Gesellschaft, sie sollte durch eine moderne Nutzungsgebühr à la Netflix ersetzt werden. Der ÖRR kann sich auf die Bereitstellung von Inhalten in strukturschwachen Gebieten beschränken, die den am Markt orientierten Anbietern zu unattraktiv erscheinen. Nicht zuletzt ist die Publikation wirtschaftlicher Kenngrößen notwendig, um eine Kosteneffizienz auch im ÖRR zu fördern. Zu den Auswüchsen des Apparates gehört eine Verfilzung der Redaktionen mit den Medienanstalten und Rundfunkräten, die eine Trennung von Staat und Medien dringlich machen.

Fragt man nach der Anzahl der Zuschauer, die pro Million Euro öffentlicher Ausgaben noch erreicht werden, liegt der deutsche ÖRR im internationalen Vergleich am unteren Ende der Skala. Wären seine Produkte so vielfältig, gut recherchiert und qualitativ hochwertig, wie von den Redaktionen stets behauptet, könnten diese sich guten Gewissens dem Urteil des Publikums stellen und dieses freiwillig zahlen lassen für einen journalistischen Service – analog zu denen der Zeitungen, Verlage, verschlüsselter TV-Sender und Streamingdienste. Die verantwortlichen Redakteure müssen sich fragen, ob der ÖRR seinem Auftrag zur „Grundversorgung“ gerecht wird und neutral, differenziert und seriös berichtet. Diese elementaren journalistischen Tugenden aus der angelsächsischen Tradition standen Pate bei der Gründung der ARD 1950. Heute erinnert der Medienstaatsvertrag von 2020 den ÖRR an die „Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote“ zur Erfüllung seines Auftrages.

Allerdings kann von einer Ausgewogenheit speziell des politischen Programms keine Rede sein. Prominente Redakteure (m/w/d) sind vielmehr stolz darauf, „Haltungsjournalismus“ der richtigen Gesinnung zu praktizieren, sie reden zudem von der Fiktion einer „sogenannten journalistischen Objektivität“. Eine Umfrage unter Volontären der ARD ergab kürzlich, dass 90 % von ihnen den Positionen der Grünen, der Linken und der SPD nahestehen – das einschlägige Programm kommt dann eben agitatorisch (Anne Will, Die Heute Show, Monitor, Extra 3) oder narkotisierend (Helene Fischer, Wetten dass, Verstehen Sie Spaß, Das Traumschiff) daher. Jenseits des hohlen Pathos der Demokratie leben die Funktionäre und Redakteure des ÖRR prächtig vom üppigen Zwangsbeitrag wie von einem bedingungslosen Grundeinkommens, welches kaum die Kreativität seiner Empfänger beflügelt.

Das Konzept eines abgabenfinanzierten ÖRR hat sich in Zeiten des Internets erledigt, feste Sendezeiten der „Tagesschau“ haben mit der Lebenswirklichkeit der Menschen wenig zu tun. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Vertrauen wird nicht mehr über Kabel, sondern über das Web ausgetragen; das Drängen der Anstalten des ÖRR auch ins Netz ist eine weitere Wettbewerbsverzerrung gegenüber den privaten Informationsanbietern, die ihre Produkte täglich neu verkaufen müssen und um Werbegelder der Industrie konkurrieren. Und wenn der ARD wie letztens mit „Babylon Berlin“ eine hochgelobte Serie gelingt, überrascht es nicht, dass der britische Bezahlsender Sky mit am Produzententisch sitzt. Die üblichen Schmonzetten wie „Rosamunde Pilcher“ oder austauschbare Regionalkrimis rechtfertigen das Pflichtabonnement keineswegs. Die Strategen des Staatsfunks können nicht länger ignorieren, dass für einen wachsenden Teil der Bevölkerung die wichtigste Eigenschaft ihres Empfangsgeräts der Ausschaltknopf ist.