Oksanen

Bei klarem Wetter kann man von Helsinki fast bis nach Tallinn blicken, lediglich 80 km Ostsee liegen zwischen der finnischen und der estnischen Hauptstadt. Neben der geografischen Nähe teilen die beiden EU-Länder auch kulturelle und politische Erfahrungen: Das Finnische und das Estnische gehören zur Gruppe der finno-ugrischen Sprachen, beide Länder sind digital affin (Nokia, Skype), beide wurden nach Jahrhunderten russischer Dominanz 1917 (Finnland) resp. 1918 (Estland) unabhängig. Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, der die territoriale Aufteilung des nördlichen Ostseeraumes zwischen dem III. Reich und der UdSSR regelte, wurden beide Republiken dem Baltikum zugeschlagen.

Die Schriftstellerin Sofi Oksanen, 1977 in Mittelfinnland geboren, ist qua Biografie eine Mittlerin zwischen den Welten. Ihre Mutter ist estnisch-sowjetischer, ihr Vater finnischer Herkunft. Nach einem Studium der Dramaturgie an der Theaterakademie in Helsinki lebt die mittlerweile verheiratete Autorin in der finnischen Kapitale. Sie zählt zu den wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen finnischen Literatur und wurde mit mehreren Preisen geehrt.

Anders als Finnland, das sich im sogenannten Winterkrieg 1939/40 erfolgreich des sowjetischen Überfalls erwehren konnte und seine politische Souveränität behielt, wurde Estland 1940 zwangsweise als Sozialistische Sowjetrepublik der UdSSR eingegliedert. Während der deutschen Besatzung Estlands von 1941 bis 1944 wurden überwiegend Juden verfolgt, nach dem erneuten Einmarsch der Roten Armee 1944 erfolgte die Sowjetisierung mit voller Härte; Zehntausende Esten wurden in den Gulag deportiert resp. gleich erschossen, im Gegenzug wurden Zehntausende ethnische Russen in Estland angesiedelt.

Dieses bis in die Gegenwart reichende nationale Trauma muss man beim Lesen der Bücher Oksanens mitbedenken. In ihrem Buch „Fegefeuer“ (finnisches Original 2008, deutsche Fassung 2010), das zu ihrem literarischen Durchbruch führte und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde, verknüpft sie auf gekonnte Weise die Geschichte mehrerer Generationen über Tausende von Kilometern. Aliide ist eine alte Bäuerin, die im Westen Estlands eigenbrötlerisch vor sich hinlebt. 1992, kurz nach der Wiedererlangung der estnischen Eigenstaatlichkeit, taucht die junge Zara bei ihr auf, eine russisch sprechende Estin, die sich als die Enkeltochter ihrer nach Sibirien verschleppten Schwester entpuppt.

Zara ist unter falschen Versprechungen nach Europa gelangt, wird im Berlin der Wendejahre zur Prostitution gezwungen und schafft es schließlich, ihre brutalen Zuhälter zu übertölpeln. Die Ankunft der jungen Frau auf dem verfallenden Gehöft löst in Aliide lange verschüttete Erinnerungen aus – an ihren Geliebten, der nach 1944 als sogenannter Waldbruder in den Wäldern gegen die neuen Herrscher kämpfte, an ihren Ehemann, einen überzeugten Kommunisten, aber auch an das dauernde Klima der Beklommenheit in der Sowjetunion: „Die aus den Lagern Zurückgekehrten beklagten sie nie über irgendetwas, waren nie anderer Meinung und nörgelten niemals. Das war unerträglich.“

Oksanens Roman „Als die Tauben verschwanden“ (finnisches Original 2012, deutsche Fassung 2014) rückt die Affaire zwischen Juudit, einer estnischen Widerstandskämpferin, und Hellmuth, einem SS-Offizier und dem Kommandeur des von den Deutschen besetzen Reval aka Tallinn in den Mittelpunkt. Juudit verfolgt anfangs ihren konspirativen Auftrag und versorgt ihre Kombattanten mit brisanten Informationen, findet aber zugleich Gefallen am Luxusleben an der Seite Hellmuths und verliebt sich in ihn.

Edgar, einer ihrer Untergrundkollegen, bleibt der klandestinen Arbeit treu, nur nach 1944 eben auf sowjetischer Seite. Opportunistisch wie er ist, hat er keine Skrupel, auch persönlich Bekannte der Staatsmacht ans Messer zu liefern. Juudit ist nach Hellmuths Tod verwahrlost und zwischenzeitlich mit dem Spitzel Edgar liiert, findet sich im tristen Alltag nicht zurecht und erkrankt seelisch schwer: „Und der jetzige Zustand seiner Frau? Sich um ihren Medikamentenbedarf zu kümmern, verlangte schon Planung. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich um das Auffüllen der Hausapotheke selbst zu kümmern, denn seine Frau würde kaum imstande sein, taktisch vorzugehen und die Apotheken zu wechseln.“

Das Leitmotiv der Romane Sofi Oksanens ist das Geworfenwerden zahlloser Menschen durch das Spiel der Großmächte, dessen Grausamkeit sich im Einzelschicksal zeigt. Epochenwenden wie 1940/44 oder 1989/91 ziehen die Menschen eines kleinen Landes in einen mächtigen Strudel, der ihnen alles abverlangt zum Überleben. Oksanens literarische Technik lässt sich gut als szenisch charakterisieren: Die einzelnen Kapitel resp. Episoden lesen sich sprechend, Dialoge, Reflexionen und Landschaftsskizzen lösen sich ab, die Geschichten werden beharrlich in Richtung Klimax vorangetrieben, Rückblenden erzeugen einen theatralen Rhythmus. Die Bücher vermengen historische Tatsachen mit literarischer Fantasie zu einer fesselnden Melange, die versunkene Sowjetunion lebt weiter als Schreckgespenst.