Oligarchie

Die Oligarchie steht wörtlich für die Herrschaft der Wenigen (aus dem griechischen oligos = wenig und dem griechischen archein = herrschen). In der politischen Philosophie taucht der Begriff erstmals in Platons „Politeia“ in der Diskussion um die beste Staatsform auf. Sie wird dort definiert als „die Verfassung, die auf der Einschätzung des Vermögens beruht. In ihr herrschen die Reichen, der Arme dagegen hat keinen Anteil an der Regierung.“ (550 d) Aristoteles spricht in seiner „Politika“ von der Oligarchie als einer Ausartung der Aristokratie, die den Vorteil der Reichen verfolge, ohne dem Wohl der Gesamtheit zu dienen. (1279 b)

Der Oligarch hat es ins russische Wörterbuch der Gegenwart geschafft. Er bezeichnet nach Boris Nemzow, der in den 1990er Jahren als Gouverneur von Nishni Nowgorod im Übergang zur Marktwirtschaft die Anwerbung westlicher Investoren verantwortete, eine schmale Schicht russischer Geschäftsleute, die während der Privatisierung der gigantischen Staatsmonopole (speziell der Öl- und Gasindustrie sowie der Stahl- und Aluminiumbranche) aus dem Nichts zu Milliardären aufstiegen. Sie verfügten über ausreichend Liquidität, die an die Bevölkerung ausgegebenen Coupons zum Erwerb von Anteilen ausgewählter Staatsbetriebe zu kaufen und in wenigen Händen zu akkumulieren. Sie mischten sich in die Gesetzgebung des kranken Präsidenten Boris Jelzin ein und finanzierten die Kampagne zu seiner Wiederwahl 1996.

Beim Aufbau ihrer märchenhaften Vermögen profitierten sie von Schwarzmarkterfahrungen in der Spätphase der Sowjetunion, von Insiderwissen über geplante wirtschaftliche Entscheidungen der Regierung, bestehenden Kontakten zu internationalen Kreditgebern sowie einem permanent steigenden Ölpreis und damit der Hausse ihrer Aktien. Hinzu kam eine kriminelle Skrupellosigkeit im Umgang mit Wettbewerbern, die das Wort der „Piratisation“ prägte. Ihren Reichtum und den damit verbundenen Einfluss auf die Politik sicherten sie durch den Zugriff auf die Banken, die Logistik und die Medien Russlands. Die bekanntesten Oligarchen waren resp. sind Roman Abramowitsch, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, Oleg Deripaska, Michail Fridman, Wladimir Gusinski, Witali Malkin und Wladimir Potanin.

Während der Casinojahre unter Boris Jelzin konvertierten die Oligarchen ihre ökonomische Macht in politische. Sie gingen irrtümlicherweise davon aus, den 1999 als Ministerpräsidenten installierten Wladimir Putin ebenso nach ihren Wünschen steuern zu können. Zu dessen ersten Schritten im Jahr 2000 als Staatspräsident (nach der Generalamnestie seines Vorgängers) zählte der Befehl an die Oligarchen, sich fortan aus der Politik herauszuhalten. Er zwang Boris Beresowski und Wladimir Gusinski, ihre Anteile an den Energieunternehmen an den Staat zu verkaufen, auch stellte er ihren Einfluss auf die Fernsehsender ab. Beide gingen ins Ausland, Beresowski starb 2013 in England unter nicht geklärten Umständen.

Michail Chodorkowski, CEO des weltgrößten Ölkonzerns Jukos, der die chronische Korruption im Land anprangerte, wurde 2003 unter dem Vorwurf der Steuerhinterziehung verhaftet, enteignet und für zehn Jahre ins Arbeitslager gesperrt; Jukos geriet unter staatliche Kontrolle. Die verbliebenen Oligarchen gaben klein bei, errichteten ihren Tribut an den neuen Kremlherrn und konnten ihre zum Teil ins Ausland transferierten Gelder behalten. Auch im Jahre 19 der Herrschaft Putin behält der Begriff der Oligarchie seine sarkastische Berechtigung zur Skizzierung der politischen Verfassung des Landes: Des Präsidenten loyale Weggefährten werden mit hohen Regierungsämtern oder Vorstandsposten dominanter Rohstoffhändler belohnt, ihre administrative Macht nutzen sie reziprok zur exzessiven Vermehrung persönlichen Wohlstands.

Eine nach westlichen Maßstäben pluralistische Gesellschaft mit Parteien, Vereinen, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Rechtssicherheit, funktionierender Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und effizienter Verwaltung existiert in Russland bestenfalls in Ansätzen. Eine freie Presse gibt es nicht, digitale Medien werden agitatorisch geflutet, Justiz und Polizei arbeiten nicht unabhängig. Das Arbeitstempo der Behörden korreliert mit der Höhe der Bestechungen, innovative Gründer werden bürokratisch gegängelt, regierungskritische Stimmen werden erstickt. Die russische, in New York arbeitende Journalistin Masha Gessen hat rekonstruiert, wie in den frühen 2010er Jahren das gesetzliche Verbot „homosexueller Propaganda“ ein vergiftetes Klima der Denunziation und der Gewalt förderte, das liberale, gut ausgebildete Intellektuelle in die USA, nach Israel oder Deutschland emigrieren ließ.

Das Regime schreckt im Bedarfsfall auch vor Mord nicht zurück. Am 6. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau erschossen. Sie hatte zu Menschenrechtsverletzungen während des Krieges in Tschetschenien recherchiert. Am 27. Februar 2015 wurde Boris Nemzow in Moskau getötet. Der Oppositionspolitiker, in den 1990er Jahren stellvertretender Ministerpräsident und potenzieller Jelzin-Nachfolger, hatte Putin über Jahre Wahlfälschung und Rechtsbeugung vorgeworfen. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, der 2008 mit Boris Nemzow die Bewegung Solidarnost gegründet hatte, lebt nach mehreren Inhaftierungen seit 2013 im Exil in New York. Der Moskauer Rechtsanwalt und Blogger Alexei Navalny, der mit seinem engagierten Team Studien zur hemmungslosen Gier der Putin-Clique im Internet veröffentlicht, dürfte das nächste Opfer eines Auftragskillers werden.

Putin will mindestens bis 2024 im Amt des russischen Präsidenten bleiben, dann wird seine vierte Legislatur enden. Die Kommandeure von Polizei, Armee und FSB sind ihm weiter treu ergeben. Beim einfachen Volk setzt Putin zur Mehrung des Prestiges, neben sportlichen Großereignissen wie den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotchi oder der Fußball-WM 2018, auf außenpolitische Coups wie den endlosen Krieg in Syrien und die Annexion der Krim 2014. Sein unfassbar brutaler Ahne im Kreml, Josef Stalin, erfährt unter ihm eine offene Rehabilitierung; Putin lässt sich ebenso wie der rote Diktator als Woschd, als Führer titulieren, der für Ordnung und Stabilität in einer Welt voller Feinde sorgt und des Reiches Größe sichert.

Diese Konstruktion einer Tradition der Härte soll wohl seine schwache Legitimation durch manipulierte Wahlen kompensieren. Allerdings wird es spätestens seinem Nachfolger zum Problem werden, dass Russlands Wirtschaft weiterhin vom Verkauf von Rohstoffen abhängig ist und es seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht vermocht hat, auch auf technologischem Feld sich am Weltmarkt zu etablieren wie etwa China. So wirkt Putins eiserne Herrschaft der Panzer und Raketen wie eine UdSSR 2.0, nur dass sich ihre Nomenklatura nicht mehr aus der KPdSU rekrutiert, sondern aus der Verwaltung, den Geheimdiensten und dem Militär.

Deren Anliegen ist es, von der politischen Herrschaft auch ökonomisch zu profitieren. Dazu muss sie nur Wladimir Putins imperiales Gehabe mittragen und sich nicht in Forderungen nach Demokratie, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit vernutzen. In ihren Augen wird die Macht der Exekutive nicht auf Zeit verliehen, um, vom Parlament beaufsichtigt, zum Wohl der Allgemeinheit zu arbeiten. Vielmehr stellt sie ein privilegiertes Instrument zur Ausplünderung des Landes und seiner Bevölkerung dar – eine moderne Definition der Oligarchie. So steht das Russland des 21. Jahrhunderts in trauriger Kontinuität zum Zarenreich der Romanows wie zur Sowjetunion.