Olympia

Eigentlich hätte es im Jahr 2020 eine Sommerolympiade geben sollen, wie in jedem Schaltjahr seit 124 Jahren. Doch das Coronavirus strich das große Sportfest, für das in Tokio bereits alles angerichtet war, vom internationalen Terminkalender; das haben bisher nur die beiden Weltkriege für die projektierten Ausgaben 1916 (Berlin) sowie 1940 (St. Moritz/Sapporo/Garmisch-Partenkirchen, Tokio/Helsinki) und 1944 (Cortina d’Ampezzo, London) geschafft. Ob sich die Jugend der Welt nun im kommenden Sommer in der japanischen Hauptstadt treffen kann, vermag heute niemand verlässlich zu sagen. Das Denken an die nächste Olympiade mag daher auch eine Einladung sein, sich mit ihrer Geschichte der Neuzeit zu beschäftigen.

Der Schweizer Graphikdesigner Markus Osterwalder, Jahrgang 1964, hat eine bemerkenswerte Geschichte der Olympischen Spiele seit Athen 1896 vorgelegt. Dabei interessiert er sich nur am Rande für statistische Angaben wie die Zahl der Teilnehmenden (bereits ab der zweiten Olympiade 1900 in Paris sind Frauen unter den Aktiven), die Art der Wettkämpfe und Disziplinen, gelaufene, gefahrene, geschwommene oder geworfene Rekorde, dominierende Länder oder besonders erfolgreiche Athleten (m/w/d). Osterwalder schaut vielmehr auf die visuelle Präsentation der Spiele, auf ihre Signets, auf ihre Kommunikation im öffentlichen Raum – kurz, auf ihr Corporate Design, das anfangs eher intuitiv daher kommt und mittlerweile von spezialisierten Agenturen gestaltet wird. So ergibt sich im vorliegenden zweibändigen Werk eine Geschichte des Designs, dekliniert am Beispiel der Olympischen Sommer- und Winterspiele sowie der Paralympics.

Osterwalder ist mit der Akribie des Historikers vorgegangen, der die vorhandenen Quellen sichtet, konstelliert und interpretiert. Er hat im Olympischen Museum in Lausanne recherchiert, er hat mit Designerinnen wie Elena Winschermann, Theodora Mantzaris und Irene Maria Jacobs gesprochen, er hat auf Flohmärkten und im Internet Kontakt mit Sammlern olympischer Devotionalien aufgenommen, er hat Archive von Zeitungen und Fernsehsendern nach Fotos und Filmen konsultiert, um möglichst genau das Gesicht der Olympischen Spiele im Wandel der Zeiten zu rekonstruieren. Auf über 1.570 Seiten präsentiert er der geneigten Leserschaft seine Fundstücke – vom offiziellen Plakat der Spiele über die vergebenen Medaillen bis zur Eintrittskarte; von der Hausschrift der jeweiligen Spiele über die Gestaltung des Programmheftes bis zu den prägenden Farben der ausrichtenden Stadt respektive Region.

Was im Jahr 1896 in Athen als semiprivates Sport- und Ertüchtigungsfest mit 241 Aktiven begann, inspiriert und organisiert vom humanistisch denkenden französischen Baron Pierre de Coubertin, hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer einzigartigen Marketingmaschine entwickelt, die die Olympiade (und mit ihr den Sport insgesamt) zu einem Riesenspektakel einer weltumspannenden Unterhaltungsindustrie transformierte. In Athen 2004 waren über 10.000 Teilnehmende am Start, auf den offiziellen Infosäulen vor Ort prangte das Logo einer international vertretenen Fastfood-Kette, das Publikum am Fernsehen und im Internet wurde in Milliarden gemessen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) fungiert dabei als absolutistische Rechteinhaberin der Marke „Olympische Spiele“ und des Logos der Olympischen Ringe; es vergibt in einem obskuren Prozess alle vier Jahre an wechselnde Städte die Lizenz, die Olympischen Sommer- wie Winterspiele abzuhalten, die die Kosten für die Infrastruktur allein zu tragen haben, während das IOC den Löwenanteil der Übertragungsgelder einstreicht.

Was heute den Gesetzen einer nüchternen Vermarktungslogik gehorcht, begann ausgangs des 19. Jahrhunderts idealistisch, romantisch und durchaus wagemutig. In Frankreich und Belgien fanden Radrennen große Beachtung, in England wurde begeistert Fußball gespielt und gerudert, in Deutschland geturnt, die europäische Aristokratie traf sich bei Reitturnieren, die Jugend des Kontinents entdeckte die gesundheitsfördernde Wirkung des Wanderns und des Schwimmens. Die Idee eines Sportfestes, das mehrere Disziplinen (und anfangs auch kulturelle Darbietungen) umgreifen sollte, lag in der Luft. Mit Athen wurde bewusst Griechenland als erster Austragungsort gewählt, um an die Olympischen Spiele der Antike anzuknüpfen, eine kultische Begegnung des sportlichen Wettstreits wie des Schweigens der Waffen. Die wenigen noch erhaltenen Fotos von 1896 zeigen nicht umsonst das panathenäische Stadion unterhalb der Akropolis mit seinen für ein Amphitheater typischen durchgehenden, nach oben ansteigenden lehnenlosen Sitzbänken.

Die Spiele 1900 in Paris und 1904 in St. Louis fanden jeweils als Rahmenprogramm der Weltausstellung statt, sie gingen mit ihrer Dauer über Monate vielmehr weitgehend darin unter. 1912 in Stockholm gab es erstmals ein gesondertes Plakat, das als Werbeträger für die sportlichen Wettkämpfe diente; typographisch und motivisch dominierte in diesen Jahren der florale Jugendstil, ab der Mitte des Jahrhunderts wandelte sich die figürliche Darstellung zu mehr Abstraktion. Auf dem Olympischen Kongress 1914 in Paris wurde erstmals die Olympische Flagge mit den fünf Ringen in der Öffentlichkeit gezeigt; die Ringe, die dann ab Antwerpen 1920 Teil der visuellen Identität der Olympiade sind, wurden im Verlauf der letzten 100 Jahre mehrfach umgestaltet, auch hier wacht das IOC eifersüchtig über die korrekte Darstellung „seines“ Logos, dessen Farben im Pantone-Code eindeutig definiert sind. Seit der Olympiade 1924 in Paris gibt sich jede ausrichtende Stadt ein Signet, das oft die nationalen Farben des Landes aufnimmt, ebenso Figuren aus der regionalen Mythologie, und das die sportliche Bewegung symbolisieren soll. Im Nebeneinander von Ringen und Signet erscheinen die Olympischen Spiele, ab 1924 in Chamonix auch in einer Winterversion, als Parallelführung von visueller Konstante und Variation.

Die Spiele 1936 von Berlin stechen visuell aus der Historie besonders heraus. Vor ihrer Eröffnung wurde im griechischen Olympia die Olympische Fackel entzündet, die dann in einer Staffel in die Hauptstadt des Deutschen Reiches getragen wurde – ein bis heute gepflegter Brauch. Wurden die Spiele bislang medial über die Zeitung und das Radio kommuniziert, existieren nun erstmals Fernsehbilder der Wettkämpfe. Außerdem nutzt die Führung des III. Reiches die Olympiade als Plattform ihrer Propaganda – auf belebten Plätzen wehen die Fahnen der Ringe und der Swastika nebeneinander. Nicht zuletzt gibt es erstmals eine systematisch komponierte Sammlung an Piktogrammen, die in klarer Zeichenform und über Sprachgrenzen hinweg die jeweilige Sportart darstellen. Unklar bleibt, warum die Piktogramme in Berlin 1936 nicht zum Einsatz kamen; es sollte noch bis 1964 in Tokio dauern, dass auf dieses allgemein verständliche Element nonverbaler Kommunikation zurückgegriffen wurde.

Lange waren die Olympiaden den Amateuren des Sports vorbehalten, Professionals waren ebenso wenig erwünscht wie kommerzielle Werbepartner. So sorgte 1952 in Helsinki für Unmut beim IOC, dass ausgerechnet die finnische Langlauflegende Paavo Nurmi das Olympische Feuer im Stadion entzündete – hatte Nurmi doch als Athlet in den 1920er Jahren nach Auffassung des IOC den Amateurstatus verletzt. Von dieser Zurückhaltung des IOC ist heute nichts mehr zu spüren; seitdem 1968 in Mexiko die ersten Fernsehbilder in Farbe über die Monitore flimmerten, ist die Olympiade für global agierende Konzerne von höchstem Interesse. Farbgebung, Fonts, Maskottchen, Piktogramme, Wegweiser, Begleithefte und Uniformen der Freiwilligen im und ums Stadion herum entstehen modellhaft aus einem Guss, um möglichst weltweit einen Wiedererkennungswert zu schaffen. Diese Zurichtung der Olympiade auf die Interessen der Sponsoren trug der Ausgabe 1996 von Atlanta den unrühmlichen Beinamen der „Coca-Cola-Spiele“ ein.

Und sonst? Es bleiben die ikonischen Piktogramme, die Otl Aicher und Gerhard Joksch für München 1972 kreiert haben. Unvergessen die Boykotte zuerst von Moskau 1980 (West) und dann von Los Angeles 1984 (Ost), die zeigen, dass der Sport nicht so unpolitisch ist, wie er sich gern inszeniert. Von Peking 2008 bleibt mit dem „Vogelnest“ das äußerlich schräge Stadion von Herzog & de Meuron in Erinnerung, eingesetzt als Mittel eines globalen Stadtmarketings. An London 2012 gemahnt die comichaft gezackte Typographie, mehr Symbol als Buchstabe. Und es bleibt von 2014 die Wortmarke cочи.ру im Gedächtnis, der Internetadresse des Ortes der Winterspiele an der russischen Riviera am Schwarzen Meer, mit einer desaströsen Ökobilanz, die es fortan schwierig macht, die Menschen für eine solche Gigantomanie zu faszinieren. Lässt sich heute Olympia nur noch in Autokratien mit ihrem unguten Hang zum Weißwaschen des Regimes vor der Weltöffentlichkeit austragen? Die Spiele 2016 in Rio legen es nahe: Das Drei-D-Design des Emblems in den brasilianischen Landesfarben ist ein kommunikativer Traum, der finanzielle Ruin der Stadt nach dem Ende der Show hingegen ein endloser Nachtmahr.