Operation

  Der Körper schließt den Geist in eine Festung ein; schon bald wird die Festung von allen Seiten belagert, und schließlich muss der Geist sich ergeben. – Marcel Proust

Erst kürzlich hat sich Kerstin wieder eine Blasenentzündung eingefangen. Überfallartiger Harndrang treibt sie auf die Toilette, es brennt beim Wasserlassen, ein paar Tropfen werden freigegeben, keine zehn Minuten beginnt der Kreislauf von Neuem. Bei einem Infekt der unteren Harnwege helfen nur Antibiotika, es gibt Frauen, die sich alle Naselang eine solch lästige Infektion zuziehen. Bei Kerstin lag die letzte ein gutes Jahr zurück, davor hatte sie etwa zehn Jahre Ruhe. Frauen sind prädisponiert für diese Plage, die sie in der Nähe zum Bad festhält, da zum einen die Harnröhre im Gegensatz zum Mann um etliche Zentimeter kürzer ist und die Bakterien schneller ans Ziel gelangen, zum anderen, da der Anus mit seinen Milliarden Bakterien in anatomischer Nachbarschaft liegt.

Kerstin ist vor wenigen Wochen 56 Jahre alt geworden. Den Geburtstag hat sie pandemiebedingt allein begangen, Rückschau hat sie jedoch ebenso gehalten wie einen Blick in die Zukunft geworfen. Wenn sie sich an die Statistik hält, bleiben ihr noch rund 28 Jahre bei hoffentlich guter Gesundheit und Selbstständigkeit, also noch ein Drittel im Vergleich zum bisher Gelebten. Und von diesen 56 Jahren hat sie 30 Jahre ohne, nein, besser mit gelebt. Im Februar 1991, als der Golfkrieg der USA gegen den Irak in vollem Gange war, lag sie im Krankenhaus auf der Abteilung für Plastische Chirurgie. Der Chefarzt transformierte ihr Genital, er formte aus dem Ensemble des Penis und des Hodensacks eine Vulva und eine Vagina. Ihr primäres Geschlechtsmerkmal wurde dergestalt der weiblichen Norm so weit angenähert, wie es die ärztliche Kunst erlaubt.

Nach dem mehrstündigen Eingriff lag Kerstin einige Tage im Dämmer der Narkose und der Schmerzmittel, in der Blase einen Katheter, der den Urin einfach aus dem Körper herausfließen ließ. Welch eine Sensation, als sie nach dem Ziehen des Katheters erstmals die Toilette aufsuchen konnte: Im Sitzen nahm der Urinstrahl nun den auf immer verkürzten Weg, das Plätschern im Becken klang so wie das der Nachbarin in der Kabine nebenan, wie Kerstin später ungezählte Male registrierte. Es war einfach umständlicher, die Blase zu entleeren, es dauerte länger, sich untenrum freizumachen und sich darauf wieder herzurichten. Ob ihr Eindruck, häufiger zur Toilette zu müssen, daher rührt, dass es einfach mehr Zeit kostet, vermag sie nicht mit Sicherheit zu sagen; wohl aber, dass es viel zu wenig öffentliche Toiletten für Frauen gibt. Sie schaut verschämt weg, wenn sie mal wieder einen Mann hemmungslos an einen Baum oder einen Pfahl pinkeln sieht.

Diese Operation hat sie nicht zur Frau gemacht, diese hat schon vorher in ihrem Kopf und in ihrem Herzen gelebt. Die Operation hat vielmehr einen finalen Schnitt unter den Prozess der nachholenden Verweiblichung gesetzt, der ihr den Zutritt in exklusive Frauenräume erlaubt: Im Alltag die Toilette, die Umkleide im Kaufhaus, die Dusche im Schwimmbad und auch die Sauna. Mögen ihre Brüste klein sein wie bei einem Mädchen am Beginn der Pubertät: Ihre Pflaume zwischen den Beinen, umgeben von einem Büschel dunklen Schamhaars, sieht nicht anders aus als die der anderen Frauen. Ihre Möse endet blind, die monatliche Blutung bleibt ihr teils erspart, teils verwehrt. Anfangs musste sie die neue Vagina regelmäßig mit einem medizinischen Dildo dehnen, auf dass sie nicht von innen her wieder zuwüchse. Dass sie dabei Freude und Lust empfand, war ein klarer Indikator, dass das neue Genital das endlich richtige war. Sie fühlte sich vervollständigt.

Corriger la fortune. Die Östrogene, die sie seit nun 32 Jahren nimmt, haben ihre Haut fein und seidig gemacht, unterfüttert von angewachsenem Unterhautfettgewebe. Sie profitiert davon, dass ihre Haut ein klein wenig dicker ist als die geborener Frauen. Ihr Geruch unter den Achseln und zwischen den Beinen ist entschieden fraulich, manchmal schnuppern Hunde an ihr. Ihr Haupthaar ist weiterhin voll, dicht und lang, sie trägt es meist im Dutt und muss spätestens alle sechs Wochen zum Friseur, um den weißen Ansatz nachzutönen. Wenn sie sich morgens nackt vor dem Schlafzimmerspiegel mustert, mag sie ihre sehnige Figur, die die ehemalige Marathonläuferin erinnert; ihre Gonarthrose hat das Laufen beendet, sie kompensiert diesen Verlust durch tägliches Radfahren und regelmäßiges Schwimmen. Zu Beginn des Frühlings, wenn sie ihre jährliche Fastenzeit zelebriert, aus religiösen wie physischen Gründen, ist ihre Taille definiert und ihr Hintern hübsch gerundet. Im roten Etuikleid, das die Knie freilässt, und in schimmernden Strumpfhosen sieht sie noch immer sexy aus.

Die Operation (vom lateinischen opus, das Werk, die Arbeit; in der medizinischen Bedeutung das Handwerk respektive der Eingriff des Chirurgen) ist für transsexuelle Frauen der Angelpunkt ihrer Biografie. Das ist für Kerstin so zutreffend wie unzureichend. Während der Diskurs die Operation zum Ziel des Sehens und Strebens erklärt, ist sie für Kerstin der zweite Start ins Leben. Nun sind Fakten geschaffen, deren Konsequenzen sie annehmen muss – nun gilt auch für sie, dass Anatomie Schicksal ist. Sie darf sich nun nicht nur im weiblichen Territorium aufhalten, sie muss sich nun so kleiden und benehmen, wie die Welt es von ihr aufgrund ihres Namens im Ausweis, ihres Gesichtes und ihres Schoßes erwartet. Sie muss sich nun für Mode interessieren, darf es mit dem Parfum nicht übertreiben, muss eine Routine im Schminken entwickeln, soll mit der Stimme Behaglichkeit signalisieren und muss freundlich, verbindlich und sorgend wirken. Auch wenn es ihr unter den Östrogenen leichtfällt, bleibt es ein geschlechtlicher Text, den sie memorieren muss und möchte.

Ihr ist nun an der Schwelle zu ihrem mutmaßlich letzten Lebensdrittel einsichtig, dass ihr Geschlecht ein dynamisches bleiben wird: Sie wird nie die unhinterfragte Gewissheit geborener Frauen kennen, deren Identität nicht angezweifelt wird; sie fühlt sich weiblich unter Vorbehalt, als müsse sie etwas beweisen, was anderen gegeben ist. Die Operation ändert daran nichts, im Gegenteil, ihre Pussy legt ihr die Verpflichtung auf, sich nun als Frau zu geben, ohne dass es länger ein Experiment oder Wachstum wäre. Sie muss den Wandel, der im Gedächtnis präsent bleibt, nach außen ignorieren. Ein Niemandsland der Geschlechter ist nicht vorgesehen; anders als bei der ethnischen Herkunft, gibt es im Reich der Geschlechter kein Gleichgewicht im Fluss, keine hybride Identität mit dem Besten aus zwei Welten. Kerstins Entmännlichung, signifikant vollzogen durch die Operation, steht nicht mehr auf der Agenda, ihre offenbarte Weiblichkeit ist ein chronisches Lernen am eigenen Maßstab.

Frauen werden sehr viel stärker über ihr Aussehen taxiert und bewertet als Männer, von ihresgleichen erst recht. Graue Haare bei Männern haben mitunter etwas Würdevolles, bei Frauen klingt hingegen die Vernachlässigung an. Männer, so offenbarte ihr ein Kollege, könnten mit intelligenten oder gar intellektuellen Frauen nur schwer umgehen; Kerstin nimmt sich in Diskussionen im Beruf extra zurück, um nicht als zu forsch und dominant zu erscheinen. Komplimente für ihr Aussehen nimmt sie gerne an, ohne sie bewusst zu provozieren. Bei einem Schachwettkampf wurde ihr von einem Vertreter der gegnerischen Mannschaft gesagt, sie erinnere ihn an Katharina Witt, das schönste Gesicht des Sozialismus, Jahrgang 1965 wie sie. Sie lächelte den älteren Schachfreund aus der DDR offen an und freute sie über den Vergleich. Welch schöne Frau, die mit harter Arbeit und Disziplin nach ihrer sportlichen Karriere nun als Unternehmerin tätig ist.

Kerstin hat früh genug verstanden, dass sie für ihren Körper, seine Gesundheit und sein Altern zu großen Teilen selbst verantwortlich ist – Männer kapieren diesen Umstand meist erst dann, wenn die ersten schweren Schäden kommen. Sie raucht nicht und trinkt keinen Alkohol, ernährt sich seit 25 Jahren vegetarisch und achtet konsequent auf ihr Gewicht. Die Operation hat sie seinerzeit in die Freiheit entlassen, mit der Maßgabe, sich um sich selbst zu kümmern. Noch dem Testosteron ausgesetzt, hat sie in ihren frühen Zwanzigern selbstzerstörerisch gelebt, gottlob ohne dass es zu einem schlimmen Unfall kam. Das Einleben ins Frausein hat Jahre gedauert, hat ihr aber Attraktivität, Arbeitsfähigkeit und seelische Regeneration geschenkt. Sie ist durch die brechenden Wellen des Geschlechts getaucht und schwimmt nun im offenen Meer mit gleichmäßigen Armzügen und sattem Beinschlag, nach unten ins Wasser ausatmend, stets zur Linken Luft holend. Der Unterschied zwischen einer Frau und einer Transfrau ist ihr intuitiv klar, ebenso wie die Gemeinsamkeiten; sie freut sich über das Erreichte und trauert dem Verpassten nicht nach.

Ihre Zeit auf Erden ist begrenzt, ihr Körper geht den Weg alles Irdischen, Leben ist Blüte, Reife und Verfall, das Alter holt sich jede. Natürlich schüchtert sie die blendende Schönheit junger Frauen ein, dann hilft der relativierende Blick auf die Matronen, die sich nolens volens gehen lassen. Wenn Kerstin dereinst vor ihrem himmlischen Richter stehen wird, kann sie ihm sagen, dass sie 26 Jahre mit Penis und 30 plus Jahre mit Vagina gelebt hat. Sie hat als Frau mit ihrer Muschi Sexualität ausgekostet und in einer Partnerschaft gelebt, sie hat gelernt, die Einsamkeit nicht als Verdammnis, sondern als Quell der Kraft und Kreativität zu umarmen. Wer hat schon die Gelegenheit, sich selbst mit einem ausgesuchten Namen taufen zu können. Genau wie ihre Großmutter, deren Gangbild sie sich unbewusst angenähert hat, wird sie unverheiratet und allein den Lebensweg beschreiten. Kerstin hadert nicht länger mit ihrem Schicksal, das sie früh gelehrt hat, mehrfach Anlauf zu nehmen und ihre Ausdauer zu trainieren.

Ihr Weg ist nicht der Resignation, sondern der der Resilienz. Die Operation hat ihr das Tor zum inneren Frieden aufgestoßen, sie war die hinführenden und sich ergebenden Anstrengungen allemal wert. Sie hat sich diesen Weg nicht ausgesucht und hat dementsprechend keine Entscheidung getroffen. Sie ist mit dem Ausbruch der Transidentität konfrontiert worden und hat sich ihr gestellt. Ihr seltenes Geschlecht ist in ihren Körper mit seinem Gedächtnis eingeschrieben; im Rhythmus der sieben Jahre erneuern sich seine Zellen, das amputierte Glied wächst nicht wieder nach, das genetische Programm wird von einem hormonellen Code überschrieben. Für die kommenden Jahre hat sie neben dem Russischlernen, dem Naturgenuss und dem Schachspielen ein erklärtes Ziel: Sie will die Dichterin gebären, die sie schon von klein auf in sich trägt. Sie will das literarische Werk, das in ihr keimt und reift, ernten und verschenken. Möge die Zeit, die ihr gegeben ist, dafür noch reichen. Marcel Proust als Frau.