Osteuropa

Osteuropa ist mehr als ein geographischer Begriff. Er meint nicht nur die Staaten jenseits von Oder und Elbe, die bis zur Epochenschwelle 1989/91 den sogenannten Ostblock bildeten; er steht darüber hinaus auch für ein Bündel an sozialen Erfahrungen, die die dort lebenden Menschen während der Sowjetherrschaft machen mussten. Unter dem Namen „osteuropa“ wird überdies eine wissenschaftliche Zeitschrift herausgegeben, die sich der interdisziplinären Erforschung des Ostens Europas widmet und die Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft dieses Raumes analysiert. Die Zeitschrift ist das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), die wiederum jüngst Opfer eines Cyberangriffes wurde. Ob dieser Hack im kausalen Zusammenhang mit der Einstufung der DGO durch das russische Justizministerium als „extremistisch“ steht, ist noch nicht abschließend geklärt.

Die DGO wurde 1949 gegründet, ihre Anfänge gehen zurück auf die 1913 formierte Gesellschaft zum Studium Russlands. Nach dem Ende des Zarenreiches und des I. Weltkrieges wurde die Gesellschaft zu einem Forum für Kontakte in den Osten des europäischen Kontinents. Während des III. Reiches wich die wissenschaftliche Forschung einer völkisch dominierten Beschäftigung mit der Sowjetunion, dem ideologischen Hauptgegner des Nationalsozialismus; die 1925 gegründete Zeitschrift „osteuropa“ stellte 1939 ihr Erscheinen ein. Nach dem Ende des II. Weltkriegs, der speziell den Osten Europas grundlegend umwälzte, kombinierte die DGO wissenschaftliche Arbeit mit praktischer Politikberatung. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion 1991 begann eine differenzierte Betrachtung der wieder beziehungsweise neu entstandenen unabhängigen Staaten Osteuropas; neben Russland stehen heute die Ukraine und Polen im Zentrum der interdisziplinären Forschung. Die Themenhefte der „osteuropa“ zur literarischen Abbildung des Gulag durch Warlam Schalamow, zu Svetlana Alexijewitsch und dem Homo Sovieticus sowie zum Massaker von Babin Jar sind legendär.

Die DGO ist als gemeinnütziger überparteilicher Verein organisiert, sie wird zu einem beträchtlichen Teil über das Auswärtige Amt finanziert. Sie unterhält Zweigstellen in 23 deutschen Universitätsstädten und richtet regelmäßig akademische Veranstaltungen zur Materie aus. Ende Juli 2024 wurde die DGO vom Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation als „extremistische Organisation“ eingestuft. Mitte Oktober 2024 gab die DGO zudem bekannt, dass sich Unbefugte in den vergangenen Monaten Zugang zu den E-Mail-Postfächern der Organisation verschafft hätten. Dies sei auf eine professionelle und technisch versierte Weise geschehen; Ziel der Attacke sei es offenbar gewesen, Informationen über die Arbeit der DGO zu erhalten. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) konnte die DGO beim Schließen des Sicherheitslecks unterstützen; ihm zufolge sei bei dem Hacken der DGO-Postfächer ein gängiges Muster der Informationsbeschaffung auch zur deutschen Außenpolitik zu erkennen.

Die Einstufung einer Organisation als extremistisch, sei sie nun russisch oder ausländisch, ist keineswegs rhetorisch. Das russische Strafgesetzbuch wertet diese Charakterisierung als Straftat, die mit bis zu zwölf Jahren Haft bestraft werden kann; das gilt auch rückwirkend, also vor allem für Wissenschaftler, die in der Vergangenheit mit der DGO gearbeitet und in ihren Organen publiziert haben. Als „ausländische Agenten“ müssen sich all jene Einrichtungen registrieren lassen, die externe finanzielle Zuwendungen erhalten; das traf etwa auf die mittlerweile verbotene Organisation „memorial“ zu, aber auch auf Dependancen politischer Stiftungen. Als „extremistisch“ gelten in Russland Vereinigungen, die sich für die verfassungsmäßige Autonomie kleiner Volksgruppen oder Nomadenstämme Sibiriens einsetzen; die DGO als wissenschaftliche Einrichtung sieht sich als Beifang dieses staatlich angeordneten Kesseltreibens gegen jede Gruppierung, deren Tun theoretisch als oppositionell gewertet werden könnte.

Diese staatliche Produktion von Volksfeinden hat in Russland und der Sowjetunion eine unrühmliche Tradition. Im 19. Jahrhundert verfolgte die Ochrana, die zaristische Geheimpolizei, unerbittlich all jene, die sich offen zeigten für die Abschaffung der Leibeigenschaft; in diesem liberalen Gedankengut konnte die Autokratie nur eine fundamentale Gegnerschaft erkennen. In den 1930er Jahren nahm die Feindschöpfung bizarre Züge an. Das Politbüro der KPdSU gab Quoten an zu enttarnenden Volksfeinden an die Regionen heraus, die die dortigen Statthalter übereifrig zu erfüllen bestrebt waren. Die Geheimdienste witterten überall Verrat, Sabotage, Konterrevolution und antisowjetisches Verhalten; die diesen Delikten Bezichtigten wurden zu Hundertausenden verhaftet, gefoltert, deportiert und erschossen, an jedem rechtsstaatlichen Verfahren vorbei. Die Gerichte verlasen nur noch die Urteile, die der Apparat in den Gefängnissen gefällt hatte.

Auch im heutigen Russland sind Freisprüche vor Gericht praktisch ausgeschlossen, das gilt für rein kriminelle Verfahren wie erst recht für politische. Der Rechtsnihilismus Russlands lässt den fabrizierten Verdacht ohne jede weitere Untersuchung mit der Schuld des Angeklagten in eins fallen; elementare juristische Errungenschaften wie die Unschuldsvermutung, im Zweifel für den Angeklagten, Akteneinsicht für die Verteidigung, überhaupt unabhängige Richter sind in Russlands Justizwesen unbekannt. Die Arbeit der DGO wird durch die Einstufung als „extremistisch“, die bar aller transparenten Kriterien erfolgte, empfindlich getroffen; etliche russische Wissenschaftler müssen um ihre akademische Freiheit, ihre persönliche Sicherheit und gar um ihr Leben fürchten und kündigen vor diesem Hintergrund die Kooperation mit der DGO auf. Dass das russische Regime vor der Ermordung seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner nicht zurückschreckt, hat zuletzt der Tod Alexej Nawalnys in einer Strafkolonie am Polarkreis gezeigt.

Es gibt keine konkreten Beweise, es ist allerdings zu vermuten, dass russische Kräfte hinter dem Hack auf die digitale Kommunikation der DGO stehen. Wahrscheinlich haben die Eindringlinge ein Interesse daran, sensible Daten über das Arbeiten der DGO zu erlangen; sie wollen aber schlicht ihre Macht demonstrieren, die auch vor einer nüchternen wissenschaftlichen Organisation nicht Halt macht. Es ist ein Kennzeichen autoritärer Regime, dass sie die Kommunikation im Land überwachen und jenseits der Grenzen beeinflussen wollen. Jeder Akteur, der eigene Gedanken zum Regierungshandeln publizieren möchte, gerät ins Fadenkreuz der Dienste. Allein dass die DGO in ihren Themenheften Texte publiziert, die der offiziellen russischen Doktrin zum Krieg in der Ukraine widersprechen, reicht aus, um sie aus Sicht der Organe zu einem legitimen Ziel zu machen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob und in welchem Umfang digitale Daten erbeutet werden konnten; allein das Durchlöchern einer Schutzsoftware auf einem fremden Server setzt ein unheimliches Zeichen.

Der Überfall auf die Ukraine hat Russland innerhalb Europas isoliert, Exponenten des Regimes dürfen nicht mehr in die EU einreisen und werden in einigen Fällen gar mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Natürlich kommt unter diesen Umständen auch das wissenschaftliche Leben, das per se auf internationalen Austausch ausgerichtet ist, zum Erliegen; der Hack gegen die DGO ist hier nur der vorläufige Schlusspunkt einer unseligen Entwicklung der hybriden Kriegsführung, die der Kreml virtuos orchestriert. Es wird nach einem Waffenstillstand beziehungsweise einem Friedensvertrag noch lange Zeit dauern, bis wieder normale bis freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Russland möglich sein werden. Bis es so weit ist, sollte betont werden, dass Russland zwar die dominante Größe in Osteuropa ist, nicht aber die einzige. Die nächste Epoche der Osteuropaforschung wird sich bei der Analyse politischer Strukturen von der Frage leiten müssen, was bei der Transformation eines sozialistischen Staates in eine liberale Gesellschaft so dermaßen schief laufen konnte, dass ein autoritäres Regime an dessen Stelle trat.