Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner
Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt.
Verfassung des Freistaates Thüringen, Artikel 70, Absatz 3
Im Parlament steckt das griechische parabolare, was sprechen, reden bedeutet. Im Französischen des 13. Jahrhunderts wird daraus la parole, das Gerede, und parler, also sprechen. Das Abstraktum parlement ist der Vorgang des Sprechens respektive die Besprechung. Im Anglo-Normannischen gewinnt es ab dem 14. Jahrhundert die auch heute noch gültige Bedeutung der Volksversammlung. Zu deren Aufgaben zählen in der normativen Demokratietheorie die Kontrolle der Regierung, die Beratung und Verabschiedung des Haushalts, die Gesetzgebung und, in der Regel zu Beginn der Legislatur, die Wahl des Regierungschefs.
Eine unfreiwillige wie denkwürdige Tragödie zur Verfassungsrealität abseits ihrer Theorie lieferte die vergangene Woche im Thüringer Landtag zu Erfurt. Dieser war im Oktober 2019 neu gewählt worden, unter anderem mit dem Ergebnis, dass die rot-rot-grüne Regierung ihre absolute Mehrheit im Parlament verlor. Gleichwohl handelte der kommissarisch agierende Ministerpräsident der Linken mit den Fraktionen der Grünen und der SPD einen Koalitionsvertrag samt Postenverteilung aus, den er als Anführer einer Minderheitsregierung in reale Politik umsetzen wollte. Blieb nur noch die lästige Formalie seiner Bestätigung im Amt durch den Landtag.
In den ersten beiden Wahlgängen verfehlte der Kandidat der Linken die vorgeschriebene absolute Mehrheit. Im dritten Wahlgang wurde dann zur Überraschung aller Beteiligten der Pro-Forma-Kandidat der FDP mit der (dann ausreichenden) einfachen Mehrheit der Mandatsträger (m/w/d) zum Ministerpräsidenten gewählt, mutmaßlich mit den Stimmen der FDP-, CDU- und AfD-Fraktionen. Nachdem er erklärte, die Wahl anzunehmen, kam es zu Tumulten im Parlament. Abgeordnete der Linken und der Grünen schrien „Heuchler!“, die Fraktionsvorsitzende der Linken warf ihm zur „Gratulation“ den Blumenstrauß, der eigentlich für ihren siegessicheren Parteikollegen gedacht war, vor die Füße. Schockstarre nach einer legalen wie legitimen Abstimmung.
Noch während der Vereidigung des Regierungschefs in spe im Plenum erklärte der Bundesvorsitzende der Grünen im Jargon Josef Stalins, dieses Wahlergebnis müsse „bereinigt“ werden. Keine Stunde später zog die Antifa in zahllosen deutschen Städten tobend vor die Parteibüros der „AfDP“, Twitter lief heiß unter #thüringen, die Kanzlerin ließ ihre Kader während eines Aufenthaltes in Südafrika wissen, dass dieses Wahlergebnis unverzüglich „rückgängig“ gemacht werden müsse. Und die deutsche Presse- und Rundfunkjournaille warf unisono Begriffe wie „Sündenfall“, „Schande“ und „Zivilisationsbruch“ in die Diskursmanege. Der gerade gewählte Ministerpräsident benötigte Polizeischutz, weil Morddrohungen gegen ihn eingegangen waren.
Weshalb diese kollektive Hysterie? Weil diese Abstimmung das Prinzip verletze, in keiner Weise mit der AfD (die in Thüringen zweitstärkste Fraktion im Landtag ist) zusammenzuarbeiten, so die Bundesvorsitzenden der Unionsparteien eilfertig. Da konnte der verdatterte Ministerpräsident der FDP noch so oft beteuern, dass die „Brandmauer“ zur AfD hoch, fest und sicher stehe – im „Kampf gegen rechts“ hatte er sich der Verletzung des Tabus schuldig gemacht, seine Wahl, die ohne Stimmen der MdL der AfD kaum zustande gekommen wäre, zu akzeptieren. Mögen die Parlamentarier (m/w/d) des Thüringer Landtags auch frei gewählt sein, finden sich doch faktisch 23 % von ihnen in der Kaste der Unberührbaren wieder.
Am Tag danach reisten die Parteichefs der FDP und der CDU nach Erfurt, um den seit gerade 24 Stunden amtierenden Ministerpräsidenten (erfolgreich) zum Rücktritt zu drängen, mit Schaum vorm Mund sekundiert von nahezu allen deutschen Presseorganen. Und als wiederum einen Tag später die Kanzlerin zurück im Lande war, warf sie im Stil einer Politbüro-Säuberung den Bundesbeauftragten für die Neuen Bundesländer aus dem Amt. Sein Vergehen: Er hatte dem frisch gewählten Erfurter Regierungschef mit einem Tweet alles Gute für seine anstehende Arbeit gewünscht. Unterm Strich steht nach dem Scherbengericht über dessen politische Existenz nun der absurde Rekord für die kürzeste Amtszeit in einem Exekutivamt in einem deutschen Bundesland zu Buche.
Was hier geschehen ist, kann mit Fug und Recht als Missachtung der elementaren Rechte eines souveränen Parlamentes betrachtet werden. Es entsteht der fatale Eindruck, dass in Deutschland Demokratie bedeutet, dass Wahlen erst dann Gültigkeit beanspruchen dürfen, wenn ihr Resultat den Linken, den Grünen und der Kanzlerin zusagt. Warum gibt sich ein Bundesland Regeln in Form einer Verfassung, wenn diese im Bedarfsfall ignoriert werden? Im Ausnahmezustand dieser Tage zeigt sich unverblümt, wo die totale Macht in der Republik liegt – bei der Spitze der Exekutive in Berlin, die ohne Mandat in Länderfragen ist, aber von der veröffentlichten Meinung keinerlei Widerspruch mehr fürchten muss.
Deutschland ist traditionell groß darin, andere Länder herablassend auf vermeintliche Defizite in der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit hinzuweisen. Von diesem hohen Ross übersteigerter Moral darf es jetzt in Scham und Demut absteigen, auf der internationalen Bühne sollte es erst einmal im Schritttempo das Laufen lernen. Und kämen in Thüringen tatsächlich Neuwahlen auf die Agenda, damit eine Regierungsbildung im Sinne der Kanzlerin ermöglicht werde, wäre es ratsam, vorher die OSZE um die Entsendung von Wahlbeobachtern zu bitten. Denn auf sich allein gestellt, schafft es diese Republik offenbar nicht, ein verblüffendes Wahlergebnis auszuhalten und in ein funktionierendes Miteinander von Parlament und Regierung zu gießen.