Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben für die Schafe. – Joh 10,11
Das neue Kirchenjahr begann nicht gut für die katholische Gemeinde Sankt Stephanus in Münster. Als sei die elende Pandemie mit ihren absurden politischen Zwangsmaßnahmen und zeitweiligen Verboten der Messfeiern nicht bereits Prüfung genug, wurde am 1. Adventssonntag im Gottesdienst ein Brief des Bischofs verlesen, dessen Kernaussage lautete, dass der lokale Pastor zum 1. Juni 2021 in eine andere Gemeinde versetzt werde. Unter den Gottesdienstbesuchern (m/w/d) machten sich Fassungslosigkeit, Wut und Trauer breit, Buhrufe wurden laut, Menschen fielen schluchzend einander in die Arme. Sie wollten partout nicht verstehen, warum der Bischof ihnen ihren Pfarrer, wie sie es empfinden, einfach aus ihrer Mitte wegnimmt.
Auch das konservative und wohlhabende Münster, nach Gläubigen und Finanzen gemessen nach Köln und München das drittgrößte Bistum Deutschlands, wird vom schleichenden Strukturwandel der katholischen Kirche nicht verschont. Der Priestermangel ist so notorisch, dass er schon gar nicht mehr gesondert thematisiert wird. Jahr für Jahr treten deutlich mehr Menschen aus der katholischen Kirche aus, als durch Taufe, Konversion, Zuzug und Wiederaufnahme hinzukommen. Im Jahr 2020 bekannten sich noch 22,6 Millionen Menschen zur römisch-katholischen Kirche, zwei Millionen weniger als noch 2010, Tendenz kontinuierlich fallend. Der lange vertuschte und bis heute nicht sauber aufgearbeitete Skandal um jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester wirkt als Katalysator der Auszehrung.
Ein Versuch, diesem Schwundprozess zu begegnen, ist der sogenannte pastorale Raum. Damit ist das Zusammenlegen mehrerer ehedem eigenständiger Gemeinden zu einer Großpfarrei gemeint, da es sich vielerorts kaum noch lohne, Messen vor einer Handvoll Gläubiger zu feiern. Doch diese angestrebte Effizienzsteigerung seitens der Bistümer stößt nicht überall auf ungeteilte Gegenliebe. Sankt Stephanus wurde 2016 mit drei weiteren Gemeinden am westlichen Stadtrand fusioniert, der jetzt abberufene Pastor (vom lateinischen pastor, Hirte) stand der Zusammenlegung von Beginn an kritisch gegenüber und wollte seine Zeit in der neuen Infrastruktur nicht mit administrativen Dingen verbringen, sondern sich voll auf die Seelsorge konzentrieren. 50 % seiner Zeit widmet er der pastoralen Arbeit in Sankt Stephanus, 50 % lehrt er katholische Religionslehre an einer benachbarten Schule.
Dieser charmante Priester mit der Figur eines Basketballers, Mitte 50, ist erst der dritte Pastor der 1965 geweihten Kirche Sankt Stephanus. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2003 hat er das bis dahin lahmende Gemeindeleben regelrecht auf Trab gebracht. Die Jugendarbeit boomt, manche Messe wird von einem Defilee von acht und mehr Messdienern (m/w/d) eröffnet, alte Menschen kommen nach Jahren der Abstinenz wieder zum Gottesdienst, der Kirchraum öffnet sich regelmäßig für Konzerte, der Pastor mit den Qualitäten eines Gastgebers verfügt über eine reine Tenorstimme, der man das Studium der Kirchenmusik vor der Priesterweihe anhört. Sankt Stephanus in der nah der City gelegenen Aaseestadt mit ihren vielen jungen Familien zählt im ganzen Bistum Münster zu den lebendigsten Gemeinden voller Engagement und gelebtem Glauben.
Dieser Umstand erklärt die tiefe Verwundung der Gemeinde durch den Entschluss des Bischofs, ihren Hirten zum kommenden Sommer zu versetzen. Binnen weniger Tage wurden 1.000 Unterschriften gegen die bischöfliche Entscheidung gesammelt, die Leserbriefseite der lokalen Zeitung war den ganzen Advent über gefüllt mit Stellungnahmen getroffener Gemeindemitglieder, eine eigens eingerichtete Webseite dient der Dokumentation, der Vernetzung und der Lobbyarbeit. Eine Konstante lässt sich problemlos in den zahlreichen Äußerungen ausmachen: Die Menschen fühlen sich regelrecht vor den Kopf gestoßen ob der Entscheidung des Bischofs, der diese mit keinem Wort begründete. Erst nach einem Protestzug Mitte Dezember zum Domplatz ließ er sich zum Hinweis herbei, er könne nicht auf die Befindlichkeit einer einzelnen Gemeinde Rücksicht nehmen, sondern müsse das große Ganze im Blick haben.
Der kühle Technokrat auf dem Münsteraner Bischofsstuhl hat die Situation in Sankt Stephanus kommunikativ katastrophal falsch eingeschätzt. Die Identifizierung der Menschen mit ihrer Kirche und ihrem Pfarrer hat er bei allen denkbaren Überlegungen zu seinem Entscheid schlicht ignoriert, mit ihrem fantasievollen Widerstand hat er definitiv nicht gerechnet. Angesichts der chronischen Krise der katholischen Kirche in Deutschland täte ein partizipativer Führungsstil im Bistum not – stattdessen wird wie im 19. Jahrhundert ex cathedra entschieden, die zahlreichen Laieninitiativen von Maria 2.0 bis zum Eckigen Tisch kommen in des Bischofs Realität nicht vor. Der betroffene Pastor ist in einer misslichen Lage. Einerseits hat er nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gern in Sankt Stephanus bliebe, andererseits ist er treuer Diener seines irdischen wie himmlischen Herrn und tut, was die Vorsehung von ihm verlangt.
Kirche meint nicht nur das Gebäude mit dem Altar, dem Ambo, dem Taufbecken und den Bänken, sondern auch die Menschen, die in der Summe die Gemeinde formen, vom Papst über den Kardinal bis zur Lektorin und den Ministranten. Es gibt keine Institution der Gegenwart, die auf eine ähnlich lange Tradition wie die katholische Kirche zurückblicken könnte. Der Gehorsam gegenüber Gott und der Schrift, aber auch gegenüber den Vorgesetzten in der Hierarchie ist Teil ihrer apostolischen DNS. Rein arbeitsrechtlich kann ein Bischof seine Priester in seiner Diözese verschieben wie der Großmeister seine Figuren auf dem Schachbrett. Die Schafe aka Gemeindemitglieder aber sehen ihre Institution durch die Person ihres Hirten repräsentiert, er ist Teil ihres Lebens; mit ihm gehen sie – idealerweise – durch Krisen und Freuden, schließen vor ihm die Ehe, nehmen sich ins Gebet, beichten ihre Sünden und überlassen ihm ihr Begräbnis. Ohne gegenseitiges Vertrauen ist eine Glaubensbeziehung illusorisch – die Schafe müssen ihrem Hirten folgen wollen.
Nach nun sieben Wochen hat der Bischof offenbar eine Ahnung vom Flurschaden bekommen, den er mit seiner wegwerfenden Art unter den Gemeindemitgliedern (und Kirchensteuerzahlern) angerichtet hat. In einem Akt der Schadensbegrenzung hat er nun eine kleine Delegation der Gemeinde zu einem Gespräch ins Generalvikariat eingeladen. Nach den anstrengenden Wochen des Advent über Weihnachten und Neujahr bis zu Dreikönig kann es jetzt nur darum gehen, die Gemeinde ernstzunehmen, ihre Fragen zu beantworten und zu begründen, warum ausgerechnet ein beliebter Pastor, der das Wachstum von Sankt Stephanus maßgeblich in Gang gesetzt hat, ans andere Ende der Stadt verpflanzt wird. Auch wenn diese Entscheidung vom Bischof kaum rückgängig gemacht werden wird, hat er doch die Chance, sich den Menschen dieser Gemeinde ebenfalls als Schäfer zu präsentieren. Dazu muss er zuhören, verstehen, nachfragen, vergeben. Viel Zeit bleiben ihm und der Kirche nicht mehr.