Das erste, was Kerstin an der Grundschule im grünen Westend auffiel, war der Lärm. Sie kam während der großen Pause zu ihrem ersten Termin, auf dem weiten Schulhof tobten unzählige Kinder und schrien dabei in einer Lautstärke, die ihnen nichts anzuhaben schien, die Kerstin aber wie eine Ohrfeige traf. Im hohen Treppenhaus, von dem die Gänge zu den Klassen und zum Verwaltungstrakt abgingen, tönten die schrillen Stimmen etwas gedämpft, sie waren aber noch als Hintergrundkreischen zu vernehmen. Zwei Kinder stürmten lachend die Stufen hinunter und rannten beinahe in Kerstin hinein; einen Augenblick vorher sprangen sie leicht zur Seite auf die nächste Stufe, behender, als es Artisten im Zirkus je könnten.
Im Sekretariat wurde sie freundlich empfangen und bekam gar eine Tasse Kaffee angeboten. Nach der Pause sollte sie mit der Klassenlehrerin in eine Klasse gehen, wo es für etliche Kinder einen besonderen Förderbedarf gab. Hinter dieser pädagogisch verschleiernden Formel verbarg sich der Umstand, dass jene Kinder nicht imstande waren, einem altersgemäßen curriculumsgestützten Unterricht im Sinne einer Wissensvermittlung zu folgen. Sie saßen in der Klasse und konnten das, was die Lehrerin an der Tafel erklärte, partout nicht verstehen. Sie vergrößerten dergestalt ihre Lücken, konnten keine Aufgaben lösen, beteiligten sich nicht an den Unterrichtsgesprächen und saßen still an ihrem Platz oder aber riefen unvermittelt in die Klasse hinein, dabei die anderen störend. Diese Kinder mit besonderem Förderbedarf sollten Lesen, Rechnen und Schreiben lernen, was sie in ihrem Alter eigentlich längst können müssten, aus verschiedenen Gründen aber nicht konnten.
Vor zwei Monaten war Kerstin bei einer Informationsveranstaltung in einem Bürogebäude in der Innenstadt gewesen, angeleitet von einer älteren Dame mit friedhofsblondem Pagenschnitt, die sie als ehemalige Schulsenatorin erkannte. Es ging um das Anwerben sogenannter Lesepaten durch den Senat, die die hauptamtlichen Lehrkräfte ehrenamtlich unterstützen sollten. Zu heterogen die Klassen bereits in der Grundschule, als dass ein Unterricht nach Lehrplan mit allen Kindern möglich wäre, so der einleitende Befund. Manche Kinder bräuchten mehr Zeit, Ruhe und Aufmerksamkeit, um die elementaren Fertigkeiten zu erlernen, zu üben und zu verinnerlichen; vorher sei an einen weiteren Wissenserwerb nicht zu denken. Dies sollten nun die neuen Lesepaten leisten, die parallel zum eigentlichen Stundenplan mit den ausgewählten Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen üben sollten.
Kerstin konnte die erforderlichen drei bis vier Stunden pro Woche an Zeit aufbringen, um diese pädagogische Aufgabe zu leisten. Sie bekundete ihr grundsätzliches Interesse an dieser ehrenamtlichen Arbeit und stimmte zu, dass die Schulverwaltung ein erweitertes Führungszeugnis für sie beantragte. Das „erweitert“ deutete darauf hin, dass sie mit besonders schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen arbeiten sollte; hier schaute die Polizei beim Ausstellen eines Führungszeugnisses besonders streng hin. Konkrete pädagogische Erfahrungen oder gar eine einschlägige Ausbildung seien nicht erforderlich, so hieß es während der Informationsveranstaltung, entscheidend seien Geduld, Aufmerksamkeit und natürlich Freude am Umgang mit Kindern. Kerstin konnte all das aufweisen und sah sich gut gerüstet für ihre bevorstehende Arbeit als Lesepatin. Als solche sollte sie nun ehrenamtlich das ausgleichen, was den hauptamtlichen Lehrkräften im Regelunterricht versagt blieb – ein bemerkenswertes Eingeständnis einer in Teilen gescheiterten Schulpolitik.
Die Kinder im Grundschulalter hatten für diese Zusammenhänge natürlich noch keine Begriffe. Kerstin stand mit der Klassenlehrerin vor einer Klasse von vielleicht dreißig Schülern, für ihr Gefühl zu viele für eine Lehrkraft. Die Kinder redeten laut durcheinander, liefen zwischen den Tischen und Stühlen umher und waren kaum zu bändigen. Schließlich stellte die Klassenlehrerin die neue Patin vor und nannte den Namen eines Schülers, der in der heutigen Stunde separat mit ihr Rechnen üben sollte. Kerstin war vorab über den Jungen informiert worden, ein Flüchtlingskind aus dem Kaukasus mit unklarer, aber sicherlich unvollständiger Schullaufbahn, mit ordentlichen Deutschkenntnissen, aber in Mathematik mindestens zwei Klassen hinter dem Stoff zurück. Außerdem war er bereits zwölf Jahre alt und damit runde zwei Jahre älter als seine Mitschüler. Kerstin stellte sich lächelnd vor und ging mit dem Jungen in einen leerstehenden Unterrichtsraum, wo ihr privates Kolloquium, wie sie es insgeheim nannte, beginnen konnte. Sein Name war Shakyar.
In ihrer eigenen Schulzeit gehörte Mathematik keineswegs zu ihren bevorzugten Fächern, ihre Leistungen waren seinerzeit durchwachsen, ihr Herz gehörte definitiv den sprachlichen Fächern. Allerdings konnte sie die Aufgabe, den Jungen in der schriftlichen Addition dreistelliger Zahlen zu unterweisen, locker bewältigen. Sie schrieb die Zahl 366 an die Tafel und darunter die Zahl 403, sodann forderte sie Shakyar auf, die Regeln der schriftlichen Addition zu erklären und im konkreten Fall anzuwenden. Kerstin legte das Kreidestück auf das Pult und sah dem Jungen erwartungsvoll ins Gesicht. Als er mit der Antwort zögerte, fragte sie nach, ob er die Grundrechenarten bereits durchgenommen und verstanden hätte. Shakyar blieb stumm und nuschelte dann etwas, was Kerstin nicht verstand. Gut, entgegnete sie, dann lösen wir die Aufgabe gemeinsam. Wir zählen die beiden Ziffern ganz rechts zusammen, was ergeben 3 und 6? Shakyar sagte, ohne lange zu überlegen, 9. Ja, genau, lobte Kerstin und schrieb die 9 unter den Strich unter den beiden Zahlen. Und weiter, fragte sie, wieviel sind 0 und 6? Shakyar lächelte und meinte, 6 natürlich. Eben, lächelte Kerstin und schrieb die Zahl an ihre Stelle. Bleiben noch 4 und 3, ermunterte sie den Jungen – 7, war seine selbstbewusste Antwort. Also ist die Summe der beiden Zahlen 769, schloss Kerstin für ihn.
Kerstin schrieb die nächste Aufgabe an die Tafel: 704 + 68 + 599, eine Stufe schwieriger. Beiläufig erwähnte sie, dass die Ziffern, mit denen sie gerade rechneten, ursprünglich aus dem Arabischen stammten. Shakyars Augen leuchteten, das ganze Gesicht wurde wach und er fragte, ob das auch stimme. Bei der Lösung der Rechenaufgabe an der Tafel tat er sich zwar schwer, fand aber mit Kerstins Hilfe die Lösung, die er auf Kerstins Bitte in sein Schulheft eintrug, während sie die Ziffern groß an die Tafel schrieb. Sie freute sich über seinen Erfolg, über seine Lernbereitschaft und seinen Fleiß, allerdings war ihr klar, dass er in der Mathematik weit hinter dem Stoff seiner Altersklasse zurücklag; längst sollte er Brüche addieren und multiplizieren können, von der Lösung von Textaufgaben nicht zu reden. Und da sollten ein paar Nachhilfestunden parallel zum eigentlichen Unterricht das Versäumte nachholen helfen?
Nach der kurzen Pause ging sie mit Cara, einem achtjährigen Mädchen, in die Bibliothek der Schule. Die Kleine konnte, so die Vorabinformation, grundsätzlich lesen und das Gelesene verstehen, allerdings fehlte es ihr an Übung, vor allem bei der Aussprache. Kerstin fragte Cara, ob sie denn ein Lieblingsbuch oder eine Lieblingsfigur hätte; auf das schüchterne Kopfschütteln fragte sie weiter, ob sie vielleicht etwas über Bienen und Honig lesen wollte. Zögerlich stimmte das Mädchen zu und schlug das bebilderte Buch auf, das Kerstin vor ihr auf das Pult gelegt hatte. Der Text war in Großdruck versehen, maximal drei bis vier Sätze pro Seite, dazu Illustrationen zum Geschriebenen. Kerstin las den ersten Satz langsam und deutlich vor und ermunterte Cara, ihn zu wiederholen. Das Mädchen schien die einzelnen Silben der Wörter zu erkennen, artikulierte sie aber nicht als eine Sinneinheit, sondern reihte sie monoton aneinander. Am Ende eines erkämpften Satzes sagte Kerstin, das sei doch schon sehr gut gewesen, ob sie es nun mit dem zweiten Satz des Textes versuchen wolle.
Immerhin saß das Mädchen ruhig auf seinem Stühlchen, Kerstin kauerte daneben. Caras Mund formte die Buchstaben korrekt, allerdings nicht immer die Betonung und den Rhythmus des kurzen Satzes in seiner elementaren Grammatik treffend. Es schien Kerstin, dass sie mit jedem neuen Wort das Lesen lernen würde. Schließlich ging die Lesepatin daran, selbst den Satz vorzulesen, auf dass Cara ihn wiederhole. Das Mädchen nickte unsicher, ließ sich aber auf den Vorschlag ein. Es war nicht die fehlende Kenntnis der Aussprache einzelner Buchstaben und Silben, die es ihm so schwer machte, die Übersetzungsleistung des Geschriebenen ins Gesprochene schien solch ein Hindernis zu sein. Als Kerstin die Kleine aufforderte, das gerade Gelesene in eigenen Worten zu wiederholen, las sie einfach den Satz erneut ab, monoton wie gehabt. Schließlich rundete Kerstin diese Stunde ab mit der Übung, einfach die Bilder im Text zu beschreiben, also Personen und Objekte, Farben und Formen zu benennen. Als der Gong ertönte, hatte Kerstin den Eindruck, Cara sei erleichtert über das Ende der Stunde.
Auf dem Nachhauseweg dachte Kerstin über die eigene Kindheit und Schulzeit nach. Zu Hause waren Zeitungen und Bücher zugänglich, ihre Mutter las ihr und der kleineren Schwester regelmäßig vor, aus Bilderbüchern, Schulheften, kindgerechten Geschichten und später aus der Bibel. Sie war ohne große Schwierigkeiten durch die Schulzeit gekommen, hatte früh Freude am Lernen entwickelt und wurde obendrein vom Vater, einem Lehrer, zu schulischer Disziplin angehalten. Was sie nun an der Grundschule erlebte, hatte mit ihren eigenen Erfahrungen nicht viel gemein. Sie hatte den unbestimmten Eindruck, dass unter den Kindern bereits zwischen sechs und zehn Jahren eine heimliche Selektion stattfand über ihre Chancen im späteren Leben. Wer bereits in der Grundschule gravierende Defizite im Stoff offenbarte, würde diese in den folgenden Jahren nur erweitern. Natürlich war es ehrenwert, als Lesepatin die Kleinen zu unterstützen und an ihren Schwächen zu arbeiten. Ob das allerdings die grundlegende Misere der Bildungsspaltung in frühen Jahren aufheben könnte?