Paula

  Das Gefühl der Freiheit ist eines der größten Geschenke, die einem das Laufen geben kann. – Heather L. Reid

30:01. Dreißig Minuten und eine Sekunde. Bei dieser Zeit bleibt die digitale Stoppuhr im Stadion stehen, als Paula Radcliffe nach 25 Runden durchs Ziel läuft. Wer am Abend des 6. August 2002 den 10.000-Meter-Lauf der Frauen im Rahmen der Leichtathletik-Europameisterschaften verfolgte, ob im Stadion in München oder am Fernseher daheim, wurde Zeuge einer kaum fassbaren Überlegenheit der Siegerin. Paula Radcliffe dominierte das Weltklassefeld von der ersten Runde an und lieferte einen Start/Ziel-Sieg ab, der zu keiner Zeit in Zweifel stand. Das Rennen von München zählt zurecht zu den goldenen Momenten in der Geschichte des Sports.

An diesem Sommerabend kommt wirklich alles zusammen (das Rennen ist auf YouTube in exzellenter Qualität abzurufen). Als die 29 Läuferinnen nach Sonnenuntergang konzentriert und leicht bibbernd im kurzen Dress am Start stehen, regnet es bereits ordentlich. Das anfangs kühlende Wasser klatscht im Verlauf des Rennens immer heftiger und wird schließlich unangenehm kalt. Die versprengten Zuschauer unter dem legendären Zeltdach von Günter Behnisch kauern unter ihren Regenschirmen, die Kameraleute und Funktionäre auf dem Rasen sind durch transparente Planen notdürftig geschützt. Auf der Tartanbahn sammelt sich das Wasser in Pfützen, in denen sich das Licht der Scheinwerfer spiegelt. Bereits auf den ersten Metern setzt sich Paula Radcliffe, die Favoritin auf die Goldmedaille, an die Spitze und macht deutlich, dass der Sieg nur über sie gehen wird.

Paula Radcliffe wird 1973 in Northwich in der britischen Grafschaft Cheshire geboren. Das sportbegeisterte Kind kommt schnell zum Laufen und wird von den Eltern früh gefördert. Vom Crosslauf wechselt sie auf die Langstrecke und zählt rasch zu den besten Läuferinnen Großbritanniens. Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt sie an internationalen Wettkämpfen teil. Großen Erfolgen stehen dramatische Einbrüche und Aufgaben entgegen. So gewinnt sie die Marathonläufe in London (2002, 2003, 2005) und New York (2004, 2007, 2008), bleibt aber bei den Olympischen Spielen (Atlanta 1996, Sidney 2000, Athen 2004 und Peking 2008) auf der Bahn und auf der Straße ohne Medaille. Sie holt 2003 den Weltrekord im Marathon, der bis 2019 Gültigkeit behält. Ihre Siegeszeit von München 2002 bleibt bis 2020 auch Europarekord. Die zweifache Mutter (Geburt der Kinder 2005 und 2010) und studierte Europawissenschaftlerin tritt 2015 vom Profisport zurück.

Paula Radcliffe hält sich nicht mit Taktieren und Abwarten auf. Sie läuft ihre Rennen stets von der Spitze her, ist ihre eigene Tempomacherin und vertraut ihrem Durchhaltevermögen, so auch in München. Sie gilt als nicht besonders spurtschnell auf den letzten 500 Metern, die sie schon manche Medaille gekostet haben. Ihr Laufstil ist reichlich unökonomisch, der Kopf nickt immer leicht nach unten wie der Schnabel eines Vogels, jeder stampfende Schritt wird mit ruckenden Schulterbewegungen verstärkt, dazu ein Gesichtsausdruck zwischen Lachen und Grimassieren. An diesem Abend setzt sie mit ihrem mutigen Angriff nicht nur klar auf Sieg, der anfängliche Rundenschnitt von 71 Sekunden lässt zudem vermuten, dass sie eine Zeit von unter 30 Minuten anpeilt. Nach vier Runden hat sie bereits ein Loch von zwanzig Metern zum Feld gerissen, nur zwei Läuferinnen können ihren Schritt gerade halten. Nach zwei Kilometern läuft Paula dann allein, Sonia O’Sullivan und Fernanda Ribeiro sind schon zehn Meter zurück, ohne das Tempo mitgehen zu können. Der Langstreckenlauf wird zum Ausscheidungsrennen.

Bei einer Größe von 1,73 m und einem Wettkampfgewicht von 54 kg ist sie ein Kraftwerk der Langstrecke. Mit jedem Schritt, der einem kleinen Sprung gleicht, schafft sie weit über einen Meter, sie läuft auf dem Mittelfuß und stößt sich kraftvoll ab. Die Kulisse des schütter besetzten Olympiastadions, durch das unverstanden einzelne Lautsprecherdurchsagen wehen, wirkt gespenstisch, die vereinzelten Fans im weiten Rund wohnen einer Machtdemonstration ohne Beispiel bei. Nach 9 Runden hat Paula die erste Konkurrentin überrundet, typisch für Stadionläufe. Die an der Laufhose befestigte Nummer löst sich im Regen ab und fällt zu Boden. Nach der 12. Runde hat sie die nächste Läuferin eingeholt, die einzelnen Gruppen des Feldes schieben sich ineinander, die Schiedsrichter geben visuelle Zeichen, welche Athletin noch wie viele Runden vor sich hat.

Radcliffe muss beim Überholen immer wieder auf die äußere zweite Bahn ausweichen, damit verlängert sich ihre Laufstrecke beträchtlich; nur selten machen ihr die Abgehängten Platz. Es entsteht der groteske Eindruck, dass die Konkurrentinnen genüsslich traben, während sich Paula leichtfüßig Richtung in Ziel und vor allem Zeit treibt. Der Weltrekord der Frauen über die 10.000 Meter steht bei 29:31 Minuten, doch liegen über der Leistung der Chinesin Wang Junxia von 1993 schwere Dopinganschuldigungen. Paula Radcliffe wird während ihrer ganzen Karriere nie mit Doping in Verbindung gebracht, man kommt eher zur Vermutung, dass sie mit ihren gewaltigen Kräften nicht immer klug haushält, zu fahrig regeneriert und sich Verletzungen durch ein Übertraining zuzieht. Fernanda Ribeiro ist mittlerweile entgeistert aus dem Rennen ausgestiegen, Sonia O’Sullivan liegt weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz, ihre einzige Hoffnung ist ein Einbruch der Führenden auf der letzten Meile. Paula dreht sich kein einziges Mal um, ihre Haut glänzt vor Schweiß und Regen.

Im Stadion sind etliche Kameras im Einsatz, um das Geschehen zu dokumentieren. Mehrere für die Totale von der Tribüne, eine im Ziel die Gerade entlang, eine auf Schienen am Außenrand der Laufbahn, zudem hängen Hochkameras an Kränen über den Kurven. Speziell von oben betrachtet wird deutlich, dass auch die anderen Läuferinnen schnell auf der Bahn sind, allerdings läuft Paula ihr eigenes einsames Rennen ohne Gegnerinnen. Sie scheint sich selbst immer wieder anzufeuern, sie sieht natürlich auf der Anzeige die bisher verbrauchte Zeit und kann im Kopf die Tabelle zur projektierten Zielzeit abrufen. Ginge es ihr nur um die Goldmedaille, könnte sie es gemächlicher angehen lassen, doch sie jagt die magische Grenze der 30 Minuten. Sie kann sich im letzten Drittel des Rennens an den perspektivisch vor ihr laufenden Athletinnen orientieren und sich die verbleibende Strecke dergestalt einteilen. Das mag ihr die letzte Luft geben, ihr mörderisches Tempo auf der nassen Bahn zu halten.

Beim Laufen auf der Straße etwa beim Marathon wird die Ideallinie durch eine farbige Markierung festgehalten, damit keine Athletin mehr laufe als notwendig. Die 10.000 Meter im Stadion bemessen sich auf der Innenbahn, eine Runde beträgt dann offiziell 400 Meter. Die sich im letzten Abschnitt des Rennens häufenden Überholmanöver verlängern nicht nur Paulas Laufstrecke, sie sind auch jedes Mal mit einem leichten Rhythmuswechsel und damit Kraftverlust verbunden. Ihr Ehemann und Trainer im Stadion feuert sie laut schreiend an, als es auf den letzten Kilometer geht, die beiden britischen TV-Reporter sind versucht, es ihm gleichzutun. Die entfesselte Paula kann auf der letzten Runde das Tempo nicht mehr signifikant erhöhen, am Ende sprintet sie nach 30:01 Minuten durchs Ziel. Diese Bruttozeit ergibt einen Rundenschnitt von 72,04 Sekunden je 400 Meter.

Nach 47 Sekunden, die das Gewicht eines Augenblicks der Ewigkeit erhalten, kommt Sonia O’Sullivan als Zweite ins Ziel, sie läuft irischen Rekord; auch die Dritte und Vierte, Lyudmila Biktasheva aus Russland und Michaela Botezan aus Rumänien laufen persönliche Bestzeiten. Doch bei der grandiosen Radcliffe-Show bleibt diesen Spitzensportlerinnen die undankbare Rolle der Statistinnen, vor der sich die sagenhafte Leistung der Siegerin besonders abhebt. Im nassen Inferno von München kann Paula Radcliffe ihr perfektes Rennen gegen sich und die Elemente auf die Bahn bringen, ihre Entschlossenheit, ihre Disziplin und ihre Energie lassen ihre Goldmedaille dabei so zwangsläufig aussehen. Und dass ihre Nettozeit weit unter der angezeigten liegt, weiß sie genauso gut wie ihr Trainer, die Journalisten und das Publikum. Sie ist so schnell gelaufen, weil es anders nicht ging. Auch das ist Freiheit, unwiederbringlich. Mit diesem Lauf bleibt Paula als eine große Langstreckenläuferin in Erinnerung. Die Amateurin darf sie sich bei ihrer nächsten Runde im Wald ruhig zum Vorbild nehmen. Laufen ist Leben, alles andere ist Warten.