Pendel

An seiner höchsten Stelle in der Laterne über der Vierung misst der Raum 29 Meter. Das Objekt, das alle Blicke auf sich zieht, schwebt konstant vier Zentimeter über dem Boden und hat bei einem Durchmesser von 22 Zentimetern ein Gewicht von 48 Kilogramm. Mithilfe eines Magneten wird die Kugel aus matt poliertem Edelstahl, die an einem dünnen Stahlseil von der Kuppel herabhängt, in dauernder Bewegung gehalten. Die Amplitude beträgt räumlich etwa vier Meter, zeitlich etwa einen tiefen Atemzug. Hin und her und hin und her und hin und her und hin und …

Kaum betritt die Besucherin die 2017 profanierte Dominikanerkirche im Herzen der Fußgängerzone im westfälischen Münster, ist sie gebannt von der klinisch reinen Installation „Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel“ des Malers Gerhard Richter. Unterhalb der unablässig schwingenden Kugel, wo einst der Altar als Nukleus der Liturgie stand, liegt eine kreisrunde, minimal konkave Platte aus Grauwacke, einem uralten Sedimentgestein. Der Außenrand der schiefergrauen Platte ist in 360 Grade skaliert. An den Seitenwänden der ansonsten leeren Basilika sind zwei sechs Meter hohe Doppelglasplatten montiert, deren Grauwert das Geschehen rund um die Mitte spiegelt und zugleich absorbiert.

Der französische Physiker Léon Foucault hatte 1851 mit der nach ihm benannten Pendelkonstruktion im Pariser Panthéon experimentell die Drehung der Erde um die eigene Achse nachgewiesen und damit den Beweis für das heliozentrische Weltbild geliefert. Die katholische Kirche hatte dieses astronomische Modell jahrhundertelang über jeden nachvollziehbaren Punkt hinaus bekämpft und dabei nicht gezögert, seinen Theoretikern mit dem Scheiterhaufen zu drohen. Es ist ein Akt nachholender Genugtuung, dass das Pendel Gerhard Richters nun in der entweihten Dominikanerkirche hängt und die Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Theologie aufhebt.

Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren und seit Jahrzehnten in Köln lebend und arbeitend, ist einer der am höchsten gehandelten Künstler der Gegenwart, er ist mit seinen Gemälden in allen renommierten Museen und Sammlungen der Welt vertreten. 2007 schenkte er seiner rheinischen Wahlheimat ein Glasfenster im weltbekannten gotischen Dom, im Sommer 2018 vermachte er dem katholischen Münster seine Interpretation des Foucaultschen Pendels. Das Grau der oppositionellen Glasplatten hat ihm zufolge „schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus, es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar; es ist wie keine andere Farbe geeignet, nichts zu veranschaulichen.“

Wer lange genug das Pendel (vom lateinischen pendulum = Schwinggewicht) im Vor und Zurück verfolgt, wird bemerken, dass es entlang der Ziffern auf der Platte wie der Zeiger einer Uhr zu wandern scheint. Dabei unterliegt die Besucherin einer Täuschung: Denn das Pendel verändert seine Schwungrichtung keineswegs, auch wenn es so aussieht – es ist vielmehr der Raum, der sich im Verhältnis zum Pendel langsam dreht, und mit ihm der Boden, das Gebäude, die Menschen, die Stadt und der Planet, als Wirkung der Corioliskraft. Dergestalt wird die sinnlich nicht erfahrbare Erdrotation nachweisbar.

Abseits dieser physikalischen Entzauberung menschlicher Hybris („Ich bin der Mittelpunkt der Welt, die vollumfänglich für mich da zu sein hat!“), entfaltet das Pendel einen hypnotischen Sog. Die Besuchenden verlangsamen unweigerlich ihren Schritt, verharren in kindlicher Überraschungsbereitschaft, setzen sich auf bereitgestellte Stühle und folgen dem Schweigen des melonengroßen Körpers, ein Lächeln auf den Lippen und ein Glänzen in den Augen. Die Wiederholung im Raum nimmt keinen Anfang und nennt kein Ziel, sie geschieht geräuschlos und produziert keine sinnvolle Energie – und stiftet deshalb Heiterkeit und Kontemplation.

Mag die Stahlkugel das Zentrum der Skulptur sein, das beschwörend auf die Nerven wirkt, gehören die leicht geneigten Glasplatten notwendig dazu. In ihnen spiegelt sich der matte Silberton des Pendels, der seinerseits das dumpfe Anthrazit des emaillierten Glases reflektiert. Die umher schlendernden Anwesenden verändern permanent das Bild, das die Spiegel in den Raum werfen. Als weitere Variable kommt die Perspektive der Betrachterin im Spiel hinzu; je nach Entfernung zum Objekt lehnt sie sich an eine Säule, geht in die Hocke oder legt den Kopf in den Nacken. Am Standort Münster benötigt die Erde für eine volle Umdrehung etwa 30 Stunden. In welcher Einheit misst man die Ewigkeit?

Dass der leere Raum zur Fülle neigt, ist eine der zeitlosen Paradoxien des Zen sowie der ignatianischen Exerzitien. So ist die wohl proportionierte barocke Architektur mit ihrem sich im Tagesverlauf wandelnden Licht unabweisbar Element des Arrangements. Die christliche Religion kann im 21. Jahrhundert nicht länger den Anspruch der Welterklärung aufrechterhalten, den haben ihr die Naturwissenschaften längst genommen. Aber im Zelebrieren von Geheimnissen macht der katholischen Kirche niemand etwas vor. Und wenn sie sich dazu mit der Kunst paart, kommt sie der Glückseligkeit ganz nah.