Platz

Wenn Kerstin dieser Tage mit dem Rad ins Büro fährt, ist vieles anders. Ihr kommt es beim Fahren so vor, als seien die Straßen breiter, als habe sich die Stadt surreal ausgedehnt. Es sind die nur noch wenigen Autos und Menschen auf den Straßen, die diesen Eindruck erzeugen. Jetzt, wo im Zuge der Corona-Krise die öffentliche Mobilität erheblich eingeschränkt ist, wird so schlagend deutlich, wie sehr im bisherigen Alltag Stadt und Land im blechernen Griff der Autos sind.

Wenn sie morgens das Haus verlässt, vernimmt sie kein Dauerdröhnen der Motoren von der Chaussee wie sonst. Sie hört vielmehr die Vögel singend den Frühling begrüßen und atmet dieselbereinigte Aprilluft. Auf den Radwegen spürt sie über die straff gepumpten Reifen jede Rille im Pflaster, jetzt haben ihre Sinne Gelegenheit, intuitiv auf solche Details zu achten. Im Stadtverkehr ist ihre ganze Aufmerksamkeit üblicherweise von den rollenden Blechwannen absorbiert, die den öffentlichen Raum zu ihrem Terrain erklärt haben. In der Corona-Krise liegt es nahe, den urbanen Platz als öffentliches Gut neu zu denken und zu verteilen.

Der „Platz“ wurzelt etymologisch im griechischen plateia, dem breiten Weg, der freien öffentlichen Fläche in der Stadt. Zur modernen Stadt gehört identitär der Platz, meist in der Mitte, als nicht bebauter Raum, als Ort der Begegnung und des Verweilens sowie als Knotenpunkt des Verkehrs. Um den Krasnaya Ploshchad, die Place de la République, den Trafalgar Square und den Petersplatz gruppieren sich historisch gewachsen ikonische Gebäude des Handels, der Macht, der Bühne und der Anbetung. In der autogerechten Stadt der Nachkriegszeit verkommt der einst belebte Platz zur Straßenkreuzung, auf der Autos sich selbst im Stau stehen.

Die ungleiche Verteilung des Platzes in deutschen Städten wird beim aktuellen Gebot des Abstandhaltens deutlich. Fußgänger tun sich angesichts der Breite des Trottoirs schwer, die geforderten 1,5 m Distanz zueinander zu halten, die Radwege sind spätestens beim Ampelstopp an der Kreuzung ebenfalls Orte der Ballung der Individuen. Einzig im privaten Blechkäfig ist man in Gesellschaft nur der eigenen Mikroben und beansprucht dabei überproportional viel Fläche für sich allein. Was zu normalen Zeiten bei immer größer und schwerer werdenden PKW schon asozial ist, wird im Ausnahmezustand potentiell lebensbedrohlich, wenn sich Menschen kaum noch ausweichen können. Wann, wenn nicht jetzt, ist es hohe Zeit für eine Neuverteilung des öffentlichen Raumes?

Corona wirkt in diesem Zusammenhang nicht wie eine Zündkerze, sondern eher wie das nächsthöhere Ritzel der Transformation der Metropolen. Stadtplaner (m/w/d) in Europa und Nordamerika haben schon seit der Milleniumswende damit begonnen, die autoerstickten Innenstädte zu entlasten. Der Seine-Quai in Paris gehört wieder den Bouquinisten, der Times Square in New York den Kaffeetrinkern, der Triumfalnaya Ploshchad in Moskau spielenden Kindern, die Nørre Voldgade in Kopenhagen den Fahrrädern und Passanten. Vorab geäußerte Bedenken, derlei autoverkehrsberuhigende Maßnahmen führten zur Verödung der City, haben sich nicht bestätigt – im Gegenteil, dergestalt werden die Herzen der Städte zu Orten für Menschen (Jan Gehl).

Der Platz, den ein Mensch in der Stadt zur Verfügung hat, bemisst sich nicht nur an der Größe seiner Wohnung oder dem Zuschnitt seines Arbeitsplatzes, er zeigt sich ebenso im Ausmaß kollektiver Flächen für die Erholung, die Kultur, den Konsum und die Mobilität. Dass dicht bebaute und versiegelte Städte ein ungesundes Mikroklima erzeugen, wird heute in der Stadtplanung nicht länger bestritten. Breite Straßen und Stadtbäume im Verein mit großen Plätzen sorgen für den unverzichtbaren Luftaustausch in der Stadt, dem Lebensraum für immer mehr Menschen. Die einseitige Priorisierung des Autoverkehrs in Deutschland ist vor diesem Hintergrund überholt; an ihre Stelle muss die Umwidmung von Fahrspuren und Parkplätzen zu Radwegen, Bürgersteigen und Grünstreifen treten, wie es in Dänemark, Finnland, den Niederlanden und der Schweiz schon Usus ist.

Kerstin biegt von der Straße in den Park, der mitten im Stadtzentrum auf ihrem Arbeitsweg liegt. Sie hört das Knirschen der Pneus auf geschotterten Wegen, die Zweige der Bäume sind gescheckt von den Knospen, die beim nächsten warmen Tag aufplatzen werden. Die Sonne, in die Kerstin nun blickt, steht schon beträchtlich hoch am Himmel, noch fehlt ihr die wärmende Kraft. Neben ihr trainieren Läufer (m/w/d) für den nächsten Marathon, permanent kreuzen etliche andere Radfahrer ihren Weg. So fühlt es sich an, wenn die Avantgarde auf zwei Rädern die Verkehrswende vorantreibt. Als Angehörige einer systemrelevanten Branche dürfen Fahrradläden weiterhin geöffnet bleiben.

Der Weg im Sattel ist eine Zeitreise: So sah es also in den Städten aus, bevor die automobile Katastrophe über sie hinein brach. Radfahren avanciert derzeit zur Meditation am Lenker und im Wind, die Hyperaufmerksamkeit angesichts abbiegender LKW, aufgestoßener Türen und telefonierender PKW-Fahrer weicht der Lässigkeit des Cruising. Ein Hauch von Giro d‘Italia liegt in der Luft beim Sprint auf der Allee, wo außer imaginierten Begleitfahrzeugen kaum jemand fährt. Der Giro ist in der Realität der Krise verschoben, jetzt wird es Zeit für die menschengerechte Umgestaltung der Städte. Das Erlebnis des freien Platzes sollte ihre Bewohner so beflügeln, dass sie es nicht länger missen mögen.