Potemkin

  Versprechen binden nur diejenigen, die an sie glauben. – Jacques Chirac, französischer Staatspräsident von 1995 bis 2007

Das Regierungsviertel zählt zu den touristischen Attraktionen des Reichshauptslums. Die Kuppel des Reichstags steht für viele Besucher fest auf dem Programm, ebenso ein geführter Rundgang durch das Paul-Löbe-Haus (PLH) mit seinen Abgeordnetenbüros und Sitzungssälen samt Blick auf das Kanzleramt. Im Sommer betrachten die Menschen die Parlamentsgebäude gern von Bord der Ausflugsschiffe auf der Spree. Das gut 20 Jahre alte Quartier fügt sich erstaunlich fugenlos zwischen den Hauptbahnhof, das Brandenburger Tor und die Linden ein. Dabei geht es leider unter, dass sich inmitten der funktionalen Liegenschaften ein veritables Potemkinsches Dorf befindet. Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH), das den östlichen Abschluss des „Band des Bundes“ bildet, kann nur zu einem Viertel der Gesamtfläche genutzt werden, 800 Büros stehen dauerhaft leer.

Fürst Grigori Alexandrowitsch Potemkin (1739 bis 1791) war der engste politische Berater und zeitweilige Liebhaber der russischen Zarin Katharina II. Er annektierte 1783 die Halbinsel Krim und leitete den Aufbau der russischen Schwarzmeerflotte ein. Potemkin beeinflusste durch zahlreiche Stadtgründungen die russische Position am Schwarzen Meer und baute die Macht des Imperiums in dieser strategisch wichtigen Region zielstrebig aus. Während einer Inspektionsreise 1787 auf die Krim soll er der Zarin Katharina II. mit Fassaden angeblicher Dörfer den Fortschritt der Besiedelung und des Wohlstands der Region vorgespiegelt haben. Auch wenn diese Anekdote mutmaßlich von Neidern des erfolgreichen Politikers in die Welt gesetzt wurde, stehen die sprichwörtlichen Potemkinschen Dörfer seitdem für Trugbilder, Täuschungen und Kulissen ohne Gehalt.

Das MELH ist ein Entwurf des Architekten Stephan Braunfels, der auch das geschwisterliche PLH zu verantworten hat; beide Bauten sind mit einem Laufsteg über die Spree verbunden, der die Überwindung der einstigen Sektorengrenze symbolisieren soll. Errichtet wurde das Haus, benannt nach der promovierten Ökonomin und Frauenrechtlerin Marie-Elisabeth Lüders, die in Weimar und in Bonn Abgeordnete der Liberalen war, von 1998 bis 2003. Konzipiert war es von Beginn an als das Herz des Wissens des Bundestages; neben der imposanten Parlamentsbibliothek sind hier der Pressedienst, die Geheimschutzstelle, ein großer Anhörungssaal und ein Reisebüro für die Abgeordneten untergebracht. Mit der Erweiterung Richtung Osten wurde 2010 begonnen, hierbei kam es immer wieder zu Verzögerungen, weil die Betonplatte des Fundamentes Risse aufwies und ein Wasserschaden chronisch zu werden drohte. Auch die Heiztechnik und der Brandschutz sind nicht mehr auf aktuellem Stand, aufwändige Austauscharbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Zwischenzeitlich stand gar der komplette Abriss des MELH zur Debatte; wann das Gebäude, das schon jetzt den Charakter eines Denkmals aufweist, seiner Bestimmung gemäß genutzt werden kann, ist unklar.

Dass das von außen spektakuläre MELH mit seinen Granitplatten, der Verschalung aus hellem Sichtbeton und der Glaswand der Bibliothek zum Wasser hin im Inneren zu weiten Teilen nicht funktioniert, wird von der Pressestelle und dem Besucherdienst des Bundestages schamhaft verschwiegen. Weder in der ansonsten lesenswerten Broschüre über die Parlamentsbauten (Stand Juli 2018) noch auf der offiziellen Webseite des Bundestages werden die gravierenden baulichen Mängel der Liegenschaft angesprochen; ein Eröffnungstermin wird erst gar nicht mehr genannt. Der Erweiterungsbau gen Osten öffnet sich mit einer Freitreppe zur Stadt hin, weithin sichtbar ist ein markanter Rundturm; lauthals angedacht sind hier ein Bistro, Kunst am Bau und ein Foyer für Veranstaltungen. Wie im Reichshauptslum üblich, schieben sich verschiedene Institutionen die Verantwortung für den Nichtfortschritt beim Bau respektive bei der Sanierung des MELH zu. Die Baukommission des Parlamentes zankt sich mit dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, auch der Bezirk Mitte mischt sich ungefragt ein. Die jährlichen Kosten für den Unterhalt des leeren Hauses mag allerdings niemand beziffern.

Wer die Bibliothek am westlichen Rand des MELH verlässt, wird von der Grabesruhe der großen menschenleeren Halle empfangen. Die standardisierten Büros mit einer Fläche von 19 m², die wie die Zinken eines Kammes in querliegenden Trakten von der Halle wegziehen, wurden seit 2003 noch nicht bezogen – was grotesk ist angesichts des nach der Bundestagswahl vom September 2021 auf 736 Abgeordnete angeschwollenen Parlamentes (bei einer Normgröße von 598). Nahezu unbemerkt selbst von der Fachöffentlichkeit wurde im Januar 2022 ein Neubau der Bundestagsverwaltung zur Nutzung übergeben: Auf dem Grundstück zwischen dem MELH und der Bundespressekonferenz ist in nur 14 Monaten ein Bürogebäude in Modulbauweise entstanden, das Skelett aus Beton, die Konstruktion aus Holz, die Verschalung aus Glas. In diesem sogenannten Luisenblock West mit seiner farbenfrohen Fassade sind die gut 400 Büros bereits von den Fraktionen der Grünen, der Union und der SPD bezogen. Die MdB und ihre Mitarbeiter haben einen unverbaubaren Blick auf die verwaisten Waben des MELH, das ihnen je nach Sonnenstand als Schattenspende dient. Warum dort die Bibliothek ebenso gefahrlos benutzt werden kann wie der große Sitzungssaal, die Büroeinheiten aber nicht, bleibt ein Geheimnis der Verwaltung.

Der eigentliche Skandal um die Dauerbaustelle besteht darin, dass sich niemand mehr darüber echauffiert – die teuren Schlampereien am Bau werden achselzuckend hingenommen, wie man es an der Spree nicht anders kennt, analog zur Posse rund um den Flughafen BER in Schönefeld. Auf dem Plateau der Freitreppe des MELH werden die beliebten Sommerinterviews geführt, das Reichstagsgebäude stets im Blick. Die Fassade des Hauses darf im Sommer als Projektionsfläche für einen Film über die Geschichte des deutschen Parlamentarismus herhalten. Der Architekt Stephan Braunfels sieht seinen guten Ruf gefährdet und spricht von Ausführungsfehlern, die zur Schädigung der tragenden Betonplatte geführt hätten. Rein visuell fügt sich das Potemkinsche Dorf als Bauskulptur in das Ensemble der umgebenden Gebäude ein, der schöne Schein scheint dem Betrieb zu genügen. Wer braucht schon intakte Büros für die Parlamentarier und ihren Apparat, wenn es auch eine glitzernde Fassade tut.