Potsdam

Nach dem dramaturgisch aufgezogenen Bericht der Aktivistengruppe Correctiv Mitte Januar über ein „Geheimtreffen“ in Potsdam, auf dem die Anwesenden über einen Masterplan zu „Deportationen“ von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland gesprochen haben sollen, steht die Republik Kopf. Der Deutsche Bundestag hat in einer Aktuellen Stunde über das Treffen von Potsdam debattiert, Grüne und Linke forderten ein Verbot der AfD, ebenso zahlreiche Demonstranten im ganzen Land. Den Vogel abzuschießen blieb jedoch der Bundesinnenministerin vorbehalten. Sie fühle sich durch das Treffen von Potsdam an die Wannseekonferenz erinnert, wie sie in einem Interview bekannte.

Dieser Vergleich der Bundesinnenministerin, die qua Position oberste Dienstherrin unter anderem des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und damit politisch verantwortlich für die innere Sicherheit des Landes ist, offenbart ihre Hilflosigkeit im Umgang mit einer Partei, die angesichts bevorstehender Wahlen zum EU-Parlament und drei Landtagen in den Umfragen stabil in nie gekannten Höhen steht. Noch schlimmer ist die damit ausgelebte Ahnungslosigkeit zu historischen Fakten und Kontexten, allen rituellen Beschwörungen des ewigen Erinnerns an die Verbrechen des III. Reiches zum Trotz. Die Ministerin setzt zwei wesentlich unterschiedliche Treffen auf eine Stufe und bagatellisiert damit eine in der Geschichte einmalige Verabredung zum millionenfachen Mord an den europäischen Juden.

Am 20. Januar 1942 trafen sich in einer Villa am Wannsee im waldigen Südwesten Berlins 15 Spitzenvertreter des NS-Regimes zu einer vertraulichen Besprechung mit existentiellen Folgen. Die Teilnehmer im Range von Staatssekretären kamen aus der SS, der Reichskanzlei, der Partei und einigen Ministerien. Zum Zeitpunkt der Besprechung führte das III. Reich seit etwa zweieinviertel Jahren Krieg: Seine Armeen hatten im September 1939 Polen überfallen und zu zwei Dritteln besetzt, hatten Norwegen, Dänemark, die Niederlande und Belgien überrannt und hatten Frankreich im Juni 1940 in einem Blitzkrieg besiegt. Gleichzeitig führte es eine Luft- und Seeschlacht gegen England, hatte im Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen und im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt. Im Rahmen dieses Weltkrieges hatten deutsche Truppen, SS- und Polizeikräfte bereits etwa eine halbe Million Juden vor allem im besetzen Osteuropa ermordet, die meisten davon erschossen.

Das Treffen am Wannsee, dessen Ablauf sich aus dem erhaltenen Protokoll und den Aussagen des teilnehmenden Obersturmbannführers Adolf Eichmann bei seinem Prozess in Jerusalem 1961 recht genau rekonstruieren lässt, diente primär der Organisation des angelaufenen Massenmordes an den europäischen Juden im industriellen Maßstab. Die diesbezüglich um die Federführung ringende SS begriff die geplante Vernichtung der über ganz Europa verstreuten elf Millionen Juden, die neben den militärischen Anstrengungen möglichst ressourcenschonend, schnell und unbemerkt vonstatten gehen sollte, vor allem als logistische Herausforderung. Reklamiert wurde eine Bündelung der Kräfte unter ihrem allseits akzeptierten Kommando. Am Wannsee wurde keineswegs die Ermordung der europäischen Juden beschlossen, vielmehr die Organisation und Durchführung dieser „Endlösung der Judenfrage“. Die aus der Exekutive kommenden Teilnehmer erzielten ausweislich des Protokolls in diesem zentralen Punkt Einigkeit. Gute drei Jahre später, zum Ende des II. Weltkriegs, waren in den Todeslagern der Nationalsozialisten insgesamt rund sechs Millionen Juden getötet worden.

Im November 2023 trafen sich nach Darstellung der Correctiv-Aktivisten Geschäftsleute, Mandatsträger der CDU und der AfD sowie Autoren und Sympathisanten aus dem rechten Spektrum zu einer privaten Begegnung in einem Hotel an einem der zahlreichen Seen rund um Potsdam. Mitglieder der Rechercheplattform hatten sich unter falschem Namen im Hotel eingemietet, sie führten Richtmikrofone und versteckte Kameras mit sich, um den Ablauf des Treffens zu dokumentieren und um die Teilnehmer zu identifizieren. Ihr Befund: Die Teilnehmer, etwa zwei Dutzend, sprachen über die sogenannte „Remigration“ von Millionen Menschen aus Deutschland. Unter „Remigration“, so Correctiv, sei nichts anderes als „Deportation“ zu verstehen. Die Rechercheplattform nahm es für sich in Anspruch, ein „Geheimtreffen“ mit seinen unter Umständen strafbaren, zumindest illegitimen Inhalten aufgedeckt zu haben. Die professionellen Medien in Deutschland, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum linken Boulevard von der „Süddeutschen“ über den „Spiegel“ bis zur „Zeit“, nahmen diese Erzählung unisono für bare Münze und wähnten die Demokratie in tödlicher Gefahr.

Die Bundesinnenministerin nun schlug dem Fass den Boden aus, als sie sich zum halsbrecherischen Vergleich mit der Wannseekonferenz verstieg. Hier ein offizieller Termin mächtiger Vertreter der Regierung, dort ein informelles Treffen Interessierter zum Austausch von Ideen; hier eine verbindliche Entscheidung zur Konzeption des industriellen Massenmordes, dort gegebenenfalls die Diskussion eines seit langem in der Fachliteratur verwendeten Begriffs; hier eine als „Geheime Reichssache“ eingestufte Konferenz, dort ein privates Treffen im politischen Vorfeld; hier eine folgenreiche Verabredung leitender Repräsentanten eines Unrechtsregimes, dort eine private Begegnung unter Annahme des grundgesetzlich garantierten Rechts auf die Freiheit der Kommunikation; hier ein Land, das den halben Kontinent mit Krieg überzieht, dort ein Land, das durch die anhaltende Einwanderung in die Sozialsysteme destabilisiert wird. Wer hier Parallelen zieht, tut dies entweder aus entsetzlichem geschichtlichem Unwissen oder in bösartiger Absicht.

Niemand hat öffentlich das Vorgehen der Correctiv-Aktivisten mit ihren geheimdienstlichen Methoden hinterfragt. Niemand hat mögliche Redner des Treffens von Potsdam nach ihrer Version des kolportierten Geschehens gefragt, außer einigen Bloggern aus Österreich und der Schweiz. Und alle selbsternannten Experten setzen das Konzept der „Remigration“ kurzerhand mit „Vertreibung“ gleich, ohne die sozialwissenschaftlichen Debatten zu kennen, die in im Buchhandel erhältlichen Publikationen abgebildet werden. Dass „Remigration“ die rechtsstaatliche Ausweisung abgelehnter Asylbewerber und integrationsunwilliger krimineller Migranten meint, wird geflissentlich übersehen. Wenn sich nun die Bundesinnenministerin die Correctiv-Lesart des Vorgangs ungeprüft zu eigen macht, setzt sie sich dem Verdacht aus, aus schierer Sorge um die eigene Existenz den politischen Gegner zu diffamieren, weil sie ihm argumentativ nicht länger Paroli zu bieten weiß.