Prüfung

  Hij ging terug naar zijn als vrouw geboren Spaanse. Dat was een pijnlijk moment. – Corinne van Tongerloo

Vera hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte. Zwar ging es nicht um den runden Geburtstag ihrer Mutter oder eine Einladung nach Schloss Drottningholm, das Wochenende stellte aber fraglos eine Prüfung der besonderen Art dar, zu deren Vorbereitung unbedingt die ansprechende Kleidung zählte. Nach langem Hin und Her vor dem Spiegel hatte sie sich für eine neutrale Aufmachung entschieden: Eine schwarze 501, die ihren Hintern gut zur Geltung brachte, weiße Espadrilles, die nach Mittelmeer aussahen und sie nicht noch größer machten, dazu eine tailliert geschnittene dunkelrote Leinenbluse mit Ärmeln bis zur Ellenbeuge, die offen ließ, was sie darunter trug. Die langen Haare praktisch zum Dutt gedreht, die Lippen in Mauve nachgezeichnet, die Wimpern mit Mascara getuscht.

Im Koffer verstaute sie neben dem Necessaire und dem Negligee auch einen Badeanzug, ein Etuikleid, T-Shirts, Shorts, einen knielangen Rock und eine Fleece-Jacke für den möglicherweise kühlen Abend, auch ein Paar Pumps und die Wanderschuhe fanden hier Platz. Telefon, Brille, Karten, Notizbuch, Geld und einen Band Proust steckte sie in einen kleinen Rucksack aus weichem sandfarbenem Leder, den sie auf dem Schoß zu liegen hatte. Neben ihren Koffern war der Fond des Mietwagens mit Lebensmitteln für das Wochenende angefüllt. Sie hatten sich per Telegram abgestimmt, wer was mitbringen sollte; frische Sachen wie Brot, Milch, Eier, Obst und Gemüse würden sie morgen früh im Dorf kaufen. Die gemietete Hütte im Elbsandsteingebirge lag auf angenehmen 500 Höhenmetern.

Rasmus saß am Steuer, blickte konzentriert nach vorn und hatte seit einer Viertelstunde nichts mehr gesagt, die Noten der ersten Sinfonie Gustav Mahlers aus dem Radio füllten den Innenraum. Vera lugte zu ihm herüber und legte ihre linke Hand kurz auf seinen rechten Schenkel, was er mit einem knappen Lächeln quittierte. „Wie weit ist es noch?“, fragte Vera, bloß um überhaupt etwas zu sagen. „Laut Navi noch gut 80 Kilometer, bei dem Verkehr wohl noch anderthalb Stunden. Dresden wird uns noch Zeit kosten.“, gab Rasmus technisch Auskunft. Vera fand es angenehm, nicht fahren zu müssen. Sie hätte lieber die Bahn genommen, aber sie sah ein, dass angesichts des Gepäcks und der Abgeschiedenheit der Hütte das Auto eine praktische Wahl war. Auch verstand sie insgeheim, dass Rasmus vehement der Idee widersprach, einen Van zu nehmen, um alle vier Paare gemeinsam unterzubringen. Er hatte erkennbar Sorge vor dem Treffen.

Rasmus und Vera hatten sich auf einer Onlinebörse für Singles kennengelernt. Nach launigem Flirten, das beiden gefiel und den richtigen Ton traf, telefonierten sie und beschlossen, sich persönlich zu treffen. Sie entschieden sich für ein indisches Restaurant in der Nähe des Savignyplatzes. Als Vera bewusst kurz nach der vereinbarten Zeit erschien, erkannte sie Rasmus sofort, er sah genauso aus wie auf den Fotos im Netz. Er schien sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen und gab sich als vollendeter Galan. Vera wählte ihre bevorzugten vegetarischen Leckereien, die sie von regelmäßigen Besuchen im Lokal kannte, ohne im Menu nachschauen zu müssen. Der süße Duft von Räucherstäbchen vermischte sich mit dem Curry- und Curcuma-Aroma der Speisen. Sie lachten viel und blieben nach dem Obst noch auf einen Kaffee und einen Amaretto sitzen, es war einer der schönen ersten Tage im Sommer, nicht brütend heiß, das Grün noch nicht verdorrt. Fast genau vor einem Jahr.

Rasmus zögerte, bevor er Vera von seiner Frau Kaja erzählte. Sie war an einem unentdeckten Herzfehler gestorben, es war ein Alb für ihn, als sie eines morgens an seiner Seite nicht mehr atmete. Wochenlang stand Rasmus neben sich, funktionierte in Trance, organisierte die Beerdigung, zu der mehr Gäste kamen als seinerzeit zur Hochzeit. Er arbeitete, solange er konnte, um möglichst spät in die verwaiste Wohnung zurückzukehren. Sein Kühlschrank war leer bis auf eine angebrochene Flasche Mineralwasser, ein Glas Senf, ein Kühlkissen für den Nacken und mehrere verdorrte Kiwis. Seine Freunde zeigten ihm, dass sie für ihn da seien, schrieben ihm Nachrichten, luden ihn zum Essen ein, gingen mit ihm zum Laufen in den Wald. All das linderte seine Trauer, ohne Kajas Fehlen aufheben zu können. Rasmus konnte sich lange nicht vorstellen, nach ihr eine andere Frau zu treffen; seine Schwester sagte vorsichtig zu ihm, Kaja wäre es sicher recht, wenn er sich neu verliebe, die Erinnerung an sie würde dadurch ja nicht ausgelöscht.

Er wusste nicht, warum er sich ausgerechnet auf einer Börse anmeldete, die Männer und Transfrauen zusammenbringen wollte; er betrachtete es als Spiel und Experiment ohne Verbindlichkeit. Und er fragte sich, warum eine Frau wie Vera sich nicht auf einer herkömmlichen Plattform zeigte. Er war von ihr begeistert, fand sie umwerfend schön und genoss die Zeit mit ihr im Bett. Anfangs erlebte er ihre Begegnung als Tändelei, als Hilfe beim Zurückkehren ins Leben. Er fand wieder Kontakt zu seinem Körper und blieb immer weniger der Automat, der auf Kajas Tod einem Algorithmus gehorchte. Mit Vera fand er zu seinen Gefühlen zurück, die er zögerlich zuließ, um Kaja nicht zu verstoßen. Seinen Freundinnen und Freunden, die sich kümmerten, erzählte er nichts von Vera – weil er selbst nicht genau wusste, was er von ihr wollte, wie er sich selbst gegenüber eingestand.

Vera war von ihm und seiner gebremsten Art sehr angetan, sie war seine erste Transfrau, mochte er auch schon länger heimliche Fantasien gehabt haben, wie ihr schwante. Sie freute sich über die aufregenden körperlichen Erfahrungen, die sie mit ihm machen durfte und versuchte, sich den Verlust seiner Ehefrau vorzustellen. Immerhin hatte er ihr einmal auf dem Telefon ein Foto der beiden auf Ischia gezeigt, sie waren wirklich ein hübsches Paar. Nach den Monaten des Kennenlernens und des Vertrauterwerdens missfiel es ihr dann, dass Rasmus darauf bestand, sich nur mit ihr allein zu treffen, ohne seine oder ihre Leute einzubeziehen. Was gab es da zu verstecken, fragte sich Vera, will er verheimlichen, dass er sich nach Kaja wieder verliebt hat oder will er nicht preisgeben, dass seine Neue trans ist?

Und dann kam unvermittelt seine Frage, ob sie nicht mit drei befreundeten Paaren ein Wochenende in die Sächsische Schweiz fahren wollten. Das hatten sie schon zu Kajas Zeiten gemacht, sie kannten und mochten sich lange Jahre, hatten den Kontakt nach dem Studium gehalten und vertieft. Gerne, war ihre Antwort, aber wäre es nicht weniger förmlich, wenn sie sich zum Kennenlernen vielleicht nacheinander zum Kochen in der Wohnung träfen? Das Häuschen wird Dir gefallen, war seine bestimmte Antwort, es ist erhaben gelegen, wir können Wandern, Klettern, auch Schwimmen, je nachdem. Sie fanden einen Termin, an dem alle acht konnten, buchten das Quartier und teilten sich die Vorbereitung. Wobei die Kommunikation komplett über Rasmus lief, Vera wurde aber immerhin als Name in den Kreis eingeführt.

Ihr war der Charakter einer Prüfung sonnenklar. Natürlich würde sie an Kaja gemessen, aber viel mehr noch als Frau an sich beäugt werden. Rasmus würde sich gegebenenfalls den kritischen Fragen seiner Leute zu stellen haben: Warum eine Transfrau, das hast Du doch gar nicht nötig, stehst Du heimlich auf Männer, was ist denn mit Kindern. Über all dem die Amfortas-Frage, ob sie Frau genug wäre, um vor seiner Schwester, ihrem Mann und den beiden anderen Paaren Anerkennung zu finden. Vera hatte selbst genug Zweifel, ob sie genügen würde; sie vermied das Gespräch darüber, um Rasmus nicht noch nervöser zu machen, als er ohnehin schon schien. Sie stellte für Rasmus eine Gefahr dar, er hatte einen Ruf vor seinen Leuten zu verlieren; Männer und Frauen, die sie nur dem Namen nach kannte und von denen sie nicht wusste, was er ihnen über sie bereits erzählt oder verschwiegen hatte. Sie wusste schlicht nicht, ob sie sich auf ihn verlassen konnte.

Das Schild zeigte noch 20 Kilometer bis Dresden, die Mahler-Sinfonie endete mit den letzten Takten, großen Frieden hinterlassend. Rasmus fuhr an der nächsten Tankstelle raus, um sich die Beine zu vertreten und einen Kaffee zu trinken, wie er ankündigte. Nach dem unnötigen Tanken parkten sie den Wagen und setzten sich mit dem labbrigen Kaffee, den es hier zu erwarten gab, in die Trinkhalle mit Blick auf die Autobahn. „Was ist los, Rasmus?“ – „Ich weiß es auch nicht, Vera, ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist …“ – Ob was eine gute Idee ist?“ Rasmus schlürfte einen Schluck der dünnen, viel zu heißen Brühe aus dem Pappbecher und senkte die Augen. Vera ahnte, was passieren würde und tat nichts, um ihm die sichtlichen Mühen zu ersparen. „Vera, Du weißt, ich finde Dich großartig und mag Dich und …“ – „Ja? Und was? Oder aber?“ – „Es ist nicht so, wie, Du denkst, wirklich nicht …“ – „Nein? Was denke ich denn? Sag es mir doch, anstatt mich rätseln zu lassen.“

Vera wusste genau, was nun kommen würde. Sie hatte viel früher damit gerechnet und war erstaunt, wie ernst es Rasmus zwischendurch mit ihnen beiden zu sein schien. Nun sah es so aus, dass ihn in Sichtweite des Zieles die Kräfte zu verlassen drohten. Sie sah es hinter seiner verkrampften Stirn arbeiten: Er schämte sich ihrer, er hatte nicht den Mumm, sie als seine Frau vorzustellen. Fast hatte sie Mitleid mit ihm, aber nur fast. In einem Schwall des Selbstschutzes nahm sie die kommende Enttäuschung vorweg und wendete sie in Verachtung für ihn. „Also, wie ist es?“ – Ich kann nicht auf die Hütte fahren …“ – „Unsinn, Du kannst nicht mit mir auf die Hütte fahren.“ – „Bitte Vera, verstehe mich doch.“ – „Gerne, aber sage mir, was Dich daran hindert.“ Sie ließ ihn zappeln, in seiner Feigheit wollte er sie das Unvermeidliche aussprechen lassen. Sie saß ganz gerade auf dem Stuhl, ihr Steiß berührte die Lehne, die Schultern gestrafft, die Finger am Tisch, als wollte sie Tasten drücken, der Blick ruhig und fest. Rasmus sank jämmerlich in sich zusammen, mit einem Reflex stieß er den Kaffeebecher um, der zum Glück schon ausgetrunken war, nur ein Resttropfen verklebte das Resopal.

„Vera, ich möchte einmal Kinder haben.“ – „Tatsächlich? Davon hast Du bisher nicht gesprochen. Sei doch einfach ehrlich: Ich bin Dir peinlich, ich bin Dir nicht seriös genug für eine richtige Partnerschaft, Du willst nicht für schwul gehalten werden, Du hast Angst, dass Deine Leute sich über Dich lustig machen. Und Du hast leider nicht die Eier, diese Prüfung wenigstens zu versuchen.“ – „Vera, nein, das ist anders.“ – „Merkst Du nicht, wie mies Du über Dich selbst und Deine Freundinnen und Freunde denkst und sprichst? Traust Du ihnen wirklich so wenig an Freude und Achtung und Offenheit zu? Mein Beileid.“ Rasmus schwieg und schluckte und wischte mit einem Taschentuch den Kaffeetropfen weg, dabei braune Schlieren auf der Platte hinterlassend. „Was machen wir denn jetzt?“, wisperte er mehr, als er fragte.

„Ich weiß nicht, was Du jetzt machst. Ich möchte, dass Du mich jetzt nach Dresden rein fährst; ich sehe zu, dass ich im Kulturhaus Loschwitz ein Zimmer für das Wochenende bekomme.“ – „Wollen wir nicht gemeinsam zurückfahren?“ – „Bitte, Rasmus, mache Dich nicht lächerlich. Fahr Du weiter zu Deinen Freunden auf die Hütte und sage ihnen, ich sei plötzlich krank geworden und Du wolltest sie nicht enttäuschen, nach all dem, was sie für Dich getan haben. Sie werden Dir Deine Lügen schon glauben, so gut wie Du trainiert bist.“ Sie stand auf, warf ihren Pappbecher in den Mülleimer und strebte zum Wagen. Rasmus trottete hinter ihr her wie ein lahmer Hund. Wortlos setzte er sich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr los. Vera klappte die Sonnenblende herunter und musterte ihr Gesicht im eingelassenen Spiegel. Der Ausdruck der Ehrlichkeit, gepaart mit Verletztheit, gefiel ihr sehr. Sie war sich treu geblieben, ohne eine Wahl getroffen zu haben.