The bicycle was a normal transport form from Manchester to Singapore, from Sydney to Seville. – Mikael Colville-Andersen
„Im Jahr 2030 ist Radfahren selbstverständlich und vielfältig. Die Menschen nutzen das Fahrrad mit Freude und fühlen sich dabei sicher. Kurzum: Radfahren ist für alle attraktiv, es ist Lebensgefühl und Möglichkeit, die Welt neu zu erfahren und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das Rad ist auf immer mehr Wegen – im Alltag und in der Freizeit – das Verkehrsmittel der Wahl.“ Diese salbungsvollen Worte finden sich im „Nationalen Radverkehrsplan“ (NVRP), im April dieses Jahres herausgegeben vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Den Autoren dieser Poesie der Mobilität auf zwei Rädern geht es nach eigener Aussage darum, die Vision von Deutschland im Jahr 2030 als „Fahrradland“ zu umreißen. Klingt erstmal gut, ist aber im Detail fern jeder Realisierbarkeit.
Der „Radverkehrsplan“ singt erwartbar das Hohelied der Potenziale des Radverkehrs im Zeitalter der grünen Ökologie. So heißt es, Radfahren sei gesund, günstig und schnell; nachhaltige Mobilität führe zu attraktiveren Städten; Radtourismus stärke ländliche Regionen; Unternehmen profitierten von mobilen Beschäftigten; die Fahrradwirtschaft trage zum Wachstum bei; schließlich sei Radverkehr aktiver Klima- und Umweltschutz. Kaum jemand wird diese Trivialitäten bestreiten, allerdings gibt es durchaus Dissens auf dem Weg zum formulierten Ziel. Der „Radverkehrsplan“ wird vorgelegt zum Ende der laufenden Legislatur, der verantwortlich zeichnende Minister (seit zwölf Jahren von der CSU gestellt) scheint darauf zu bauen, dass die unverbindliche Absichtserklärung nach der Bundestagswahl im September 2021 vergessen sein wird.
Der „Radverkehrsplan“ gibt sich vordergründig anschlussfähig an die internationale Diskussion um Mobilität und Stadtplanung, die mit dem Ziel geführt wird, das Kollabieren urbaner Räume am stauenden Blech zu verhindern durch eine absolute wie relative Zunahme des Radverkehrs. Prominente Agenten dieses Wandels sind Architekten wie Jan Gehl und Karsten Pålsson, Stadtplaner wie Mikael Colville-Andersen und Brent Toderian, Forscher wie Hermann Knoflacher und Andreas Knie oder Politikerinnen wie Anne Hidalgo und Regine Günther. Um das Ziel autoärmerer Städte zu erreichen, will die Stadt Amsterdam mehr als 10.000 Parkplätze im Stadtgebiet ersatzlos streichen; die Stadt Paris hat nicht nur einen Abschnitt des linken Seine-Ufers für Autos gesperrt, sie plant überdies bis zum Jahr 2030 die Umgestaltung der Champs Elysées zu einem innerstädtischen Garten; der Times Square in New York wurde vor einigen Jahren zur riesigen Fußgängerzone transformiert. Das Fahrrad spielt bei diesen Neugestaltungen urbanen Lebens eine zentrale Rolle bei der alltäglichen Mobilität.
Von einer solchen Strategie, die Mobilität, Architektur und Stadtplanung zusammendenkt, ist Deutschland Lichtjahre entfernt, wie der Radverkehrsplan offenbart. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war das Fahrrad das Verkehrs- und Transportmittel der Wahl, bis das Auto mit seiner industriellen Massenfertigung an seine Stelle trat. Kein Land hat nach den Zerstörungen des II. Weltkriegs so hemmungslos auf das Konzept der autogerechten Stadt gesetzt wie Deutschland, wie man an der steinernen Infrastruktur wirklich jeder größeren deutschen Stadt ablesen kann. Dass es auf deutschen Straßen zu einer erbitterten Konkurrenz der Mobilitäten gekommen ist, die den privaten PKW schamlos bevorteilt – von der Ampelschaltung über kostenlose Parkplätze in den Zentren und den Kiezen bis zum Dienstwagenprivileg und zur Pendlerpauschale –, wird im NRVP nicht erwähnt. Seit über 60 Jahren werden Straßen, Plätze und Quartiere hierzulande für die Bedürfnisse der PKW gebaut, den übrig bleibenden Raum müssen sich Radfahrer, Fußgänger, Kinder und der ÖPNV teilen.
Die gemachten Erfahrungen der letzten 40 Jahre in den Niederlanden und Dänemark haben gezeigt, dass die Menschen das Rad dann benutzen, wenn sie sich im Straßenverkehr sicher fühlen. In Amsterdam, Utrecht und Kopenhagen gibt es vorbildliche Infrastrukturen für das Rad, sauber getrennt vom Autoverkehr, es gibt Fahrradparkhäuser, separate Ampelschaltungen, Servicestätten über die Stadt verteilt, Fahrradabteile in den Fernzügen. In der Folge fahren die Dänen und Niederländer Fahrrad, Männer wie Frauen, Kinder wie Senioren. Sie tun es nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil es schnell geht, praktisch sowie sicher ist und pragmatisch zum Ziel führt. Noch erwähnenswert, dass die schweren Zusammenstöße mit Radfahrern mit schlimmen Verletzungen oder Todesfolge in den genannten Ländern gegen Null gehen. Weitere urbane Räume, die das Fahrrad in den Mittelpunkt ihrer Umgestaltung stellen, sind Helsinki, Oslo, Vancouver und Zürich.
Hierfür muss man politisch etwas tun: Es geht um Geld und es geht um den öffentlichen Raum. Die Bundesregierung will bis 2023 den Radverkehr mit 1,46 Mrd. Euro fördern (zum Vergleich: die 3,2 Kilometer Autobahn der A 100 in Berlin werden 470 Mio. Euro kosten), hält aber die Subventionierung des Diesel weiter aufrecht. Es wäre technisch ein Leichtes, von zehnspurigen Magistralen, die wie Autobahnen ganze Viertel durchschlagen, die Hälfte zu Radwegen, Grünstreifen und Verkaufsflächen zu machen. Diese Diskussion aber um die Neuverteilung des öffentlichen Raumes (inklusive einer preisgerechten Parkraumbewirtschaftung) wird im NRVP nicht geführt, nicht einmal angestoßen. Aus Angst vor der ganz großen Koalition aus ADAC, BDI, BILD, BMVI, BWM, BMWi, CDU/CSU, FDP, IGM, SPD, VDA, VW und ihrem Totschlagargument der Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie wird jedes konkrete Vorhaben, das die Hegemonie der PKW in deutschen Städten einschränken könnte, vermieden.
In der Realität wird über eine holistische Verkehrspolitik, die die Bedürfnisse von Anwohnern, Händlern, Lieferanten, Touristen und Pendlern berücksichtigt, nicht einmal nachgedacht. So ist es auch 30 Jahre nach der Einführung des ICE weiterhin nicht möglich, ein Fahrrad mit in den Fernschnellzug zu nehmen, sofern es nicht gerade ein Brompton ist. Wer eine Steuererklärung ausfüllt, kann die mit dem privaten PKW zurückgelegten Kilometer vom Wohnort zum Arbeitsplatz geltend machen – die mit dem Fahrrad zurückgelegten nicht. In Berlin gilt seit drei Jahren das sogenannte Mobilitätsgesetz, das unter anderem die Schaffung von 147 Kilometern neuer Radwege vorschreibt, von denen bis heute kein einziger Meter projektiert geschweige denn gebaut ist. In deutschen Städten gibt es vereinzelt sogenannte Fahrradstraßen, die von Anliegern, Taxen und Lieferdiensten weiterhin mit dem PKW genutzt werden dürfen – in der Summe ist die „Fahrradstraße“ eine Autostraße wie jede andere auch. Parken auf öffentlichem Straßenland ist in Deutschland weiterhin gratis, hier verschleudern die Kommunen sehenden Auges gewaltige Summen. Gerade in den Altbauquartieren der Städte parken zusätzlich endlos Autos im Park- und Halteverbot, sodass weder Müllfahrzeuge noch Rettungsdienste durchkommen. Die Ordnungsämter tun verlässlich nichts.
Deutschland mit seiner Automobilindustrie bleibt ein Land mit einer Unkultur des Motors, die von mörderischer Beharrungskraft zu sein scheint. So hält dieses Land wider besseres Wissen an einem fehlenden Tempolimit auf Autobahnen fest, obwohl hierdurch schwere Kollisionen mit schlimmen Verletzungen und Toten vermieden werden könnten (da weiß sich Deutschland einig mit Afghanistan, Nordkorea und Somalia). Der NRVP will erst einmal Kongresse durchführen, Forschung zur Mobilität anstoßen, Daten erheben und natürlich das Potential der Digitalisierung ausreizen – alles gratis, unkonkret und folgenfrei. Derweil bleibt das Radfahren in deutschen Städten mit einem beträchtlichen Risiko für Gesundheit und Leben verbunden, viele Radfahrer kommen sich im Sattel vor wie mobile Verkehrshindernisse für die Lenkradspieler am Bildschirm ihrer Schlampenpanzer. Interessant wäre eine Studie zur Frage, inwieweit Ausländer am Steuer ihrer hochmotorisierten Statussymbole die dringend notwendige Mobilitätswende über Gebühr verzögern, indem sie auf einem überkommenen gewaltorientierten Verkehrsverhalten bestehen – Strukturkonservatismus über die Ethnie.
Der vorliegende Radverkehrsplan ist ein typisches Papier der Bundesregierung, dessen wolkig formulierte Ziele niemandem weh tun und das sich die Frage nach der Umsetzung nonchalant schenkt. Sicher hakt es bei den Maßnahmen zum Erreichen der Ziele an den unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen. So ist es Sache der Städte, endlich bessere und sicherere Radwege und Fahrradparkplätze zu bauen sowie mehr Geld in den ÖPNV zu investieren; allerdings könnte der Bund als Eigner der Bahn die Fahrradmitnahme im Abteil unkomplizierter machen, auf fiskalischer Ebene Anreize zur Fahrradnutzung setzen und den Kauf neuer Räder mit einer Umweltprämie forcieren. Die Hauptaufgabe bei der Mobilitätswende für das BM Verkehr wäre aber die Moderation der Diskussion um die Neuaufteilung des öffentlichen Raums, weg von der autogerechten Stadt, hin zu einer Stadt für die Menschen, inklusive des Förderns besonderer Leuchtturmprojekte. Doch dazu fehlt es dem zuständigen Ressort an Wissen und vor allem an Mut.