Rätsel

  Gott also schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. – Gen 1,27

Anatomie ist Schicksal, konstatiert Sigmund Freud. Das Geschlecht, in das jeder Mensch geboren wird, bleibt lebenslang bestehen. Ein Wechsel ist nur in der Mythologie möglich, etwa in den Metamorphosen des Ovid, wo der blinde Seher Teiresias zur Frau wird und sieben Jahre später wieder zum Mann. Im vorklinischen Zeitalter ist lediglich der Wechsel der Geschlechtsrolle denkbar, mit der Synthetisierung der Geschlechtshormone in den 1920er Jahren und den ersten genitalangleichenden Operationen in den 1930er Jahren kann das Geschlecht tatsächlich dauerhaft verändert werden. Doch dauert es bis in die 1980er Jahre, bevor die Gesellschaft einen solchen medizinisch herbeigeführten Geschlechtswechsel rechtlich anerkennt. Das Buch „Rätsel“ von Jan Morris gibt Zeugnis über einen transsexuellen Weg in Eigenregie vor seiner Legalisierung.

James Humphrey Morris wird 1926 in Somerset, England geboren und wächst im ländlichen Wales auf. Das Kind mit zwei älteren Brüdern singt im Knabenchor zu Oxford, nach dem Abitur dient James während des II. Weltkriegs in der britischen Armee in Triest. 1949 erfolgt die Heirat mit Elizabeth Tuckniss, aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor. Nach dem Studium des Englischen in Oxford wird James Korrespondent zunächst des Guardian, dann der Times und schreibt zudem für die BBC. Als Reporter begleitet James 1953 die britische Expedition zur Erstbesteigung des Everest, die Nachricht über den erfolgreichen Gipfelsturm trifft in London am Morgen der Krönung Königin Elizabeths II. ein. Ein viel beachtetes Buch über Venedig 1960 erschließt James Morris das Genre der Reiseliteratur. Es folgen Interviews mit dem Revolutionsführer Che Guevara auf Kuba und dem Doppelagenten George Blake in Moskau, des Weiteren ein Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem.

Seit 1965 hat Morris regelmäßig in New York Kontakt mit Harry Benjamin, dem aus Deutschland emigrierten Pionier der Transsexuellenforschung, und nimmt nun Östrogene, die den Körper zunehmend entmännlichen. Im Jahr 1972 reist Morris zu Dr. Burou nach Casablanca und lässt in der dortigen Clinique du Parc eine genitalangleichende Operation vornehmen. Die Ehe mit Elizabeth muss nach britischem Recht geschieden werden, die beiden bleiben aber ein Paar und leben bis zu Morris‘ Tod gemeinsam auf ihrem Anwesen in Wales. Über den Weg ihrer Geschlechtsangleichung veröffentlicht Jan Morris, wie sie nun amtlich heißt, 1974 das Buch „Conundrum“, das ein Jahr später unter dem Titel „Rätsel“ auch auf Deutsch erscheint. In der Folge publiziert sie eine Trilogie über das britische Kolonialreich, im Jahr 1999 wird Jan Morris zum Commander des Order of the British Empire (CBE) ernannt, 2008 gehen Elizabeth und sie eine Zivile Partnerschaft ein. Im November 2020 erscheint eine Neuübersetzung von „Rätsel“, zwei Wochen später stirbt Jan Morris im Alter von 94 daheim in Wales.

Die Autobiographie hebt mit dem typischen Motiv der Gattung an: „Ich war drei oder vielleicht vier Jahre alt, als mir aufging, dass ich im falschen Körper geboren war und in Wirklichkeit eigentlich ein Mädchen sein sollte. Ich erinnerte mich an diesen Augenblick genau, es ist meine früheste Erinnerung.“ James ist verwundert, dass die Eltern und die Lehrerinnen in ihm einen Jungen sehen, lässt sich die Verhätschelung als Benjamin durch Tanten aber gefallen. Im Übrigen hat diese Empfindung keine Konsequenzen auf die Entwicklung des Seelenlebens: „Ich lebte in vollkommener Sicherheit. Wenn ich auf meine frühe Kindheit zurückblicke, wie man eine windbewegte Allee hinunterschauen mag, sehe ich dort nur eitel Sonnenschein – denn natürlich war damals das Wetter noch um vieles besser, da waren die Sommer noch echte Sommer, und wenn ich mich recht erinnere, regnete es so gut wie nie.“

Diese frühe, leicht schrullige Passage aus „Rätsel“ setzt den Ton des ganzen Textes. Aus ihr spricht die Sorglosigkeit einer Angehörigen der elitären britischen Upper Class, die von klein auf über Geld, Grundbesitz, Kultur und Kontakte verfügt, die soziale Macht dieser Ressourcen instinktiv spürt und für gegeben annimmt. Das Geschlechtliche erscheint dem heranwachsenden Kind als etwas, wovon es ebenso wenig versteht wie die Gleichaltrigen. Als es im Internat zu tastenden erotischen Begegnungen mit den anderen Knaben kommt, nimmt James diese als wohltuend hin. Über die Empfindung, eigentlich ein Mädchen respektive eine Frau zu sein, kann James erst Jahrzehnte später sprechen, das Geheimnis der Identität wird sorgsam gehütet. Während des Krieges als Soldat in einer exemplarischen Männergesellschaft kommt Morris sich als Gast respektive als Spion vor; er schätzt die Offiziere, die aus der gleichen sozialen Klasse kommen, als ritterlich, ehrenhaft und zuverlässig ein. Ihre Ausrichtung auf den gemeinsamen Feind erlaubt es ihnen, wie ein Körper zu funktionieren – das Wesen der Armee.

Ähnlich militärisch geht es 1953 am Everest zu. James wird ob der sportlichen Physis von der Redaktion der Times ausgewählt, das Team um Edmund Hillary und Tensing Norgay im Himalaja bis auf 6.800 Höhenmeter zu begleiten. Der innere Zwiespalt vergrößert sich: James genießt die Kraft, die Ausdauer und die Zielstrebigkeit seines muskulösen Körpers, der ihm die Teilnahme an dem gefährlichen Vorhaben erst erlaubt; zugleich wirkt die Männerwelt der Bergsteiger faszinierend fremd auf James, der die Opferbereitschaft der Teilnehmer auf das gemeinsame Ziel hin als positive maskuline Eigenschaften interpretiert. Die Reportage über die Erstbesteigung des höchsten Gipfels der Erde öffnet Morris im Journalismus alle Türen; fortan führt er ein Leben im Jet Set, fliegt mit einer Selbstverständlichkeit um die Welt, wie andere mit dem Bus ins Büro fahren. In der Londoner Zentrale treffen Berichte aus Kapstadt, Bengalen, Kairo, Kenia, Ontario, Hongkong, Oman und dem Outback ein. Ruhepol in James‘ bewegtem Leben ist die walisische Provinz, wo sich das Paar in den frühen 1960er Jahren ein Haus mit Park und altem Baumbestand an der Küste kauft.

Morris kann mit dem journalistischen Schreiben den inneren Abstand zu sich selbst nicht nur kompensieren, sondern auch auskosten: „Keiner halte mich für eingebildet, wenn ich sage, dass es in meinen Dreißiger- und Vierzigerjahren eine Zeit gab, in der mir die ganze Welt offenstand. Meine Arbeit war auf beiden Seiten des Atlantiks gut bekannt, und die Angebote waren beinahe unbegrenzt. Ich zweifle nicht, dass ich eine lange und erfolgreiche Karriere bei der Presse hätte machen können, beim Fernsehen, in der Politik, sogar beim diplomatischen Dienst.“ Doch nagt die Sehnsucht nach dem Weiblichen immer mehr, Melancholie macht sich breit, James hält sich zurück um der Ehe und der Kinder willen, zumal erste Besuche bei Ärzten nicht besonders ermutigend sind. Auch wenn in den 1960er Jahren die gesellschaftlichen Normen in der westlichen Welt aufbrechen, die Haare länger und die Farben kräftiger werden, mit Drogen aller Art experimentiert wird: Der Wechsel des Geschlechtes ist eine Utopie, die wenigen dokumentierten Fälle von Lili Elbe 1931 in Dresden und Christine Jorgensen 1952 in Kopenhagen sind eher abschreckend als wegweisend.

Für James beginnt nach eigenen Worten eine Übergangszeit. Auf eigene Faust nimmt er weibliche Hormone, die ihn mit den Jahren verwandeln „von einer Person, die aussah wie ein gesunder Mann nun bald mittleren Alters mit den üblichen sexuellen Neigungen, in etwas, das gefährlich an einen Hermaphroditen erinnerte, allem Anschein nach weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig, und mehr oder weniger alterslos“. Zwar wird James ob der Wandlung peu à peu zum Gegenstand allgemeiner Neugier, fühlt sich aber kolossal erleichtert, weil eine Annäherung an die innere Frau stattfindet: „Ich wog ein ganzes Stück weniger als zuvor, aber auch meine Bewegungen waren leichter geworden, nicht mehr so heftig und abrupt, wie ich am Everest gewesen war, sondern luftiger, federnder.“ Jeder Einkauf, jeder Besuch im Restaurant, jede Sicherheitskontrolle am Flughafen wirft die Frage auf, ob die anderen nun eine Frau oder einen Mann sehen und wie das Wahrgenommenwerden durch Details der Garderobe – Frisur, Make-up, Tuch, Schmuck, Schuhwerk, Tasche – gesteuert werden kann.

1972 erfolgt dann der finale Schnitt auf dem Operationstisch des Dr. Burou in Casablanca; wäre diese Er-Lösung nicht gewesen, hätte Morris mutmaßlich den Tod gewählt. Der französische Gynäkologe ist seinerzeit die erste Adresse für Transsexuelle aus aller Welt. Er stellt keine Fragen, lässt sich vorab das üppige Honorar überweisen und schafft fantastische Ergebnisse, die seinen Ruf nur steigern. Morris kehrt zufrieden nach Großbritannien zurück, nimmt offiziell den Vornamen Jan an und wird fortan als Frau gesehen und behandelt. Sie tritt aus dem versnobten Travellers‘ Club aus, verschenkt den Smoking und gibt die letzten männlichen Privilegien auf. Zwar hadert sie mit der vergeudeten Zeit und Energie, zieht aber eine zuversichtliche Bilanz: „War es vielleicht doch all das wert, weil ich nun mit fünfundvierzig eine Art neuen, abenteuerlichen Frühling erlebte, wie er nur wenigen Menschen vergönnt ist? Fünfunddreißig Jahre als Mann, dachte ich, zehn in einem Zwischenzustand, und für den Rest des Lebens ich selbst.“

Aber sie muss sich auch mit dem Verlust des Unerreichbaren arrangieren: „Jetzt sah ich, wie sehr ich mich nach den Armen und der Liebe eines Mannes gesehnt hatte.“ Der maskuline Panzer ist perdu, Jan akzeptiert die Höflichkeit, die Frauen in der Öffentlichkeit entgegengebracht wird, findet Frauen verschlossener als Männer und weniger gesellig. Die gröberen Benachteiligungen, die Frauen in Gesetz und Geschäftsleben noch treffen, sieht sie als so gut wie überwunden an, als Relikt einer untergegangenen Zeit. Und sie muss erleben, dass sie mit dem Veröffentlichen von „Rätsel“ auf einen Schlag berühmt wird über die Fachkreise hinaus, dass der Wechsel des Geschlechts sie um Längen interessanter macht als ihr Fleiß, ihr Witz und ihre Disziplin beim Schreiben zuvor. Doch ist sie froh, dass sie Aufnahme in den Reihen der Frauen gefunden hat, „wenn auch nur auf den hinteren Plätzen oder ganz am Rande“. Als Autorin kann sie reüssieren; so kommt kommt ihr Roman „Last Letters from Hav“ 1985 auf die Shortlist des Booker Prize.

„Rätsel“ ist zum einen die Reflexion über die persönliche Identität und den steinigen Weg dahin. Es ist ebenso eine Hymne auf das sich nach dem II. Weltkrieg auflösende britische Empire, in das Jan passt wie das Wasser in die Flasche. Geht auch Morris‘ Maskulinität mit den Jahren zugrunde, ins Bodenlose fällt sie keineswegs wie so manche Transsexuelle, wird sie doch durch die stillen Regeln ihrer Klasse geschützt. Von klein auf gehören Intellektuelle, Verleger, Landadelige, Diplomaten und Geschäftsleute zur Familie, ebenso wie Gärtner, Chauffeur und Privatschulen. So ist denn ihr Blick zurück auf ihr Männerleben ebenso nostalgisch wie der volle Chor der Last Night of the Proms im Hinterhersingen des Land of Hope and Glory. Letzteres steht ja mittlerweile auf dem Index der Political Correctness; vermutlich wäre eine Veröffentlichung von „Rätsel“ heute schon deswegen schwierig, weil Mann und Frau dort komplementär gedacht werden und nicht queer. Wer den Text nicht als Wahrheit einer Autobiographie nehmen möge, lese ihn eben als Märchen.