Reise

Kerstin hatte sich ehrlich auf diese Reise gefreut. Es hatte mit der Genehmigung der beantragten Verlängerung des Urlaubs über den Abbau von Überstunden geklappt, die Fahrt in lediglich ein Land des Baltikums erschien unter den Bedingungen des grenzüberschreitenden europäischen Corona-Regimes vertretbar, anders als eine Tour durch fünf Länder von Danzig über Vilnius und Riga bis nach Tallinn, um dann von Helsinki aus zurück zu fliegen. Kerstin hatte ein Zimmer in Danzig bei ihrer bevorzugten Kette Scandic gebucht, die Zugfahrkarte in die alte Hansestadt gekauft und auch eine Ferienwohnung in Masuren reserviert und bezahlt. Sie hatte Karten studiert, Reiseführer und Fahrpläne konsultiert und sich eine Liste mit sehenswerten Orten gemacht. Und dann saß sie am Tag der Abreise, mit gepackten Fahrradtaschen, getauschten polnischen Zloty und dem Impfpass in ihrer Wohnung – und fuhr nicht rechtzeitig zum Bahnhof.

Der EuroCity an die polnische Ostseeküste fuhr mittags ohne sie los. Wie gelähmt saß Kerstin an ihrem Schreibtisch und ließ die Abfahrtszeit des Zuges bewusst verstreichen. Die letzte Nacht war eine schlechte gewesen, sie hatte kaum geschlafen und war morgens nicht erfrischt. Sie ging nach dem Frühstück zum Zeitungsladen, um sich mit Lektüre für die Stunden im Abteil einzudecken und legte sich gedanklich zurecht, was sie mitnehmen wollte, immer eingedenk des begrenzten Platzes und Gewichtes in den Fahrradtaschen. Routiniert suchte sie die wesentlichen Sachen zusammen, gepolsterte Radhose, Trikot mit Rückentaschen, Badeanzug, warme Jacke, Nachthemd, Handgel, Mückenspray, Flickzeug, warme Socken und ein dickes Buch. Und beim Packen kroch ihr eine kalte Angst die Wirbelsäule empor, setzte sich am Nacken fest und bremste ihre Vorbereitungen. Sie hörte eine Stimme leise, aber bestimmt sagen „Bleibe hier!“, erkannte sie als ihre und gehorchte.

Dabei gab es keinen vernünftigen Grund, so ad hoc auf eine touristische Reise nach Polen wie die geplante zu verzichten. Zwar steht das osteuropäische Land unter Beobachtung der EU, seitdem die konservative PiS-Regierung in Warschau sich gehäuft abfällig über Schwule, Lesben und Transgender äußerte und über 100 Kommunen vornehmlich im Süden des Landes sich zu „LSBTIQ-freien Zonen“ erklärten. Allerdings ist Kerstin durch ihr Alter, ihre Körperlänge und ihre Hässlichkeit vor queerfeindlichen Übergriffen gefeit; auch sieht sie von der Kleidung her beileibe nicht wohlhabend aus, so dass sich ein Überfall aus finanziellen Motiven erübrigte. Die Wetterprognose verprach milde spätsommerliche Temperaturen, das Fahrrad kam frisch aus der Inspektion, die Reisekasse stimmte. Sie war zweifach geimpft und an eine übermäßige Gefahr durch das Virus hatte sie ohnehin nie geglaubt; nicht zuletzt wollten die deutschen Lokführer erst Tage später wieder streiken. Warum also?

Am Morgen der geplanten Reise brach ein schwefliges Gemisch aus Scham und Selbsthass aus ihr hervor, das sie in einem Akt der Bestrafung an der so erfreut ersehnten Reise hindern wollte. Kerstin schämte sich so sehr dafür, auch diese Tour allein planen zu müssen; es gab niemanden, den oder die sie nach einer gemeinsamen Unternehmung hätte fragen können, auch wurde sie von niemandem ihrer Bekannten oder Verwandten gefragt. Wenige Tage vorher hatte ein Kollege ein schickes Video seiner Segeltour entlang der schwedischen Küste via Signal verschickt, natürlich in Begleitung seiner Freundin. Als Kerstin die Bilder sah, fühlte sie sich sprachlos und traurig in der Vorwegnahme eines weiteren Trips in die vertraute Einsamkeit. Denn bei aller Ortsveränderung und dem Baden in fremden Sprachen, das eigene verquere Ich und seine quälenden Schatten nahm sie unter der Haut über jede Grenze hinweg mit. Kerstin ist zwar geübt im Umgang mit der Einsamkeit, wird aber ab und an von ihr mit voller Wucht getroffen, in der Regel, wenn sie sie gespiegelt sieht im Glück zu zweit bei anderen.

Der dann die Oberhand gewinnende Selbsthass schien sie bestrafen zu wollen allein für ihre Planung der Aktivität. Am Ende sollte das minimale Risiko auf der Fahrt nach Polen zu unkalkulierbar werden. Dabei hatte Kerstin in den letzten Jahren durchweg gute Erfahrungen mit Touren nach Korsika, Finnland, Lettland und Estland gemacht; sie zehrte lange von den wohltuenden Bewegungen im Meer, am Berg, im Wald und auf offenem Feld, dabei fremden Idiomen lauschend. In Danzig wollte sie den Spuren der Blechtrommel und der Hundejahre Günter Grass‘ sowie der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc folgen, in Masuren wollte sie die Ruinen des Führerhauptquartiers der Wolfsschanze und die katholische Wallfahrtskirche Svieta Lipka besuchen, dazu die zahllosen Seen und dichten Wälder mit dem Tourenrad abfahren und morgens im See direkt vor ihrer Ferienwohnung Schwimmen gehen. Beim Meditieren über den Karten konnte sie sich wochenlang vorher lebhaft die Situation vor Ort imaginieren, zwei Stunden vor der Abfahrt vom Hauptbahnhof schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie musste unter einem akuten Krankheitsschub alles hinfallen lassen.

Kerstin ist keine Therapeutin, hält aber in ihrem Fall eine Diagnose des Asperger-Syndroms (F84.5 laut alter ICD-10, mittlerweile in der ICD-11 aufgehoben im autistischen Formenkreis) für recht wahrscheinlich. Bei dieser milden Form innerhalb des Autismus-Spektrums kommt es zu keinerlei frühkindlichen Störungen der intellektuellen und kognitiven Entwicklungen; im Gegenteil, oft sind überdurchschnittliche Inselbegabungen auf abstrakten Feldern wie der Mathematik, der Geographie, der Technik oder auch den Sprachen und ihren grammatikalischen Systemen zu beoachten. Allerdings entbehren die Patienten einer altersgerechten kommunikativen Reife, ihre soziale Interaktionsfähigkeit ist gehemmt, eine Empathiefähigkeit ist praktisch nicht vorhanden, die seelische Welt wird von Affekten belebt und nicht von differenzierten, reflektierten Empfindungen. Damit korrespondiert häufig eine begrenzte Mimik, das Gesicht gleicht einer starren Maske. In aller Regel ist auch das Feld der Liebe, der Intimität und der Sexualität verdorrt; die hier nicht gelöschten Energien werden kompensiert auf den Feldern des Wissens und der Kunst, wo sie schöpferisch kontrolliert werden können.

Dieses Leben als stumme Schwarz/Weiß-Figur in einem vertonten Farbfilm kann im Alltag erstaunlich lange gut gehen; instinktiv suchen sich Asperger-Patienten einen Beruf, wo sie viel Zeit allein verbringen und überwiegend Kontakte zu Menschen meiden können, etwa in einer Bibliothek, einem Labor, am Computer, am Zeichentisch, im Wald oder im Lager. Ihr Alltag im Beruf und in der Freizeit ist von steten Wiederholungen, Stereotypien und Routinen charakterisiert, Ordnung, Analyse und Struktur geben ihnen buchstäblich Halt. In zwangloser Gesellschaft fühlen sie sich meist unwohl, Spontaneität und Improvisation sind ihnen ein Gräuel. Der Kreis von Vertrauten oder Freunden bei Asperger ist meistens klein, die Verhältnisse bleiben oberflächlich, intime Beziehungen bereiten ihnen, bei aller Sehnsucht danach, so große Schwierigkeiten, dass sie sie aus Unwissen um ihren Anfang und aus Angst vor Abweisung gar nicht erst anzubahnen versuchen. Die daraus resultierende Einsamkeit ist zwar schmerzhaft, aber bekannt und damit keine lästige Überraschung.

Eine mutmaßlich genetische Anlage zum Asperger-Syndrom tritt selten als alleinige seelische Störung auf, diese kann durch einschneidende Erlebnisse wie Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Tod eines nahen Menschen forciert werden. Bei Kerstin, die sich an diffuse Symptome des Asperger in ihrer Kindheit und Jugend erinnert, etwa ihre Begeisterung für Bücher, Tabellen, Listen, Landkarten und das Schachspiel sowie die hartnäckige Neigung zum Einzelgängertum, kommt als wechselseitige Verstärkung die Transidentität hinzu. Durch deren Ausbruch im jungen Erwachsenenalter erlebte Kerstin eine Befreiung und ein nachholendes Wachstum, sie gewann an Ehrgeiz, Ausdauer, Kreativität und Arbeitsfähigkeit. Allerdings zementiert ihre Geschlechtslosigkeit ihren Status als sozialer Paria, was wiederum ihre Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen erhöht. Kerstin ist trainiert auf das Vermeiden von Begegnungen aller Art; sie nimmt gedanklich vorweg, dass die Anderen sie lächerlich, krank und wertlos finden und bleibt dann lieber allein, um das süße Gift der selbst bereiteten Enttäuschung zu kosten. Sie wusste es ja vorher, dass es nicht klappen konnte. Auch dies ist eine Form der Kontrolle und der Gewissheit.

Am Abend des Tages, an dem sie in Gdansk Glowny hätte eintreffen sollen, sitzt Kerstin allein an ihrem Schreibtisch und weint; die Packtaschen sind wieder ausgeräumt, ihr Inhalt in Regal und Schrank verstaut, sie hat niemanden anrufen können, um sich akut Hilfe zu holen. Es kommt selten vor, dass sie weinen kann; wenn dann die Tränen fließen und die Nase verschleimt, macht sich eine Erleichterung in ihrem Herzen breit. Ihre Gefühle sind nun widersprüchlich: Sie ist einem kosmischen Befehl gefolgt und hat sich eine Unternehmung versagt, die sie in weiten Teilen genossen hätte; eine perverse Genugtuung angesichts ihrer Feigheit sagt ihr, dass sie die geplante Reise gar nicht verdient habe; schließlich ist sie entsetzt über die Brutalität, mit der sie sich kurzerhand eine schöne Woche in einer unberührten Landschaft versagt. Ein Moralkater macht sich in ihrem Inneren breit, eine Entscheidung ohne erkennbare Logik oder Schuld, eine Grundangst als permanente Begleitung ihres Atmens.

Solange die Reise ins alte Ostpreußen auf der Karte, im Buch, in der Vorausschau, in der Fantasie stattfand, ging es Kerstin gut, ihre Freude war lebendig und echt. Doch je näher der reale Tag der Abreise rückte, desto schlimmer wurden ihre Selbstzweifel, die sie rational für unbegründet hielt, gegen deren emotionale Wucht sie aber nichts aufzubieten hatte. Unter Asperger haben Regeln eine stabilisierende Bedeutung, sie garantieren ein Funktionieren in einer als feindlich, zumindest als unverständlich erlebten Welt. Während andere sich bewusst ins Offene begeben und das Unbekannte begrüßen, bleiben Asperger beim Bekannten, so einengend sie es auch selbst erleben. Mit einem solch unterentwickelten Selbstwertgefühl können Gesunde nichts anfangen, deswegen bleiben Asperger in der Regel allein. Wenn sie dies allerdings in den eigenen vier Wänden tun können, fällt es nicht so auf. Darin liegt der Gewinn der abgesagten Reise für Kerstin. Sie hat es zumindest versucht. Die Gefahr, dass dieses blamable Scheitern publik wird, ist verschwindend gering – wer sollte sich dafür interessieren?