Reliquie

Das Gedächtnis ist medizinisch gesehen die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zu speichern und sie bei Bedarf wieder abzurufen, um sie dem Bewusstsein zur Verfügung zu stellen. Wenn auch einzelne Regionen des Gehirns anatomisch als Lokalisation des Gedächtnisses bestimmt werden können, ist seine Nutzung ein rein mentaler Akt. Dass Erinnerungen sowohl aktiv gesteuert als auch sinnlich ausgelöst sein können, demonstriert Marcel Proust eindringlich in der berühmten Madeleine-Episode seiner „Recherche“. Zusätzlich kann eine Narbe als Zeichen und chronische Schmerzquelle eine körperliche Aktivierung der Erinnerung einer überstandenen Erkrankung sein.

Wenn Kerstin am Grab ihrer Mutter steht, wird sie Gedächtnis und Gegenwart. Das Streicheln der Stele aus Baumberger Sandstein, das Nachziehen der Buchstaben und Zahlen mit den Fingern, das Aufschütten der Fläche mit feinem Rindenmulch, das Entzünden einer Kerze in der Laterne, das Sprechen eines Gebetes – all das ist in dieser Intensität nur an diesem speziellen Ort möglich. Kerstin kann hier in ihrem Inneren tiefere Schichten erreichen, von deren Existenz sie zwar weiß, die sie aber nicht in der Bewegung spürt. Die weitgehend belassene Einrichtung ihres Zimmers im Elternhaus konserviert ihre Erinnerungen an ihre Mutter. Schrank, Bett, Schreibtisch und Regal wirken wartend, als könne ihre Mutter sich jede Minute wieder niederlassen und einen weiteren Brief schreiben.

Die „Reliquie“ weist ebenso wie das Relikt die lateinische Wurzel relinquere = zurücklassen auf. Das Relikt ist das Überbleibsel, der Rest; die Reliquie wird wortgleich übersetzt, hat aber die zusätzliche Bedeutung des Heiligen, die den Zweck des Gegenstandes transzendiert. Im religiösen Kontext sind Textil, Papier, Geschirr oder Besteck der Zeugen und Märtyrer (m/w/d) gemeint, denen besondere Verehrung zuteil wird. In der Geschichte der katholischen Kirche gibt es zahllose Legenden um den Splitter des Balkens von Golgotha, den Faden des Gewandes auf dem Weg zur Kreuzigung oder die Scherbe des Kelches des Letzten Abendmahles, die an geschützter Stelle aufbewahrt werden; sie verbinden die Gläubigen mit dem Grund und dem Ziel ihres Glaubens und werden mit einer Wunderkraft aufgeladen.

In ihrer Wohnung in der fremden Stadt, wo sie auf Montage ist, bedient sich Kerstin verschiedener Reliquien, auch um die Erinnerung an ihre Mutter lebendig zu halten. Die Plastikschüssel zum Anrühren von Teig und Quark, am Rand die Abdrücke der Zähne des Hundes; weiche Frotteehandtücher, seit Urzeiten im Wäscheschrank der Familie liegend; schlichte schwarze Slips in der Größe, wie auch Kerstin sie trägt; Bücher aus ihrem Besitz, zum Teil mit handschriftlichen Widmungen versehen. Diese profanen Dinge hatte ihre Mutter über die Jahre immer wieder in der Hand; sie stellen nun für Kerstin eine Ergänzung ihres eigenen Haushaltes dar, vor allem schlagen sie eine Brücke über die Abwesenheit ihrer Mutter, die ihre Gedanken weiterhin ausfüllt.

Der Dornseiff stellt die „Reliquie“ in ein Wortfeld zum einen mit dem Gedächtnis, der Erinnerung und dem Andenken sowie zum anderen mit dem Kult, der Monstranz und der Zeremonie. Der letztere Zusammenhang ist einer des Sakralen und des Rituals, er adelt Dinge des täglichen Gebrauchs zu Elementen einer Feier der Erinnerung. Wenn Kerstin ihre nach Vanille schmeckende Stippmilch in der Schüssel zubereitet oder im „Zauberberg“, den ihre Mutter laut eigenhändiger Notiz auf dem Vorsatzblatt zum 70. Geburtstag von einer lieben Freundin zum Geschenk bekam, liest, hat sie das Gefühl, ihre Mutter sei nur kurz in den Nebenraum gegangen und komme gleich zurück, das Gespräch wieder aufzunehmen. Dafür sind Reliquien da: Gedächtnis und Gegenwart fallen in eins.