Schach ist nichts für schwache Geister. – Wilhelm Steinitz, erster Schachweltmeister, 1836 bis 1900
Die Geschichte Robert James „Bobby“ Fischers ist oft erzählt worden. Seinen Platz im Olymp des Schachs hat er auf ewig sicher, ebenso wie seine Launen und Unverschämtheiten notorisch sind. 1943 in Chicago geboren, ohne Vater aufgewachsen, mit 16 Jahren die High School in Brooklyn ohne Abschluss verlassen, weil er dort nichts lernen konnte für sein Ziel, Weltmeister zu werden, zählte er mit 19 Jahren zur Weltspitze. Gesegnet mit göttlichem Talent, stand er sich immer wieder selbst im Weg und zog sich für Jahre in den Schmollwinkel zurück. 1970 begann sein Siegeszug durch die Turniersäle der Welt, 1972 entriss er dem Weltmeister Boris Spasski aus der Sowjetunion in einem spektakulären Match die Krone. Danach versank er in Isolation, Antisemitismus und Verfolgungswahn.
Im Juli 1972, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, rückte Island in den Mittelpunkt der Schachwelt. Die Vulkaninsel mitten im nördlichen Atlantik, mit gerade 300.000 Einwohnern, ohne Militär, dafür mit einem Luftwaffenstützpunkt der USA, richtete das Match um die Weltmeisterschaft im Schach aus. Das Land ohne nennenswerte Schachtradition hatte sich im Bewerbungsrennen überraschend gegen Belgrad, Buenos Aires, Paris und Amsterdam durchgesetzt. Die isländischen Funktionäre, allesamt Amateure, gingen voller Eifer an die Aufgabe, dieses politisch aufgeladene Match zu organisieren, die Börse belief sich auf die damals stattliche Summe von 125.000 USD. Zum 50. Jubiläum dieses Wettkampfs, der ob der Kapriolen Fischers mehrfach vor dem Abbruch stand, ist nun ein neues Buch „The Match of all Time“ zum Thema erschienen, bereits 2020 auf Isländisch verfasst von Gudmundur G. Thorarinsson, Jahrgang 1939, dem seinerzeitigen (ehrenamtlichen) Präsidenten des isländischen Schachverbandes, im Zivilberuf Ingenieur.
1969 war Thorarinsson ohne sein Wissen zum Präsidenten gewählt worden, er ging davon aus, dass dieses Amt sein normales Leben nicht beeinflussen würde. Doch als die Wahl für das WM-Match auf Reykjavik gefallen war, dämmerte es Thorarinsson und seinen Getreuen, welch herkulische Aufgabe vor ihnen lag. War Fischer doch schon seit langem der Schrecken aller Funktionäre, Journalisten und Sponsoren in der Welt des Schachs. Immer wieder trieb er die Offiziellen mit kindischen Forderungen an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Mal stimmte die Beleuchtung nicht, dann saßen die Zuschauer zu nah am Spieltisch, das Honorar erschien immer zu niedrig, das Essen im Hotel war schlecht und und und. Auch in Reykjavik zog Fischer alle Register. So wollte er eine Leibwache aus vier Agenten haben, war mit dem allseits hoch anerkannten Schiedsrichter Lothar Schmid unzufrieden, verlangte einen eigenen Wagen, für den alle Ampeln in der Stadt auf Grün geschaltet werden sollten und forderte exklusiven Zutritt zum Schwimmbad seines Hotels.
Als am 1. Juli 1972 im isländischen Nationaltheater die Eröffnungszeremonie stattfand, waren der Weltmeister Boris Spasski mit seinen Sekundanten anwesend, der FIDE-Präsident Max Euwe, der isländische Staatspräsident, Minister, Journalisten, Botschafter und Ehrengäste – doch der Herausforderer Bobby Fischer fehlte. Am 2. Juli wurde per Los entschieden, wer welche Farbe in der ersten Partie haben sollte – und weiter war Fischer nicht im Land. Gastgeber, Weltmeister, FIDE und zahllose Schachfans wurden durch Fischers aggressive Abwesenheit brüskiert, Spasski wurde von seiner Delegation aufgefordert, ohne weiteres Warten nach Moskau zurück zu kehren. Doch Boris Spasski erwies sich als Gentleman und blieb am Spielort, der Laugardalsholl. Der US-Außenminister Henry Kissinger rief am 3. Juli Bobby Fischer an und sagte ihm, er solle endlich das Flugzeug nach Reykjavik besteigen und „für Amerika“ spielen. Und dann wurde gleichen Tags die Preisbörse vom schachbegeisterten Multimillionär James Slater aus England verdoppelt: „Now come out and play, chicken!“, sagte er ermunternd.
Und am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, landete eine Maschine der Icelandair aus New York in Keflavik, dem einzigen Flughafen des Landes, mit Bobby Fischer an Bord. Das Match, das zu einer heiklen diplomatischen Mission erster Güte geworden war, bevor der erste Zug am Brett geschah, stand vor der Rettung. Und am 11. Juli wurde die erste Partie eröffnet, Spasski hatte Weiß und spielte 1. d4. Nach einem ruhigen Verlauf stand ein remisliches Endspiel mit gleichfarbenen Läufern auf dem Brett. Ohne Not patzte Fischer, schnappte sich einen vergifteten Bauern und verlor seinen Läufer, die Partie war nicht mehr zu halten. Am 13. Juli erlebte die Laugardalsholl eine Aufführung aus dem Repertoire des absurden Theaters. Spasski saß pünktlich am Spieltisch und drückte die Uhr, doch von Fischer keine Spur. Nach einer Stunde vergeblichen Wartens wurde die Partie als für Spasski gewonnen gewertet, der Weltmeister führte mit 2:0 Punkten.
Das gerade begonnene, auf 24 Partien angesetzte Match stand erneut auf der Kippe. Die sowjetischen Funktionäre pochten auf den Abbruch des Wettkampfes, wegen des beleidigenden und unsportlichen Verhaltens Fischers. Dieser beschwerte sich über die Kameras, deren Surren ihn störe und die angeblich im Vertrag nicht erwähnt worden waren. Auch war er mit dem Schlüssel zum Verteilen der Wettkampfbörse nicht zufrieden und mäkelte gar an den traditionellen Regeln herum, dass bei einem Stand von 12:12 Punkten der Titel beim Champion bleibe. Aber immerhin schrieb er einen Brief an Spasski, in dem er für sein Fernbleiben zur zweiten Partie um Entschuldigung bat. Er hatte in Reykjavik lediglich einen Sekundanten für die Analyse der Partien an seiner Seite, zusätzlich einen Anwalt, der die Verhandlungen mit der FIDE und den Organisatoren führte. Fischer beharrte darauf, dass die dritte Partie nicht auf der großen Bühne der Laugardalsholl gespielt werde, sondern in einem kleinen Nebenraum, ohne Publikum, ohne Kameras; Spasski akzeptierte auch diese Bedingung langmütig.
Nach diesem entwürdigen Gezerre um das Preisgeld, die Bühne, das Publikum und das Fernsehen geschah in Reykjavik etwas schwer Fassbares. Fischer gewann die dritte Partie mit Schwarz, es war sein erster Sieg gegen Spasski in einem Turnier überhaupt. Der Amerikaner hatte offenbar zu seinem Schach gefunden und überspielte den Weltmeister unwiderstehlich, so wie er auch die Kandidatenwettkämpfe gegen Mark Taimanow, Bent Larsen und Tigran Petrosian dominiert hatte. Fischer siegte in der sechsten, der zehnten und dreizehnten Partie in großartigem Stil, diese Partien zählen bis heute zu den Juwelen der Schachkunst. Nach gut der Hälfte des über maximal 24 Partien gehenden Wettkampfes führte Bobby Fischer mit 8:5 Punkten. In der zweiten Hälfte spielte Spasski besser und konzentrierter, bekam auch Gewinnstellungen, konnte den Rückstand aber nicht mehr verkürzen. Am 1. September 1972 gab Boris Spasski die Abbruchstellung der 21. Partie ohne Wiederaufnahme auf, damit endete das Match vorzeitig beim Stand von 12,5:8,5 Punkten zugunsten des Amerikaners.
Das Buch „The Match of all Time“ rekonstruiert die Geschichte des Zweikampfes in Reykjavik aus der Perspektive des Organisators. Das Buch kommt ohne jede Notation und ohne jedes Diagramm aus, sodass die Leserin die zitierten Partien nicht nachspielen kann. Dafür werden offizielle Pressefotos ebenso abgedruckt wie die legendären Karikaturen Halldor Peturssons der beiden Kontrahenten. Auch finden sich Faksimiles der diversen Briefe Fischers an das Komitee, vor dem und während des Matches verfasst. Dabei ist Thorarinsson darum bemüht, sich eines (ab)wertenden Kommentars über das zickige Verhalten Fischers zu enthalten. Für ihn geht es darum, die einmalige Chance eines Schachweltmeisterschaftskampfes in seiner Heimat so gut wie möglich und akzeptabel für alle Beteiligten zu nutzen und beste Spielbedingungen zu garantieren. Vermutlich hat sich Anfang September 1972, als die beiden Spieler und ihre Delegation die Insel verlassen hatten, bei Thorarinsson und seinem Team vor allem Erleichterung breit gemacht: Caissa hatte ihnen geholfen, das Unmögliche möglich zu machen.
Doch die Geschichte von Fischer und Reykjavik sollte mit dem „Match of all Time“ nicht beendet sein. Nach dem Triumph von 1972 zog sich Fischer komplett vom Schach zurück. Er spielte entgegen großspuriger Ankündigungen kein Turnier mehr, 1975 trat er gegen den Herausforderer Anatoli Karpow nicht an und verlor den Weltmeistertitel am grünen Tisch. Er tauchte vollständig ab und wurde dadurch zum Mythos. Völlig überraschend trat er zwanzig Jahre später vor die Kameras und spielte ein „Revanche-Match“ gegen seinen alten Kontrahenten Boris Spasski. Seine Motivation war trivial: Er hatte das Honorar von Reykjavik durchgebracht und brauchte schlicht Geld. Schachlich war das Match 1992 gegen Spasski belanglos, politisch allerdings heikel. Fischer verstieß mit seinem Antreten in Belgrad gegen die Sanktionen der US-Regierung, während des Krieges im zerfallenden Jugoslawien hatte Washington US-Bürgern alle geschäftlichen Kontakte mit Serbien untersagt. Fischers theatralische Reaktion: Während einer Pressekonferenz spuckte er auf das entsprechende Dokument.
Doch auch diese Peinlichkeit erfuhr noch eine Steigerung. Fischer vagabundierte in den nächsten Jahren durch Asien, lebte auf den Philippinen, in Malaysia und schließlich in Japan. Im Jahr 2001 äußerte er sich nach den Anschlägen vom 11. September im Radio begeistert über die Attentate und behauptete, die USA bekämen jetzt endlich das, was sie längst verdient hätten. Die US-Behörden erklärten seinen Reisepass für ungültig, 2004 wurde Fischer am Flughafen Narita in Tokio verhaftet, ihm drohten die Auslieferung in die USA und lange Jahre im Gefängnis. In dieser Situation gründete sich auf Island ein Komitee zur „Befreiung“ Bobby Fischers. Nach längeren Überlegungen bot die isländische Regierung Fischer eine Aufenthaltsgenehmigung mit der Option einer isländischen Staatsbürgerschaft an. 2005 schließlich traf Fischer ein weiteres Mal in Keflavik ein. Aus dem einst ranken und schönen jungen Mann war ein verwilderter Greis geworden, übergewichtig, ungepflegt, zottelbärtig. Am Flughafen wurde er von Thorarinsson in Empfang genommen, der ihm ein Apartment in der isländischen Hauptstadt besorgte.
So schloss sich der Kreis. Bobby Fischer verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in Reykjavik, dem Ort seines größten schachlichen Erfolges und des Beginns seines persönlichen Abdriftens und Untergehens. Er hatte durch sein Spiel und sein divenhaftes Gebaren dem Schach eine bis dahin nicht gekannte Aufmerksamkeit beschert und es auf die Titelseiten der internationalen Presse gebracht, er gilt zurecht als der erste Profi der Schachgeschichte. 2008 verstarb der Autodidakt im Krankenhaus an Nierenversagen, in der Hand ein Foto seiner Mutter. Bei der Trauerfeier hielt Thorarinsson die Abschiedsrede, Bobby Fischers Grab liegt im Dorf Selfoss an der isländischen Südwestküste. Erst hier scheint der Mann, der zeitlebens die Einsamkeit gesucht hat und dem der Ruhm ein Graus war, seine Ruhe gefunden zu haben – so sieht es jedenfalls Gudmundur Thorarinsson, der lange Jahre Angeordneter im isländischen Parlament war. Er plädiert dafür, Fischer als begnadeten Schachspieler in Erinnerung zu behalten. Die Kiebitze finden bis heute Freude daran, seine Perlen nachzuspielen.