Das III. Reich ist, um es aphoristisch mit dem Historiker Ernst Nolte zu sagen, eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Ein Menschenleben nach dem Ende des II. Weltkriegs ist der Nationalsozialismus so präsent im öffentlichen Leben der Bundesrepublik wie keine andere Epoche der deutschen Geschichte. Der Dauerbezug auf das III. Reich ist Teil der DNS der Bundesrepublik, die praktisch im Wochenrhythmus an die Jahre zwischen 1933 und 1945 gemahnt. Vor dieser Folie der Schamlust ist der neue Dokumentarfilm „Riefenstahl“ einzuordnen, der gegenwärtig in den Kinos läuft. Die unbefangene Zuschauerin erfährt nichts Neues über die berüchtigte Regisseurin, sie wird stattdessen von der ersten Szene an eingestimmt auf ihre Verdammung.
Leni Riefenstahl wurde 1902 in Berlin geboren. Sie zeigte früh großes Interesse am Sport und am Theater, sie turnte, lief Schlittschuh, wanderte und nahm heimlich Tanzunterricht. Nach der Schule strebte sie eine Karriere als Tänzerin an, die sie aber 1924 nach einem Unfall, der ihr Knie schädigte, aufgeben musste. Ende der 1920er Jahre spielte sie in mehreren pathetischen Bergfilmen mit, bevor sie 1932 bei „Das blaue Licht“ neben der Hauptrolle auch die Regie übernahm. Die an die Macht drängenden Nationalsozialisten wurden auf die junge Regisseurin aufmerksam und beauftragten sie, einen Film über den Reichsparteitag 1934 zu drehen. „Triumph des Willens“ wurde zu einem Kassenschlager, die NS-Führung war mit der Arbeit so zufrieden, dass sie Riefenstahl mit der filmischen Dokumentation der Olympischen Spiele 1936 betraute. Die beiden Filme zu Olympia festigten Riefenstahls Ruf als visionäre Regisseurin.
Im September 1939 filmte sie die Wehrmacht während des Überfalls auf das benachbarte Polen, eine Arbeit, die sie nach wenigen Wochen unter Protest aufgab – als Kriegsberichterstatterin tauge sie nicht. 1944 drehte sie den Film „Tiefland“, der allerdings erst 1954 fertiggestellt und präsentiert werden konnte. Nach dem Ende des II. Weltkriegs wurde Riefenstahl im Spruchkammerverfahren als „Mitläuferin“ des NS-Regimes eingestuft. Dieser Beinahefreispruch von einer Tatbeteiligung während des III. Reiches änderte nichts daran, dass Riefenstahl in der deutschen wie internationalen Öffentlichkeit als Propagandistin des NS betrachtet wurde; im Nachkriegsdeutschland fand sie keine geregelte Arbeit beim Film, sodass sie ab den frühen 1960er Jahren mehrfach für Monate in den Sudan reiste und dort Fotografien des Nuba-Stammes machte.
Riefenstahl wurde immer wieder interviewt, sie war mehrfach Gast in Talkshows und reagierte dort auf die Anklage der Propaganda, die sie für das NS-Regime gemacht haben sollte. Ihre Ende der 1980er Jahre veröffentlichten Memoiren wurden ein internationaler Erfolg, der ihre Rolle als berühmteste Untote des III. Reiches nur festigte. Gleichzeitig erwies sie sich als ausgesprochen klagefreudig; 50 Prozesse soll sie angestrengt haben, um gerichtlich gegen aus ihrer Sicht falsche Behauptungen über ihre Rolle während des NS vorzugehen. 2003, wenige Monate vor ihrem Tod, heiratete Leni Riefenstahl ihren langjährigen, 40 Jahre jüngeren Mitarbeiter und Lebensgefährten Horst Kettner. Dieser verfügte vor seinem Tod 2016, dass Riefenstahls Nachlass an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehen sollte. Diesen Nachlass nun hat ein Team um die Produzentin Sandra Maischberger und den Regisseur Andreas Veiel ausgewertet und für die Dokumentation „Riefenstahl“ verwendet.
Dieser Film ist keine sonderlich kreative Leistung, er ist vielmehr ein dünner Aufguss im Gewand der Enthüllung. Er montiert Szenen aus Riefenstahls Filmen, speziell über Olympia, mit Interviews, die sie von den 1960er bis in die 1990er Jahre gab. Private Aufnahmen aus dem Nachlass, auch Mitschnitte von Telefonaten und triviale Schnappschüsse, werden mit diesem großenteils bekannten Material kontrastiert; das erkennbare Ziel der Filmemacher ist die Aufrechterhaltung der Dämonisierung Riefenstahls. Sandra Maischberger, bekannt als Gastgeberin einer Talkshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, entblödet sich nicht, Riefenstahl als „Meistermanipulatorin“ zu identifizieren, die gezielt die Nähe zu Adolf Hitler gesucht habe, um ihre Arbeit voranzutreiben. Dafür sei sie auch bereit gewesen, mit filmischen Mitteln Propaganda für das NS-Regime zu leisten.
Worin denn nun diese Propaganda bestanden habe, wollen Maischberger und Veiel am Beispiel „Olympia“ rekonstruieren. Sie werfen Riefenstahl implizit vor, das Gesunde, Jugendliche, Prachtvolle und Monumentale der Welt des Sports zu inszenieren und dabei das Schwache, Fremde, Kranke bewusst zu übersehen. Ein merkwürdiger Punkt, lebt doch das ganze Konzept des sportlichen Wettkampfes vom edlen Streit um den ersten Platz, um die Goldmedaille, um den Sieg. Dieser Vorwurf war Riefenstahl bereits in den 1970er Jahren im TV gemacht worden; damals reagierte sie mit dem Hinweis, dass das Körperideal, das in „Olympia“ gefeiert werde, nichts NS-Typisches sei. Vielmehr gehe dieses konform mit dem Körperideal der griechischen Antike, dem römischen Reich und der Renaissance, wo sich offenbar überzeitliche Vorstellungen von einem Athletenleib zeigten. Nota bene: Die ersten paralympischen Spiele der Geschichte, wo Leni Riefenstahl behinderte Sportler hätte zeigen können, fanden erst 1960 in Rom statt.
Die „Olympia“-Filme sind in dieser Lesart keine schöpferischen Leistungen, sondern dienen ausschließlich der Glorifizierung der sportlichen Helden und des NS-Regimes gleich mit. Die besondere Technik Riefenstahls wird nicht sonderlich gewürdigt; dabei erprobte sie Verfahren, die im heutigen Sportfilm als etabliert gelten. Für „Olympia“ rekrutierte Riefenstahl 30 Kameramänner, die an allen erdenklichen Ecken des Stadions postiert wurden und aus allen möglichen Perspektiven die Athleten filmten. Dabei kamen Teleobjektive ebenso zum Einsatz wie auf Schienen mitfahrende Kameras. Hoch montierte Linsen erlaubten einen Panoramablick auf das Stadion, aus Gruben heraus wurden Sportler in der Bewegung vor dem grenzenlosen Himmel abgebildet. Im Schneideraum sichtete Riefenstahl das immense Material und wählte die besten Szenen aus.
Dabei zeigt sie ein untrügliches Gespür für die Dramaturgie. In einer Einstellung sieht man den US-Leichtathleten Jesse Owens, wie er sich dehnend und streckend auf den Anlauf zum Weitsprung vorbereitet. In der nächsten Einstellung zieht man einen männlichen Kopf in Großaufnahme, der sich drehend mutmaßlich den Sprung verfolgt; in der abschließenden Szene fliegt Owens weit in die Sprunggrube und gewinnt Gold. Dieser Perspektivwechsel während einer abgeschlossenen Geschichte war seinerzeit umwälzend; heute ist diese Technik Standard im Sportfilm, egal ob bei der Übertragung eines Fußballspieles, der Tour de France oder eines Tennis-Matches. Auf YouTube sind die beiden „Olympia“-Filme in voller Länge zu sehen, sodass sich die unvoreingenommene Betrachterin ein eigenes Bild von Riefenstahls Schaffen machen kann.
Sicher sind die Filme über „Olympia“ und den Reichsparteitag suggestive Machwerke, die auf Überwältigung und Emotionalisierung des Publikums zielen. Doch so weit schauen Maischberger und Veiel gar nicht. Sie spinnen die Mähr weiter, die Deutschen hätten das III. Reich nie wirklich aufgearbeitet, sie hätten es nach Kräften verdrängt und sehnten sich nach einem Ende der Schuld; Riefenstahl wird vor diesem Hintergrund als ideologische Überzeugungstäterin dem engsten NS-Zirkel zugeschlagen, ganz so, als habe sie mitentschieden, welche Länder wann angegriffen werden und welche Opfer wann wohin deportiert werden sollten. Maischberger und Veiel erweisen sich als unwillig, Riefenstahls Werke zunächst unter ästhetischen Aspekten zu analysieren, als wollten sie eine Faszination für die oder zumindest Anerkennung der filmischen Leistungen unbedingt vermeiden. Stattdessen liefern sie Argwohn und Moralüberschuss – ärgerlich und überflüssig.