Mehr Schein als Sein? Für einen Hochstapler stellt sich die Frage nach der Wahrheit nicht, er gibt dem Publikum genau das, was es sehen will. Die US-amerikanische Autorin Patricia Highsmith (1921 – 1995) hat mit ihrem Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ einen charmanten Mörder geschaffen, der kaltschnäuzig die Identität seines Opfers annimmt, um ein Leben im Luxus zu führen. Highsmith missachtet die Konventionen des Krimigenres, indem sie unverhohlen die Sehnsüchte und Motive des Verbrechers von nebenan schildert und sich für eine Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch seine Bestrafung partout nicht interessiert.
Patricia Highsmith wurde 1921 im texanischen Fort Worth geboren und wuchs in New York City auf. Die Mutter arbeitete als Graphikerin, ihren leiblichen Vater lernte sie erst mit zwölf Jahren kennen. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft am Barnard College, schrieb Texte für die Superman-Comics und konnte 1945 eine erste Kurzgeschichte an das Magazin Harper’s Bazaar verkaufen. 1948 bekam sie ein Stipendium für die Künstlerkolonie Yaddo in Saratoga, die sie Jahrzehnte später testamentarisch als Haupterbin ihres Vermögens bedenken sollte. Sie feierte mit ihrem Debüt „Zwei Fremde im Zug“ von 1950 ihren literarischen Durchbruch; Alfred Hitchcock kaufte die Filmrechte am Buch, in der Folge wurde sie weltberühmt. Den Roman „The price of salt“ über eine lesbische Liebe, von dem allein im Erscheinungsjahr 1952 über eine Million Exemplare verkauft wurden, schrieb sie unter dem Pseudonym Claire Morgan. 1963 siedelte Highsmith nach Europa über; sie lebte einige Monate im italienischen Positano, dann bis 1967 in London und Suffolk, in der Folge bis 1981 in der Île-de-France und schließlich aus steuerlichen Motiven im Tessin.
Patricia Highsmith war sich bereits in Jugendjahren ihrer Homosexualität bewusst. Zeit ihres Lebens hatte sie zahlreiche Affairen resp. Beziehungen zu Frauen, ohne tiefere emotionale Bindung, die selten länger als zwei Jahre dauerten. Highsmith trank und rauchte viel zu viel, lebte ihre Misanthropie weidlich aus und verbrachte ihre Zeit bevorzugt in Gesellschaft von Katzen und Schnecken. Ungeachtet dieses bizarren Lebenswandels schrieb sie diszipliniert täglich bis zu acht Seiten Prosa, umriss Ideen für neue Geschichten in Notizbüchern und verfasste zahllose Briefe. Sie starb 1995, ihre Urne wurde in Tegna, ihrem letzten Wohnort, beigesetzt.
Formal schreibt Patricia Highsmith Kriminalromane, wobei sie das bewährte Muster des „Wer war es?“ aufhebt, vielmehr die Perspektive des getriebenen, oft latent homosexuellen Täters einnimmt und ihm bei der Durchführung seines Plans über die Schulter schaut. Moralische Fragen spielen dabei keine Rolle, sie skizziert das Verbrechen als extremes Mittel zum Erreichen eines konkreten Zweckes. Ihre psychologisch gefärbten, dialoglastigen Romane passen atmosphärisch eher in die Nähe zu Fjodor Dostojewski und Albert Camus als zu Agatha Christie und Dorothy Sayers. Highsmith kreiert ein Gefühl der Beklemmung, das das Verhältnis der Personen ihrer Bücher zueinander bestimmt und das sich auf die Lesenden überträgt; sie werden, in den Worten eines Kritikers, mit „dem Bösen konfrontiert“.
Mit dem Buch „Der talentierte Mr. Ripley“ (US-Original 1955, deutsche Erstveröffentlichung 1961), schuf sie ihren bekanntesten Charakter: Der junge Mann schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, als er von einem New Yorker Geschäftsmann den Auftrag bekommt, dessen Sohn im sonnigen Italien aufzuspüren und ihn zur Rückkehr in die USA zu bewegen. Vor Ort im Golf von Neapel nimmt Tom Ripley mit Dickie Greenleaf Kontakt auf, der an der Seite seiner Freundin Marge Sherwood seine Zeit mit Malen verbringt, und findet Gefallen an dessen Leben als Playboy zwischen Strand, Bar und Bett. Tom schafft eine Gelegenheit, mit Dickie allein einen Bootsausflug zu unternehmen, währenddem er diesen kaltblütig erschlägt und im Meer vor San Remo versenkt. Er beschließt, Dickies Identität anzunehmen und dessen Leben des dolce far niente weiterzuführen. Keine große Schwierigkeit, wie Highsmith kommentiert: „Wenn man die Vorstellung nur früh genug übt, wird sie bald zum wahren Charakter. Und das Eigenartige im Wesen des Menschen ist, dass die Falschheit am Ende zur Wahrheit wird.“
Tom kann nur dort als Greenleaf auftreten, wo man diesen nicht kennt; Ripley muss er gegenüber jenen bleiben, die ihn als solchen getroffen haben. Er imitiert Dickies Schreibstil, verfasst in seinem Namen Briefe an die Eltern in den USA sowie an Marge Sherwood und löst mit seiner gefälschten Unterschrift plus gestohlenem Pass Schecks bei der Bank ein. Seine Travestie hat Erfolg, er ist der italienischen Polizei immer einen Schritt voraus, dabei vor einem weiteren Mord nicht zurückschreckend und Dickies Verschwinden als Selbstmord inszenierend. Am Ende gelingt es ihm gar, sich mit einem fingierten Testament Greenleafs auskömmliches Erbe zu sichern. Ripleys „Talent“ besteht in der konsequent ausgeführten Täuschung seiner Umgebung über seine Absichten und sein Vergehen, begleitet von chronischer Taubheit der Stimme des Gewissens gegenüber.
In einer Welt der Oberflächenreize erfährt Tom, dass Kleider Leute machen, Dickies feine Textilien schenken ihm buchstäblich eine andere Haut. Nach Vollzug des Mordes verliert er nicht die Nerven, sondern legt mit erstaunlicher Souveränität Spuren ins Nichts; seine Hochstapelei nimmt er geradezu sportlich, er trainiert das Fälschen der Unterschrift Dickies ebenso sorgfältig wie das Erfinden einleuchtender Lügen: „Unter der Oberfläche wäre er so ruhig und selbstsicher gewesen, wie er es nach dem Mord an Freddie gewesen war, weil seine Geschichte unwiderlegbar war. Wie die Geschichte über San Remo. Seine Geschichten waren gut, weil er sie sich intensiv vergegenwärtigte, so intensiv, dass er sie fast selbst glaubte.“
Schließlich gelingt es Ripley, die Verfolger abzuschütteln und Dickies Nachfolge anzutreten. Die geschilderten Verbrechen wirken als konsequente Fortsetzung des destruktiven Umgangs der Menschen miteinander und rücken Patricia Highsmith in die Nähe des französischen Existenzialismus. Sie machte Ripley später zu einer Serienfigur, wobei die weiteren Romane mit diesem Charakter (1970, 1974, 1980 und 1991) nicht die kalte Lust der Premiere erreichten. Hintersinnig der Name seines Anwesens nahe Fontainebleau: Der Belle Ombre, der Schöne Schatten, legt sich hegend über Toms Geheimnis; Ripley wirkt wie ein Repräsentant einer Welt des Scheins, in der er sich systemkonform verhält. Oder in den Worten Felix Krulls, einem anderen Hochstapler aus dem zeitgleich verfassten gleichnamigen Roman Thomas Manns: „Die Welt will betrogen sein, sie wird sogar ernsthaft böse, wenn Du es nicht tust.“