Thomas Mann hat in seinem „Zauberberg“ das Russische eine knochenlose Sprache genannt; der Bassist René Pape schwärmt davon, wie schön es klinge und wie gut es sich singen lasse. Sascha kann beide Einschätzungen nachvollziehen, er ist fasziniert von dieser melodischen und zugleich schroffen Sprache, die auf den Straßen an jeder dritten Ecke zu vernehmen ist. Sascha findet es nur konsequent, nachdem er sich in den letzten Jahren vermehrt mit der russischen Geschichte, Politik, Kunst und Musik beschäftigt hat, nun mit dem Erlernen der russischen Sprache zu beginnen. Ein löbliches Vorhaben, allerdings hängt er schnell in seinen intellektuellen Fesseln, ЌΟНЀЧHO.
Das kyrillische Alphabet erschließt sich ihm rasch, auf seinen Reisen nach Estland und Lettland, wo es große Minderheiten ethnischer Russen gibt, hat er autodidaktisch damit begonnen, XOPOШO. Es beruht im Wesentlichen auf den griechischen Buchstaben, einige lateinische Lettern werden (mit teils identischen, teils differenten Bedeutungen) übernommen, weitere tauchen exklusiv auf, etwa die lautwertlosen Zeichen zum Erweichen oder Erhärten eines vorangehenden Konsonanten. Einzelne Wörter und einfache Phrasen zu lesen fällt ihm nicht schwer, jedoch beim Lesen eines längeren Textes gerät er ins Schlingern. Gedruckte Seiten kommen ihm wie in Kapitälchen gesetzt vor, die Buchstaben stehen alle auf einer Höhe und kennen keine Ober- und Unterlängen. So wirkt jeder Absatz ausgezeichnet, was das Erfassen einzelner Silben für das Auge verlangsamt.
Der bezahlte Unterricht, den er nimmt, findet in einem Kulturzentrum im Kiez statt. Die Gruppe besteht aus drei Schülern (m/w/d) und einer muttersprachlichen Lehrerin, eine an sich luxuriöse Situation zum Lernen. Die Teilnehmer haben unterschiedliche Kenntnisse; die Klasse ist einer Dorfschule vergleichbar, wo mehrere Jahrgänge zugleich unterrichtet werden. Sascha müht sich redlich ab mit den für mitteleuropäische Zungen und Gaumen ungewohnten Konsonantenfolgen. Vokale werden mal offen und kurz, mal geschlossen und lang artikuliert, je nachdem, ob sie innerhalb des Wortes betont oder unbetont sind. Charakteristisch ist die Vielzahl an Zisch- und Schaumlauten, weiterhin das häufige Jotieren einzelner Vokale.
Als eigener Zweig der indogermanischen Sprachfamilie hat sich das Slawische vermutlich um 3000 v. Chr. herausgebildet. Innerhalb des Slawischen gehört Russisch neben dem Weißrussischen und dem Ukrainischen zu den ostslawischen Sprachen. In der Sowjetunion mussten es die Menschen in den 15 Unionsrepubliken als Verkehrssprache des Imperiums erlernen, daher wird es heute noch weit über Russland heraus verstanden und gesprochen. Die russische Literatur zählt in Prosa, Drama, Essay und Lyrik zu den reichsten und schönsten der Welt. Für das Schriftbild des Russischen ist der Apostel Kyrill verantwortlich, der im 9. Jahrhundert die Rus christlich-orthodox missionierte. Auf Zar Peter I. geht Anfang des 18. Jahrhunderts eine Reform und damit Vereinfachung des kyrillischen Alphabets zurück.
Das heute geläufige Russisch führt den Kanzleistil der Metropolen Moskau und Petersburg zu Zeiten Katharinas II. fort, die sich um regen Austausch mit Frankreich, Preußen, England und Österreich-Ungarn bemühte. Hier liegt die Wurzel für die beträchtliche Menge an Lehnwörtern aus dem Deutschen und Französischen, vom „Teatr“ über den „Awtobus“ und das „Journal“ bis zur „Mama“. Der etymologische Ursprung des Namens „Rus“ ist nicht eindeutig geklärt. Bevor die Slawen um das Jahr 800 mit der Kiewer Rus ein erstes staatenähnliches Gebilde errichteten, zogen von Schweden kommende Wikinger handelnd und plündernd über Wolga, Don und Dnjepr vom Baltischen hinab zum Schwarzen Meer. Ihre Boote wurden von Rudern angetrieben, das im Schwedisch-Finnischen verwendete „Ruotsi“ für diese Tätigkeit wurde slawisch wohl zu „Rus“ assimiliert.
An der Spree leben nach groben Schätzungen etwa 125.000 Menschen mit Russisch als Muttersprache. Nach dem Ende der UdSSR 1991 kamen aus deren Konkursmasse zahlreiche Menschen hierher, teils jung und gut ausgebildet, teils alt und schlicht. Sie leben bevorzugt in Charlottengrad (reich und vulgär) oder in Marzahn (arm und stumm). Allen gemein ist das Behaupten einer hermetischen Kultur, die den Kontakt zu Deutschen im Alltag ablehnt. Sascha kommt es so vor, als ob zur Aussprache des Russischen von der Zunge viel mehr Mund- und Rachenraum genutzt wird als im Deutschen. Er ist viel zu alt, um die komplexe Sprache jemals auch nur annähernd flüssig und korrekt zu sprechen. Sein Hörverständnis tendiert gegen Null, seine Artikulation ist voller Fehler, sein Wortschatz lediglich zweistellig, Grammatik und Syntax verlassen sein Gedächtnis, alles peinlich weit entfernt vom niedrigsten Niveau A1 des Europäischen Referenzrahmens.
Dabei ist er linguistisch durchaus wach. Auf dem Gymnasium wuchs er mit Englisch und Französisch auf, heute liest und schreibt er routiniert Texte in diesen Sprachen. Anders als in der DDR war im Westfälischen das Erlernen des Russischen niemals Thema. Während er über seinen Vokabeln, Kasus und Konjugationen brütet, bekommt er Einsicht in ein Reich voller fremder Werte, Traditionen und Mythen. In seinem Hirn verschieben sich peu à peu die während des Kalten Krieges gefestigten Koordinaten zur Beurteilung politischer und historischer Prozesse. Wie recht hatte Ludwig Wittgenstein, als er festhielt, die Grenzen seiner Sprache seien die Grenzen seiner Welt! Sascha bleibt innerhalb der Mauern seiner Muttersprache verhaftet, aber immerhin sieht er den Zaun zum Russischen und kann einen Blick auf das weite Land dahinter erhaschen. Diese nachholende Auffächerung der Perspektive fördert seine Neugier auf das Unbekannte und bindet ihn zugleich an seine Herkunft.
Wenn Sascha im Kontakt zu Russen (m/w/d) sich versuchsweise deren Idioms bedient, etwa beim Schachspiel im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur, fallen diese aus Barmherzigkeit umstandslos ins (gebrochene) Deutsche. Er macht erneut die Erfahrung, dass er nicht willkommen ist. Das geht soweit, dass seine Anträge auf Visa für Reisen in die Russische Föderation von der Botschaft partout nicht bearbeitet werden. Sein Zugang zum Kosmos Alexander Puschkins ist theoretisch-ästhetischer Natur. Niemals wird man ihn sagen hören Я ЛЮБЛЮ ЃOBOPИTЬ ПO-PУCCKИ, einfach weil niemand mit ihm kommuniziert. So bleibt er auf das langsame Dechiffrieren der Schlagzeilen der PУCCKAЯ MЫCЛЬ beschränkt, das Lesen und Genießen von Anton Čechov oder Fedor Dostoevskij im Original ist ihm verwehrt.