Im März 1890 schreibt der russische Schriftsteller Anton Čechov an seinen Verleger Aleksej Suvorin: „Aus den Büchern, die ich gelesen habe und lese, geht hervor, daß wir in den Gefängnissen Millionen von Menschen haben verfaulen lassen, ziellos, barbarisch; wir haben die Menschen in Ketten Zehntausende von Verst durch die Kälte getrieben, sie mit Syphilis infiziert, demoralisiert, Verbrecher vermehrt und all das auf die rotnasigen Gefängnisaufseher abgewälzt.“ Kurz darauf macht sich Čechov auf die beschwerliche Reise auf die Sträflingsinsel Sachalin im sibirischen Osten, um die dortige Verbanntenkolonie zu besuchen. Sein Buch „Die Insel Sachalin“ steht zwischen Fedor Dostoevski und Varlam Šalamov im Kanon der russisch-sowjetischen Lagerliteratur.
Anton Čechov wurde 1860 im südrussischen Taganrog am Asovschen Meer in bescheidenen Verhältnissen geboren. Nach dem Abitur ging er 1879 dank eines Stipendiums nach Moskau und studierte dort Medizin. Während seines Studiums suchte er Kontakt zur literarischen Szene der Stadt und veröffentlichte erste Kurzgeschichten, als Pseudonym nutzte er unter anderem „Arzt ohne Patienten“. Schon früh zeigte sich sein lakonischer Stil, mit dem er liebevoll teilnehmend die Lebenswelten des russischen Kleinbürgertums schilderte. 1884 schloss er sein Studium mit dem Titel eines Kreisarztes ab, 1885 lernte er in Petersburg seinen späteren Verleger Aleksej Suvorin kennen. 1887 wurde sein Drama „Ivanov“ in Moskau uraufgeführt, 1888 wurde Čechov mit dem Puschkin-Preis der Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. 1890 reiste er auf die Sträflingsinsel Sachalin und dokumentierte während dreier Monate das Leben der Häftlinge und Verbannten. Seine Aufzeichnungen erschienen 1893/94 in der liberalen Monatszeitschrift PУCCKAЯ MЫCЛЬ, die Buchausgabe wurde 1895 publiziert.
Der mittlerweile berühmt und wohlhabend gewordene Čechov siedelte 1892 ins 200 km südlich von Moskau gelegene Melichovo über, wo er als Arzt gegen die Cholera kämpfte und mehrere Dorfschulen gründete. Zugleich fand er in der Abgeschiedenheit des Landlebens die notwendige Ruhe zum Schreiben als Erzähler und Dramatiker. 1895 traf er den hoch geschätzten Lew Tolstoi, 1897/98 folgte eine halbjährige Reise nach Nizza und Biarritz, 1898 festigte das Theaterstück „Die Möve“ seinen Ruhm. Im Jahr darauf zog er nach Jalta auf die Krim, deren mildes Klima lindernd auf seine chronische Tuberkulose wirkte. Er veröffentlichte den Erzählband „Die Dame mit dem Hündchen“ und das Theaterstück „Onkel Vanja“, 1900 traf er den jungen Autor Maxim Gorki, den er förderte. 1901 heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper, im selben Jahr hatte sein Drama „Drei Schwestern“ Premiere am Moskauer Künstlertheater. 1904 wurde seine Komödie „Der Kirschgarten“ umjubelt, im Sommer des Jahres starb Anton Čechov während eines Kuraufenthaltes in Badenweiler. Er liegt begraben auf dem Friedhof des Jungfernklosters in Moskau.
Mit Beginn der Romanov-Dynastie zum Ende des 16. Jahrhunderts setzte die Expansion der Moskauer Rus nach Osten gen Sibirien ein. Genauso alt ist die Praxis der Katorga, die Deportation verurteilter Sträflinge zur Zwangsarbeit im Fernen Osten des wachsenden russischen Imperiums. Sie schufteten im Straßenbau, in der Kohlengrube, in der Goldmine und im Forst. Diese Form der Bestrafung sollte zum einen die Häftlinge über die Fron zu geläuterten Mitgliedern der Gesellschaft machen, zum anderen die unermesslichen Weiten Sibiriens kolonialisieren und peu à peu urbar machen. Zur Katorga wurden neben gewöhnlichen Kriminellen und Berufsverbrechern auch politische Oppositionelle verurteilt; über 90 % der Verurteilten auf Sachalin stammten nach Čechov aus dem Bauernstand.
1875 kam nach einem Vertrag mit Japan die Insel Sachalin vollständig zu Russland, im Ochotskischen Meer am Ostrand des asiatischen Kontinentes gelegen, rund 10.000 km von Moskau entfernt. Bereits Anfang der 1850er Jahre begann die Besiedelung der gut 1.000 km Länge messenden Insel, zunächst mit Soldaten, sodann mit Sträflingen, die nach Verbüßung ihrer Haft zu einer Existenz als Kolonialbauern gezwungen wurden. Ende des 19. Jahrhunderts, noch vor dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn, dauerte die Expedition nach Sachalin vom europäischen Teil Russlands Monate. Für den Hinweg nutzte Čechov, der einen Korrespondentenausweis der Zeitschrift HOBOE BPEMЯ mitführte, abwechselnd Pferdekutschen sowie Flusskähne und -dampfer; die Rückreise erfolgte per Schiff entlang der asiatischen Küste via Korea, Hongkong, Siam und Ceylon durch den Suezkanal und den Bosporus.
In den drei Monaten auf Sachalin arbeitet Čechov konzentriert und methodisch wie ein Ethnologe beim Feldversuch. Dabei behält sein Bericht den sachlichen Tonfall eines medizinischen Protokolls, das die Fakten detailliert beschreibt und auf moralische Kommentare oder literarische Ausschmückung verzichtet. Er bereist die Insel von Nord nach Süd; er inspiziert Gefängnisse, Bauernhöfe, Häfen und Kasernen; er spricht mit Kommandanten und Aufsehern; mit an den Karren geschmiedeten Sträflingen und freigelassenen Bauern; mit Männern und Frauen; mit russischen Neubürgern und den Ajnu, den Ureinwohnern Sachalins. Dabei gilt Čechovs Interesse der Organisation der Katorga wie den anrührenden Schicksalen der Inhaftierten gleichermaßen. Im Jahr 1892 lebten auf Sachalin 14.500 zur Katorga Verurteilte, das entsprach 13 % aller in Russland Inhaftierten; 7 % der auf Sachalin lebenden Häftlinge und Verbannten waren weiblich.
Čechov beschreibt die grausige Enge in den Lagerbaracken ohne eine Minute Privatheit selbst beim Benutzen der Latrinen, das monotone Klirren der Fuß- und Handketten, die immerzu beißenden Wanzen, den Brechreiz auslösenden Gestank der ungewaschenen Leiber in ihren verdreckten Kitteln, die stickige Luft in den überbelegten Zellen, die harte körperliche Arbeit im Schlamm ohne Maschinen bei Regen, Hitze und Wind, das verheißen gelegene Festland mit der lockenden Heimat Russland, den Schwarzhandel und die Korruption. Er zitiert Statistiken über die Taten und den sozialen Status der Insassen in den Gefängnissen und der Bauern in den Kolonien, er führt Buch über den dürftigen Ertrag der Feldarbeit und über das menschenfeindliche Klima der Tajga, die sich gegen eine landwirtschaftliche Erschließung stemmt.
Sein nüchternes Fazit: Es sei absurd zu glauben, dass ein Mensch nach zwanzig Jahren Katorga auf Sachalin frohen Mutes seine Herausforderung als Bauer auf dem Eiland annehme. Im Gegenteil, die starrende Armut, die schlechte Ernährung samt Skorbut, Ruhr, Typhus und Hunger, die Ödnis der Landschaft, der Frost bis in den Sommer hinein und jedwede fehlende Kultur, die verbreitete Prostitution selbst der Kinder, Jugendlichen und Greisinnen ließen die Menschen nur noch weiter verkommen und verzweifeln – diesen Zustand tauft Čechov „febris sachalinensis“.
Auch stünden die administrativen Kosten zur Betreibung der Kolonie auf Sachalin in keinem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen: Die Insel könne nicht einmal eine Subsistenzwirtschaft vorweisen, die geförderten Bodenschätze erreichten ein vernachlässigbares Niveau. Der russische Staat gebe viel Geld für einen Strafvollzug aus, der die Deportierten keineswegs resozialisiere, sondern sie dauerhaft aus der Gesellschaft ausschließe und sie über Gebühr quäle und vertiere. Sachalin sei ein Symbol einer administrativen Lüge.
„Bei uns ist bekanntlich die Zwangsarbeit mit lebenslänglicher Ansiedlung in Sibirien verbunden; der zur Katorga Verurteilte wird aus der normalen menschlichen Umgebung entfernt, ohne Hoffnung auf Rückkehr, und somit stirbt er gleichsam für die Gemeinschaft, in der er geboren und aufgewachsen ist“, schreibt Čechov. Gleichwohl wird im Zarenreich von „Besserung“ oder später in der Sowjetunion von „Umschmiedung“ der Verurteilten durch Zwangsarbeit gesprochen. Tatsächlich liefert „Die Insel Sachalin“ die Blaupause für den späteren „Archipel Gulag“, der das weite Land mit einem Netz aus Lagern überzieht, in dem die „Volksfeinde“ ausgebeutet und liquidiert werden. Dagegen kann der Moralist und Ästhet Anton Čechov nur mit literarischen Mitteln protestieren.