Scham

Von den Emotionen, die das menschliche Leben unbewusst grundieren, zählt die Scham zu den stärksten, gleichzeitig zu den übel beleumdeten, denen Urteil und Strafe zwingend folgen. Sich für etwas zu schämen resp. für etwas beschämt zu werden, gleicht dem Eingeständnis eines Misserfolges und geht mit einem Gesichtsverlust einher, mit der Gefährdung der sozialen Position. Die Scham ist ein Gefühl unter strenger Beobachtung, das zielgerichtet einsam macht.

„Scham ist eine negative Emotion, die entsteht, wenn man das Gefühl hat, bestimmten Werten, Normen, Regeln oder Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Sie geht mit physiologischen Reaktionen wie Erröten und mit charakteristischen Verhaltensweisen einher, die dem Wunsch entspringen, sich unsichtbar zu machen.“ So skizziert der Dorsch die Scham. Die etymologische Herkunft des Begriffes ist unklar, aus demselben Keime jedoch sprießt die Schande.

In der modernen Gesellschaft, deren hyperkommunizierende Mitglieder in einer permanenten Konkurrenz zueinander leben, ist es unumgänglich, gegen geltende, oft implizite Gebote zu verstoßen und sich damit „unmöglich“ zu machen – das Feiern des Siegers beschämt den Verlierer, ja bereits den Zweiten. Das Schämen zieht seine peinigende Wucht zudem aus dem Sexuellen; nicht umsonst ist „Scham“ ein Synonym für das Geschlecht resp. das Genital.

Doch ist der Ausschluss aus der Gemeinschaft als Konsequenz eines schlicht falschen Verhaltens nicht notwendig von Dauer: Das semantische Feld der Scham umreißt neben der Keuschheit, dem Frevel und der Schmach auch die Reue, wie der Dornseiff informiert. Gut katholisch, kann der/die Beschämte, geläutert nach Beichte und Buße, wieder in die Gemeinschaft zurückkehren; auch als Warnung an die anderen, was ihnen beim Übertreten einer sozialen Grenze droht.

Noch einmal der Dorsch: „Wenn man sich schämt, schlägt man die Augen nieder, senkt den Kopf oder bedeckt das Gesicht mit den Händen. Man möchte sprichwörtlich im Boden versinken.“ Bei der Scham schlagen kollektive Vorgaben in individuell erlebtes Unvermögen um. Demnach wäre ein sittsames Verhalten Ausweis einer gelungenen Disziplinierung – und die Scham das schmerzende Wieder-Aufscheinen des Geheimen im kalten Licht der Tugend.