Schatten

  Oh my love it makes me sad, why did things turn out so bad? – Abba, Dance while the music still goes on

„Mein Termin beim Kunden geht voraussichtlich bis mittag, dann können wir noch etwas essen, bevor wir nach Hamburg zurückfliegen.“ Karsten war dabei, sich anzuziehen, er knöpfte das gestärkte Hemd zu, legte die Manschettenknöpfe an, band sich die hellgrüne Krawatte, schlüpfte ins Sakko und verteilte einen Spritzer Gel im gescheitelten Haar. Sascha lag noch im Bett und sah ihm zu, wie er seinen Leib, der eben noch ganz ihr gehört hatte, Stück für Stück in die Geschäftsuniform des Unternehmensberaters hüllte. Komisch, dachte sie, Männer verbergen ihre Körper hinter hartem Textil, Frauen stellen sie zur Schau in fließenden Stoffen. „Sag mal, wollen wir uns nicht bei dieser Bank, wo Du zu tun hast, treffen?“ – „Lass mal, die Leute sind voll langweilig, ich bin froh, wenn ich da weg kann. Wir treffen uns am besten im Restaurant in Östermalm, ich habe für halb zwei einen Tisch reserviert.“ – „Wie Du meinst.“, maulte Sascha beleidigt. „Komm schon, der Morgen vergeht schnell, wir sehen uns ja bald.“ Karsten beugte sich zu ihr ins Bett, gab ihr einen Kuss und streichelte ihren entblößten Oberarm. „Gut, bis später.“ Die Tür schnappte zu, der Teppichboden auf dem Gang schluckte Karstens rasche Schritte.

Sascha rollte sich aus dem zerwühlten Bett und stieg unter die Dusche. Beim Einseifen ihres Schoßes stieg Karstens betörender Geruch leicht nach oben und vermischte sich mit dem Aroma der Flüssigseife. Sie trocknete sich mit dem Handtuch ab, das er vorher benutzt hatte. Nach dem Frühstück im unter der Woche nur spärlich besetzten Restaurant des Hotels ging sie wieder auf ihr Zimmer, fuhr den Rechner hoch und schrieb am Konzept für die Umnutzung eines leerstehenden Warenhauses in bester Innenstadtlage. Das mobile Arbeiten erlaubte es ihr, Karsten gelegentlich diskret auf seinen Geschäftsreisen zu begleiten und dabei selbst zu arbeiten. Heute fiel es ihr schwer, sich auf die Materie zu konzentrieren; sie spielte online zwei Partien Schnellschach, was für gewöhnlich zur Erfrischung des Geistes beitrug, heute aber die beabsichtigte Wirkung verfehlte. Nur halb fertig mit dem Konzept und seltsam gereizt, schloss sie den Rechner und nahm ihn vom Netz. Sie packte ihre Kleider in den kleinen Koffer, verstaute Rechner, Telefon, Brille, Notizbuch, Bleistift und Schminkzeug in ihrer Schultertasche und ging hinunter in die Lobby. Karsten hatte schon bezahlt und ausgecheckt, seine Firma bekam hier Sonderkonditionen.

Stockholm im Juni war ein Geschenk. Die Luft war durchweg klar wegen des allgegenwärtigen Wassers, im hellen Licht wirkten die bunten Fassaden der ausladenden Patrizierhäuser wie frisch geputzt. Der Wind zog über die Straßen, Plätze und Gassen wie durch ein Kamingewirr, in alle Richtungen blinkte, spiegelte und gleißte es vom Meer her. Es war mild, nicht zu warm, wie es für Städte an der Küste typisch ist. Sascha hatte auf der Karte gesehen, dass es nicht weit vom Hotel zum Abba-Museum war, von dem aus sie wiederum bequem zum Lokal laufen konnte, das Karsten ausgesucht hatte. Sie passierte das Museum für Fotografie und sah schon das Abba-Museum auf der gegenüberliegenden Halbinsel. In Skandinavien fühlte sie sich jedes Mal auf Anhieb wohl. Die Menschen waren von gepflegter Höflichkeit, hilfsbereit, leicht distanziert. Vor allem waren sie erfreulich groß von Wuchs, sodass sie mit ihren Einsachtzig nicht übermäßig auffiel, anders als in Deutschland, wo sie selbst die meisten Männer um eine halbe Haupteslänge überragte, was ihren Exotenstatus nur festigte.

Auch deswegen trug sie meist Schuhe ohne Absätze, auch heute hatte sie Ballerinas zu ihren Steghosen mit hoch sitzender Taille gewählt. Im Abba-Museum, im Gedränge der Schulklassen, fühlte sie sich in ihre Kindheit versetzt. Sie war neun Jahre alt gewesen, als die Vier aus Schweden den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson gewannen, der Beginn einer Weltkarriere. Verstockt und verschüchtert hatte sie sich seinerzeit mit Frieda, der dunklen der beiden Sängerinnen, identifiziert, die überdies einen deutschen Vater hatte. Im Museum waren allerlei Exponate aus der aktiven Zeit des Quartetts präsent: Goldene Schallplatten en masse, Instrumente, Fotos sowie Filme von Auftritten und natürlich die legendären Bühnenkostüme. Sie stand versonnen vor den Kimonos, Overalls und T-Shirt-Kleidern hinter Glas und hätte sie gern einmal anprobiert. Die heiteren Lieder Abbas hatten ihr geholfen, die Katastrophe der Pubertät mit ihrer grotesken Übelkeit des maskulinen Körpers zu überleben. Die lieblichen Melodien waren danach erste Wegbegleiter auf ihrem Weg zur nachgeholten Frau, ihren Zauber hatten sie bis heute nicht verloren.

Immerhin konnte sie im weitgehend bargeldlosen Stockholm eine Euronote in eine Spendenvitrine beim Verlassen des Museums rutschen lassen. Sie schlenderte Richtung Restaurant und fühlte, dass sie sich lieber mit jemand anderem als mit Karsten treffen wollte. Nie waren sie zusammen im Museum gewesen, nicht einmal ins Kino hatten sie es im letzten halben Jahr geschafft, auch die Alster hatten sie nicht Hand in Hand umrundet. Sicher musste Karsten viel arbeiten, auch sie hatte reichlich im Büro zu tun. Aber es war sonnenklar, dass Karsten es darauf anlegte, mit ihr nicht in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Was er eigentlich von ihr wollte, verstand sie nicht, das ganze Angeben der Männer mit ihren Frauen als Trophäen ging ihm ab. Sie hatte schon früh den Verdacht, dass er sie zwar als attraktiv, aber eben auch als defekt erlebte und jede Gelegenheit vereitelte, Aktivitäten mit anderen zu planen. Als wollte er sie bewusst unter Verschluss halten.

Karsten war bereits da, als sie das Lokal betrat, er winkte ihr lächelnd zu. Sie legte an der Garderobe ab und glitt auf den einfachen Holzstuhl, an den anderen Tischen lebhafte Gespräche, meist Geschäftsleute, kaum Touristen. Einige wandten anerkennend den Kopf um, als Sascha sich niederließ. Als wollte er nicht auffallen, senkte Karsten die Stimme, seine Blicke flackerten durch den Raum, als gelte es eine drohende Gefahr rechtzeitig zu erkennen. „Wie war Dein Vormittag?“, erkundigte sie sich artig. „Ja, es lief prima, der Kunde ist zufrieden, das Projekt ist abgeschlossen. Und Du, wie geht es Dir?“ Der Kellner kam und nahm die Bestellungen auf. „Danke, ich habe etwas gearbeitet und war dann gerade im Abba-Museum. Schade, dass Du nicht mit dabei warst.“ Beim letzten Satz verschärfte sie den Ton, ohne dass sie es wollte. Karsten hatte es gar nicht mitbekommen, er war sichtlich hungrig und begann den gelieferten Salat zu essen.

Auch Sascha aß mit Genuss die frischen Gurken, Tomaten und Bohnen, dazu ein Glas Orangensaft in kleinen Schlucken trinkend. Schließlich sagte sie: „Karsten, ich möchte Dich etwas fragen.“ Karsten hielt inne mit dem Essen und meinte: „Was ist denn?“ – „Warum versteckst Du mich vor Deinen Kollegen, Deiner Familie, Deinen Freunden?“ Sascha war überrascht über den kalten Klang des Verhörs, der in der Frage lag. Karsten drehte rasch den Kopf, schien zu überlegen, wer hier wohl Deutsch verstand und tat ratlos: „Was meinst Du, wir sind hier doch für alle sichtbar zusammen?“ – „Ja, in einer fremden Stadt, wo niemand Dich kennt. Und wo Du es hinnimmst, wenn mich jemand an Deiner Seite als Transfrau sieht. Zuhause hast Du eine Vermeidungsstrategie entwickelt, die mich immer im Schatten lässt. Ich will das Spiel nicht mehr mitmachen.“ Karsten schwieg betreten, blickte nach unten, griff seine Finger, strich über seine Krawatte. Er räusperte sich, öffnete den Mund, wirkte ertappt und stotterte: „Das, das, das bildest Du Dir ein.“

„Sag doch einfach, wie es ist: Du bist scharf darauf, mit mir zu schlafen, gleichzeitig ist es Dir peinlich, auf eine Transe zu stehen, auch wenn sie noch so schön und reizend und feminin und operiert ist. Ich bin für Dich keine richtige Frau, sondern ein Fetisch. Und als solchen musst Du mich vor den Augen Deiner Welt verbergen.“ – „Aber Sascha, das stimmt nicht, das siehst Du falsch.“ – „Ach ja? Warum war ich noch nie in Deiner Wohnung? Warum kann ich Dich nie nach Feierabend im Büro abholen? Warum gehen wir nie zusammen in die Oper, sondern treffen uns nur in Hotels und Restaurants, wenn Du wie jetzt auf Dienstreise in Stockholm bist?“ – „Bitte, Sascha, gib mir noch ein wenig Zeit, es ist nicht so leicht für mich …“ – „… mit einer Transfrau zusammen zu sein?! Ich soll Verständnis haben dafür, dass Du Dich meiner schämst? Hast Du Dich jemals so verächtlich zu einer Deiner früheren Freundinnen verhalten?“

Karsten hatte Messer und Gabel beiseite gelegt und fingerte am Stiel seines Weinglases herum, Saschas ruhigem Blick aus sorgfältig geschminkten Augen konnte er nicht standhalten. An den Nebentischen ging das Gesummse und Gelächter der anderen Gäste unvermindert weiter, die livrierten Kellner hatten alles aufmerksam im Blick, ohne aufdringlich zu wirken. Sascha hob ihr Glas und trank einen Schluck Wasser, einen Abdruck ihres kirschroten Lippenstiftes auf dem Rand hinterlassend. „Wir kennen uns seit sechs Monaten, Karsten. Du hintertreibst es aktiv, mich Deiner Schwester, Deinen Eltern, Deinen Freunden vorzustellen. Auch meine Leute willst Du nicht kennenlernen, als hättest Du Angst, Dich zu infizieren mit einem Virus des Abartigen. Vielleicht bist Du verheiratet und gar Vater, was weiß ich. Du protestierst ja sogar, wenn ich ein Foto von uns beiden machen will, wahrscheinlich, weil Du es ums Verrecken nicht willst, dass ich es auf Instagram hochlade, wo man Dich mit mir zusammen finden könnte.“

Karsten schwieg nur noch, stocherte in seinem Salat, ohne einen Bissen zu nehmen. Der freundliche Kellner trat an den Tisch und fragte, ob alles in Ordnung sei. Karsten wollte fahrig zu einer Antwort ansetzen, doch Sascha kam ihm zuvor: „Well Sir, please bring us the bill, all together in one.“ Der Kellner hob eine Augenbraue, drehte sich langsam auf den Absätzen um und ging Richtung Tresen. „Was ist denn?“, stammelte Karsten. „Ganz einfach, es ist vorbei, beziehungsweise es hat nie angefangen. Ich habe keine Lust, weiter im Abseits gehalten zu werden, als Frau ohne Namen, Leib und Gesicht. Ich bin nicht einmal eine Affaire, die immerhin ein wenig Verwegenheit von Dir erforderte, ich bin ein Nichts, ich bin bloß Deine Lüge. Und damit ist jetzt Schluss.“ Als der Kellner mit der Rechnung kam, reichte Sascha ihm ihre Karte und sagte freundlich lächelnd: „Would you please call me a taxi to Arlanda, Sir.“ – „Of course, Madam, the car will be here in a few minutes.“

Sascha faltete die Serviette zusammen, stand federnd auf und ging zur Toilette. Sie wusch sich die Hände, zupfte ihre Haare zurecht und zog sich die Lippen nach. Sie atmete tief durch und kam sich befreit und erleichtert vor. Zurück im Gastraum, nahm sie ihren Frühjahrsmantel vom Bügel, ihren Rollkoffer schob sie vor sich her. Am Tresen fragte sie, ob sie eine einzelne Zigarette bekommen könnte. Die Bardame lächelte und sagte: „Sure, but you have to smoke it outside on the pavement.“ – „Thank you, that was just my intention.“ Sascha legte eine Krone auf den Tresen und nahm die Zigarette zwischen die Finger, die erste nach über fünfundzwanzig Jahren. Auf dem Bürgersteig bat sie einen rauchenden jungen Mann um Feuer. Sie musste husten und es wurde ihr schwindlig, doch bereits der zweite Zug schmeckte ihr. „Everything’s okay, Lady?“ fragte der Mann lächelnd. „Thank you, I never felt better.“ erwiderte Sascha. Das Nikotin war das perfekte Gegengift für das unwürdige Getue Karstens, ein klarer Schlussstrich. Als das Taxi um die Ecke bog, stopfte sie die Kippe in den Aschenbecher am Laternenpfahl. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lud sie ihren Trolley in den Kofferraum und öffnete den Fond des Wagens.