Wenn ich weiß, dass ich gut rieche, verleiht mir das Selbstbewusstsein. Und ich liebe den Moment, wenn ich mich selbst rieche und für den Bruchteil einer Sekunde denke: Was riecht denn hier so gut? Dann die Erkenntnis: Das bin ja ich! – Leanne Shapton, Sheila Heti, Heidi Julavits: Frauen und Kleider. Was wir tragen, was wir sind
In der Nacht auf Christkönig hat es lange geschneit, es war in den hinteren Winkeln des Traums gar zu hören auf der Fensterbank. Der letzte Sonntag im zuende gehenden Kirchenjahr ist der erste weiße Tag im dunklen November. Als Kerstin mit dem Rad Richtung Grunewald fährt, nimmt sie die Kurven der nassen Straßen besonders weit und lässt den inneren Fuß fast über den Boden schleifen, es könnte ja glatt sein, erst recht über angefrorenem Laub. Es ist windstill, die Temperaturen liegen knapp über Null, die kahlen Zweige der Bäume sind gleichmäßig eingestäubt. Als Kerstin am Schmetterlingsplatz ihr Rad abstellt, öffnet sich der weiße Wald wie ein Tunnel aus Mehl. Ihre Spuren im Schnee zählen zu den ersten.
Sie macht ihre Waldspaziergänge auf dem Parcours, auf dem sie seinerzeit regelmäßig lief und en passant für einen Marathon trainierte. Der Wald ist so weitläufig und dicht, dass sich hier problemlos Strecken unterschiedlicher Länge und Bodenbeschaffenheit kombinieren lassen. Gern ist sie früher den Havelhöhenweg gelaufen, der in Schlangenlinien entlang des Wassers verläuft und immer wieder zum Bergan- und Bergauflauf verführt, ideal für Intervalltraining mit wechselnden Tempi bei paralleler Schulung einer sauberen Technik. Am Teufelssee öffnet sich ein Plateau, von dem es auf verschiedenen Pfaden tief ins Gehölz geht, je nach Absicht, Zeit und Niveau. Heute liegt ein tiefer Friede über dem Wald, das allgegenwärtige Weiß dämpft wattig die Geräusche, die von weiter weg kommen, und macht eine visuelle Orientierung schwierig.
Kerstin denkt gern an ihre alte Trainingsgruppe, die hier nach dem lockeren Traben immer eine Gymnastikrunde absolvierte, bevor das eigentliche Laufen begann. Sie hatte sich inmitten der schwulen Männer sehr wohl gefühlt, die sie als einzige Frau in der Runde galant und neckisch behandelten. Sie lief die längste Runde mit den schnellsten Läufern der Gruppe, um gerade von den Besten zu lernen. Nach ein paar Monaten hatte sie ihre Ausdauer so gesteigert, dass sie auch beim Bergaufsprint ihren Schritt samt Kniehub halten konnte. Mit einer Mischung aus Wehmut, Freude und Nostalgie dachte sie an die Gruppe, in der der kleine Junge, der sie in einem anderen Leben einmal war, für die Dauer des Trainings aufblühte inmitten der sanften Männlichkeit der Schwulen. Hätte er einer von ihnen werden können? Nein, denn Kerstin stand ja nie vor einer Wahl zwischen Schwul und Trans.
Wenn sie heute von Läufern passiert wird, schickt sie ihnen einen stummen Gruß hinterher. Sie hätte dank des Radfahrens und des Schwimmens quer durchs Jahr sicher noch die Kondition zu einem lockeren Waldlauf, allerdings nicht mehr die geeigneten Knie. So wird der Spaziergang in ihren alten Asics auf bekanntem Terrain zur Kompensation und zur Trauerarbeit. Kerstin kann hier im Wald den Wechsel der Jahreszeiten besonders gut beobachten. Das üppige Laub des Frühlings schluckt die Klänge und betört die Nase, das gleißende Licht des Sommers wird vom grünen Blätterdach gebrochen und verharmlost, im Herbst ziehen sich die Bäume besonders leuchtend an, während sie im Winter zur Erinnerung ihrer selbst kahl werden. Der feine Schnee auf dem Boden und auf den Zweigen wirkt enttarnend, Läufer in ihrer Funktionskleidung und auch Tiere mit ihrem Sommerfell werden früh sichtbar wie durch ein Zielfernrohr.
Vor Jahren war sie allein laufend unterwegs und kreuzte das Dahlemer Feld, an dessen anderer Seite eine Frau auf sie zu warten schien. Diese sagte ihr, sie habe ihre Mitläufer verloren und sich verlaufen und fragte sie nach dem Weg zum Auerbachtunnel. Der lag exakt in Kerstins Richtung, sodass sie der Sportlerin vorschlug, ein Stück Wegs gemeinsam zu laufen. Die andere Frau fragte sie, ob sie denn keine Angst habe, so ganz allein im tiefen Wald zu laufen. Diese explizite Frauenfrage machte Kerstin deutlich, was sie in Kindheit und Jugend verpasst hatte, wo man den Mädchen bei jeder Gelegenheit einschärft, vorsichtig zu sein und auf sich aufzupassen. Das latente Gefühl der Bedrohung durch Männer, das so vielen Frauen im Blut mitfließt, geht Kerstin weitgehend ab; doch das Wissen, nun auf der Seite der Beute zu stehen, hat sie nachholend und unter Schmerzen erworben. Sie entgegnete der Läuferin, dass sie die Gegend hier gut kenne und im Zweifel immer noch weglaufen könnte. Am Auerbachtunnel trennten sich ihre Wege, die Frauen wünschten einander alles Gute.
Gelegentlich wird Kerstin von ihrer eigenen Weiblichkeit überrascht. Ihr fällt ein Urlaub auf Malta Anfang der 1990er Jahre ein, kurz nach ihrer Genitaloperation. An einer abseits gelegenen Bucht lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie sich ohne Hintergedanken für den folgenden Tag an gleicher Stelle verabredete. Sie lag im Badeanzug auf dem sandigen Strand und bat ihren Begleiter, ihr den Rücken mit Sonnenmilch einzureiben, was dieser auch beflissen tat. Und plötzlich lag er auf ihr und wollte sie auf den Mund küssen. Kerstin war perplex ob dieser Direktheit und fand nur mit Mühe und Umsicht aus dieser durchaus riskanten Situation heraus. Dies war eine elementare Lektion in der Einübung des Frauseins: Frauen können sich nicht so ungezwungen in der Welt bewegen, wie Männer es seit jeher für sich in Anspruch nehmen. Als körperlich in der Regel schwächer, sollten Frauen Situationen vermeiden, wo sie mit unbekannten Männern allein sind. Kerstin realisierte, welch unbekümmerte Existenz nun hinter ihr lag.
Während geborene Frauen dieses Wissen spätestens in der Jugend erwerben, war Kerstin von diesem weiblichen Repertoire zunächst ausgeschlossen. Bis zu ihrem 24. Lebensjahr hatte sie versucht, in der vorherbestimmten Gestalt als Junge und dann als Mann zu leben – diesen reziproken Alltagstest hatte sie jedoch nie bestanden, sodass die Entfaltung ihrer Transidentität die logische Konsequenz darstellte. Die körperlichen Veränderungen waren das eine, die geschahen weitgehend von selbst. Zunächst änderte sich der Eigengeruch, die Kleider rochen nicht mehr säuerlich, sondern lieblich fruchtig. Kerstin mag es, am Wochenende ein T-Shirt zu tragen, das sie bereits ein paar Tage am Leib hat und das vollends nach ihr duftet. Die Haare, ohnehin nur spärlich vorhanden auf Torso und Extremitäten, verschwanden, sie blieben auf dem Schopf und rund um die Scham. Manchmal sieht Kerstin im Schwimmbad junge Frauen, die ihre Vulva enthaaren. Wollen sie damit das kleine Mädchen bleiben, unschuldig und rein? Kerstin erfreut sich ihrer Muschi und dem weiblichen Behaarungsmuster drumherum.
Hier im Schneewald trägt sie knielange Sporthosen, eine atmungsaktive Jacke über ihren kleinen Brüsten, die auch ohne Sport-BH in Form bleiben, die langen Haare mit einer Spange gebändigt. Auch in geschlechtsneutraler Kleidung wird sie regelmäßig für eine Frau gehalten, was sowohl an ihrem Gesicht als auch an ihren Bewegungen liegt. Kommen ihr Leute entgegen, vermeidet sie den Blickkontakt, einen kurzen Gruß erwidert sie ebenso knapp. Als sie einmal richtig tief im Wald am Laufen war, kam an einer Weggabelung plötzlich eine Gruppe nackter Männer um die Ecke. Eine Begegnung war unvermeidbar, instinktiv verhielt sich Kerstin so, als habe sie einen Wolf gesehen. Sie blieb bei ihrem Tempo, den Blick auf den Boden geheftet, stellte sie sich vor, sie habe Sprungfedern unter den Sohlen und huschte weg. Die Nudisten, von denen sie bislang nur gelesen hatten, ließen sie in Ruhe; doch Kerstin änderte bei nächster Gelegenheit die Laufrichtung und rannte auf einem breiten Wirtschaftsweg mit mehr Publikum zurück zum Fahrrad.
Die Anhänger der Freikörperkultur (FKK, eine obskure Abkürzung, die ihre Eltern zu erklären sich früher weigerten) haben jetzt zum Jahresende Pause. Neben Läufern und vereinzelten Radfahrern sind Menschen auf den Beinen, die ihre Hunde ausführen. Ab und an stoppt einer neben ihr und hebt die Nase, als gäbe es etwas Delikates zu erschnüffeln, weggerufen von Herrchen oder Frauchen. Kerstin bleibt unter einem schneegebeugten Zweig stehen, greift mit den Fingern ins Geäst und wird mit kleinen Schneekristallen geduscht. Hier im Wald fühlt sie sich sicher, hier ist ihr Habitat als Reh. Das lässt sich auch an ihrer Kleidung ablesen, die eher praktisch, robust und unisex ist, was sie mit dem vielen Fahrradfahren auch ins Büro rationalisiert – das wird ihr bei jedem Besuch im Ausland klar, wo die Frauen aller Alter viel mehr Zeit und Aufwand auf ihr Äußeres verwenden als ihre deutschen Schwestern.
Der lange Marsch im Schneegriesel erfrischt ungemein. Wieder zuhause, stellt sich Kerstin unter die heiße Dusche und wärmt und reinigt die verfrorenen Glieder. Mit ihrem Spiegelbild hat sie mit den Jahren ihren Frieden gemacht, die primären Stellen ihres Leibes sind ihr eindeutig schön. Mit erhobenem Haupte dem Alter zu begegnen, wird zur Aufgabe ihres mutmaßlich letzten Lebensdrittels. Auch wenn es seit 33 Jahren Realität ist: Kerstin wird erneut gewahr, dass sie zu jeder Stunde ihres Lebens als Frau lebt respektive leben muss. Mag sie sich seelisch androgyn fühlen, verlangt doch die Gesellschaft eine Eindeutigkeit in Richtung Frau. Kerstin wird ihr 13. Monatsgehalt im Januar und Februar in dezidiert weibliche Kleidung investieren. Sie will einen Lodenmantel, Röcke, die sie im Büro und im Theater tragen kann, Stiefelchen, Blazer und Blusen. Davon hat sie viel zu wenig in ihrem Kleiderschrank, der mehrere 501, Pullis und vereinzelte Kostüme birgt. Sie will eine gepflegte Dame sein, ohne dabei altbacken und spießig auszusehen. Zum Gottesdienst am Abend wird sie ihr elegantes Cape aus Wolle und Cashmere tragen.
Wie sehr sie im Ozean der Östrogene versunken ist, wird ihr regelmäßig klar, wenn sie eine Blasenentzündung bekommt. Der Urin riecht streng in Richtung Ammoniak, ständig muss sie zur Toilette, wo trotz heftigen Harndrangs nur ein paar Tropfen ins Becken fallen, dafür aber mit einem fiesen Brennen. Als Kerstin an einem Samstag im letzten Herbst in der Bereitschaftspraxis der Kassenärztlichen Vereinigung auf dem Gelände des Klinikums Westend erschien und ihre Symptome schilderte, blickte die Krankenschwester nur mitfühlend und gab ihr ein Töpfchen zur sofortigen Urinprobe. Der behandelnde Arzt bestätigte Minuten später den Verdacht und verschrieb Kerstin ein Antibiotikum. Es seien fast nur Frauen, die eine Blasenentzündung bekämen, teilte er beiläufig mit, das läge an der kurzen weiblichen Harnröhre, die es Bakterien leichter mache, die Blase zu erreichen. In der Apotheke löste Kerstin das Rezept ein, ein Pulver zum Anrühren einer trinkfähigen Lösung. Auf der Packung stand: Für Frauen ab 12 Jahre.