Der menschliche Körper besteht zu 60 % aus Wasser, vermutlich schwimme ich deswegen so gern. Ich stehe am Strand von Taurito im Südwesten Gran Canarias, die Zungen der Wellen lecken meine Zehen und locken mich ins Nass. Vor mir liegt der Ozean, ein Tuch in Dunkelblau mit hüpfenden Tupfen und einer Borte in Weiß. Ich drehe meine langen Haare zum Dutt und zwänge sie unter eine Kappe aus Silikon; das schützt sie ein wenig vor dem Salz und verhindert, dass sie mir wie Algen vor den Augen flattern. Ich justiere die Schwimmbrille und lasse die Karte meines Hotelzimmers unter den Badeanzug rutschen, bis sie auf Nabelhöhe angelangt ist.
Das Meer klatscht gegen meine Knie, dann gegen die Hüften, ein beherzter Sprung und meine Füße verlieren den Bodenkontakt. Mit energischen Zügen und wippendem Hüftschlag durchtauche ich die brechenden Wellen und gelange schnell dreißig Meter vom Ufer weg. Die Luft mag 24 °C warm sein, das Meer hat kaum weniger Temperatur; gute Konditionen für mein Vorhaben, entlang des Ufersaums nach Puerto de Mogan zu schwimmen, das rund drei Kilometer von Taurito hinter einem griffigen Felsvorsprung liegt.
Das Meer macht mir sein Geschenk der optimalen Wasserlage, durch seinen Salzgehalt bekommt mein Unterkörper mächtig Auftrieb, sodass ich eben auf dem Wasser liege und vorbildlich kraule. Die See ist ruhig, ein mäßiger Wind geht, die hoch stehende Sonne wird von keinerlei Wolken verdunkelt und bricht sich gleißend in tausend kleinen Spiegeln auf der Oberfläche. Das klare Wasser wird hier etwa zwölf Meter tief sein, ich kann dank der Sonnenstrahlen die Riefen auf dem sandigen Grund sehen, auf dem mein Schatten sich abzeichnet.
Die Kanarischen Inseln sind berüchtigt für ihre tückischen Strömungen, die ohne weiteres austrainierte Schwimmer packen und auf den Atlantik ziehen, wenn ihnen danach ist. Ich habe einen Punkt erreicht, an dem meine durch das Leben an Land geprägte Orientierung verschwimmt; hin und her geschaukelt von den sanften Wellen, die sich zwischen mein Gesicht und das Ufer schieben, verliere ich die Maßstäbe des Schnell und Langsam, des Nah und Fern.
Am Horizont erkenne ich eine Fähre auf ihrer Fahrt zwischen Gran Canaria und Teneriffa. Meine ersten Erinnerungen drehen sich um das Wasser, um das Schwimmenlernen im Freibad, um Ferien an der Nordsee, um das Planschen, Toben und bald darauf Schwimmen im Meer. Bei allem wachsenden Respekt im Umgang mit dem Flüchtigen blieb mir die unbedingte Liebe erhalten. Das Meer ist für mich ein Zustand und eine Haltung, ein Ja zum Fluss des Weichen.
Automatisch atme ich ins Wasser aus, fühle das Salz als Peeling auf der Haut, hebe den Kopf zur Sicht, nutze Schultern, Flanken und Arme zum Vortrieb und die Beine mehr zum Balancieren. Ich bin weit genug vom Ufer entfernt, um den Pico de las Nieves zu erkennen, einen Vulkankegel, von dem abfallend sich Gran Canaria kreisförmig in den Atlantik ergießt. Ich schwimme ruhig und konzentriert im Rhythmus der Muskelkontraktionen, mein Rumpf rotiert wie eine Spindel auf der Längsachse, ein tief ins Leibgedächtnis eingelassenes Muster.
Schließlich sehe ich die Umfassung zur Bucht von Puerto de Mogan, durch eine Kordel abgesichert, damit die Kinder gefahrlos ins Wasser können. Die Bucht wird von einem flachen Riff gehegt, ich muss aufpassen, dass ich mir an den scharfen Steinen nicht die Füße aufreiße und lasse mich beim Anlanden von einer Welle über die Korallen heben. Ich plansche im schritttiefen Blaugrün, will das Aufrichten so lange wie möglich hinauszögern. Nach einer Wassereinheit muss ich mich wieder ans Land gewöhnen, zu vertraut ist mir das Meer.
Ich schüttle die Tropfen aus den Ohren und drehe mich um Richtung Ozean, ich bin weder erschöpft noch durstig, stattdessen erfüllt von süßer Absichtslosigkeit. Ich mache auf der Ferse kehrt, schon umspielt das Wasser wieder mein Becken und ich überlasse mich dem Sog ins Freie. Zum Glück liegt die Hälfte der Strecke noch vor mir – wenn das Meer wüsste, wie glücklich es mich macht. Sollte es ein Leben nach dem Tod geben, möge meines bitte im Wasser stattfinden. Wahrscheinlich rührt dieser Wunsch daher, dass ich im Sternzeichen der Fische geboren wurde.