September

  Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süße in den schweren Wein. – Rainer Maria Rilke, Herbsttag

Es sind die Übergänge, die das Fortschreiten der Zeit markieren. Der September ist echt echter Schwellenmonat zwischen der Hitze des Sommers und dem Wind des Herbstes. Am 21. des Monats sind in der Tag/Nacht-Gleiche Helligkeit und Dunkelheit gleichmäßig verteilt. Ist erst der September erreicht, verstreichen die bleibenden Wochen des Jahres subjektiv schneller als die bisherigen, sowie auch das letzte Drittel des Sandes schneller durch das Stundenglas zu rinnen scheint.

Je nach Breitengrad kann es bei entsprechender Sonneneinstrahlung bereits ab Mitte September zur Farbexplosion der Bäume kommen, die dann in Braun, Gelb, Rost und Gold leuchten können, bevor sich dann im Oktober das Blätterkleid zu lichten beginnt, bis es dann im November abgeworfen ist und die Parkwege rascheln macht. Das Gemüse der Saison ist der Kürbis, der kombiniert mit Möhren und Ingwer als warme Suppe für Erfrischung und Behaglichkeit sorgt. Die Frucht dazu ist die lila Feige, die von der Konsistenz her weich und saftig ist und im Inneren wie eine Traube kleiner Rubine aussieht. Auf dem Land schmücken Ährenkränze voller Schleifen die Haustüren.

Die mörderische Hitze des überlangen Sommers ist endlich vorbei, noch steckt die Wärme in den Wänden, sodass sich die Frage des Aufdrehens der Heizung noch nicht stellt. Allerdings geht nun die Zeit zu Ende, barfuß über die blanken Dielen zu gehen. Und des Nachts braucht es nun wieder ein langes Negligé unter den Daunen, zu frisch sind die Stunden, die bereits dem Herbst gehören. Der begleitende Geruch ist ein Gemisch aus feuchter Erde und geerntetem Heu, ein letzter Gruß an das Leben draußen. Erntedank steht vor der Tür, in den Regalen der Supermärkte machen sich aufdringlich Lebkuchen breit.

Die Ferien sind nun überall vorbei, das kulturelle Leben erwacht aus dem Sommerdämmer, Theater und Oper eröffnen ihre neue Spielzeit mit besonderen Premieren, in den Buchhandlungen landen die Neuerscheinungen an, die Spekulationen über die Nobelpreisträger nehmen an Fahrt auf. Auch der parlamentarische Betrieb erwacht wieder zum Leben. Während die Autos wie immer die Straßen verstopfen, nimmt die Zahl der Radfahrer abrupt ab; die Schönwetterfahrer steigen auf den PKW oder den ÖPNV um, während die echten Radfahrer im Sattel bleiben und ganzjährig in die Pedale treten, so langsam mit Handschuh und Mütze. Selbst auf dem Pinarello sind noch Unentwegte standhaft, mit Ohrenschutz, Windweste und Gamaschen.

Auch der Geist stimmt sich auf die zurückflutende schütze Dunkelheit ein. Kerzen werden entzündet, so mancher schreibt nun Briefe per Hand, die weniger flüchtig sind als Posts, Likes und Messenges, dicke Bücher werden aufgeschlagen auf der Suche nach Trost. Das nahende Jahresende macht nicht wenige melancholisch, ohnehin das Temperament der Sensiblen, Nachdenklichen, und Einzelgänger. Die unbarmherzige Helligkeit des Sommers ist überstanden, die Kleidung bedeckt wieder Arme und Beine, ihr Schmuckaspekt gewinnt angesichts der schwindenden nackten Haut wieder an Bedeutung. Bälle, Vernissagen und Empfänge bieten reichlich Gelegenheit, die neue Garderobe zu präsentieren.

Die Fließgeschwindigkeit des Jahres nimmt mit dem Alter zu. Neujahr ist noch in vager Erinnerung, gerade erst schien Ostern gefeiert, Pfingsten öffnete den Weg zur Sommerfrische, das Dämmern in der Siesta des Lichts schien der Normalzustand, nun fordern feste Schuhe ihren Tribut. Welche Bilanz liefert dieses Jahr, wie viele werden ihm noch folgen, wie viele Abschiede galt es zu feiern oder zu vollziehen? Im September zeigt sich, wer noch da ist aus der Entourage, wer noch nicht den Weg auf die andere Seite genommen hat. Der Schlaf verdient wieder seinen Namen, das fiebrige Wachsein der Sommerhitze ist überstanden wie eine wiederkehrende Erkrankung.

Wer die Welt noch anders als über die Spielekonsole oder den Bildschirm des Telefons wahrnehmen kann, wird lange Spaziergänge machen, Mehr-Gänge-Menus kochen und in den Romanen von Marcel Proust und Thomas Mann versinken. Das größte Bacchanal der Welt geht in München über die Bühne, es findet entgegen seines Namens überwiegend im September statt. Segelboote, Gärten und Datschen werden für den Winter fest gemacht, das Ende des unsinnigen Vorstellens der Uhr, verharmlosend Sommerzeit genannt, kündigt sich an. Wenn die Queen nicht gerade Anfang September stirbt, wird der Sommer im Überschwang der „Last Night of the Proms“ verabschiedet.

Der September ist der goldene Monat, die Ernte steht bevor. Er lässt ahnen, dass der Kreislauf aus Werden und Vergehen auch ohne denjenigen weitergehen wird, der ihn gerade erlebt. Die süße Bitterkeit über die Begrenztheit der Zeit hienieden muss nicht gleich zu einem Lebensekel à la Cioran führen, doch erscheint der eigene Tod nicht mehr ungeheuerlich, sondern konsequent. Welch Höllenqual wäre es, das irdische Leben auf ewig ertragen zu müssen. Der September ist das Versprechen, dass auch im Verschwinden Zufriedenheit liegt. Die Kastanien, in der Hand übereinander gerollt, lassen fest daran glauben, sie bewahren das Licht des Juni und begrüßen die Finsternis.