Sharai

Kerstin stieg aus dem Bus aus und strebte Richtung Grünanlagen, die auf dem Weg zu ihrer Wohnung lagen. Als sie um die Ecke bog, lag der Motorenlärm der Hauptstraße schlagartig weit weg, ihre latente Körperspannung löste sich prompt. Für heute wollte sie nur noch nach Hause, der Tag im Büro war lang und schlauchend gewesen, Einkäufe musste sie keine mehr erledigen. Sie überquerte die kleine Straße mit den sichtbaren Rissen im Asphalt nach dem Beendigen der Bauarbeiten und schob das Törchen zum Park auf, ein junger Mann auf einem Rennrad war neben ihr der einzige Besucher. Sie setzte sich auf die Bank eines Kinderspielplatzes, schaute auf den beigefarbenen Sand mit den abgefallenen Blättern der nahen Platane und streckte ihre Beine weit von sich.

Sie hatte Lust auf eine Feierabendzigarette, die sie sich rituell gönnte, als Zeichen des Übergangs vom Tag zur Nacht, beherrschte sich aber, sie konnte auch gleich zuhause auf den Balkon gehen. Auch wenn hier keine spielenden Kinder mehr zu sehen waren, war dieser Ort zum Rauchen nicht geeignet. Zwar trafen sich hier nach Einbruch der Dunkelheit Jugendliche zum Knutschen und zum Kiffen, sie waren aber so diszipliniert, hier keine Reste von Joints oder Kippen zu hinterlassen. Der Sand war einfach nur hellbraun und klumpig, Spuren kleiner Schuhe durchzogen ihn. Kerstin öffnete die Knöpfe ihres Übergangsmantels, der Himmel war bedeckt, die Luft war warm und drückend, als stünde der Ausbruch eines Gewitters bevor. Die kleine Schaukel eines nahen Gerüstes wurde vom Wind hin und her geschubst, als sei gerade jemand abgesprungen und als schwinge sie noch aus.

Kerstin kramte in ihrer Tasche nach der Zeitung und entfaltete sie mit geübten Griffen. Nach Stunden des Arbeitens am Monitor war das Lesen einer gedruckten Zeitung Labsal für ihre Augen. Sie behielt gedruckte Texte länger im Gedächtnis und las diese meist bis zum Ende, am Rechner stieg sie viel schneller aus, wenn ihr die Richtung des Artikels nicht behagte. Der Wind bauschte das Papier, das sie straffte, um weiter lesen zu können. Fasziniert folgte sie der Beschreibung eines Opernabends in Zürich; sie hatte das Stück vor ein paar Wochen am hiesigen Opernhaus gesehen und genoss nun die erneute Aufführung vor ihrem inneren Auge, so gut war die Rezension. Unvermittelt fing sie an, die prägenden Motive der Oper mitzusummen, ihr Fuß wippte im Takt, die Mokassins hingen nur noch an den Zehen.

Nach dem imaginären Schlussapplaus ließ sie die Zeitung auf den Schoß sinken, ihr Blick streifte über das eingefasste sandene Viereck. Ein Eichhörnchen hüpfte hektisch über den Boden, kurz innehaltend und den ruckenden Kopf gen Himmel gehoben; es schien das nahende Unwetter zu spüren und suchte bereits nach Schutz. Mit einem Satz sprang es auf den Stamm einer Platane und hechtete in einer Spirale Richtung Krone, Kerstin kurz einen prüfenden Blick zuwerfend. Sie faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche, zum Gehen bereit, als sie ein dumpfes Poltern vernahm. Es schien aus einem hölzernen Spielhaus am Rande des Klettergestänges zu kommen. In seinem Bullauge erspähte Kerstin einen Kinderkopf, kurz darauf tropfte ein kleiner Leib auf den Sand und richtete sich auf. Das Kind stapfte schwankend durch den Sand in ihre Richtung. Schwarze Augen, lange wellige schwarze Haare, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, etwa einen Meter groß.

Das Mädchen kletterte aus der Sandgrube und stand direkt vor ihr, sie mit den großen dunklen Augen magnetisch fixierend. Unwillkürlich sah Kerstin sich um, schweifte nach einer Mutter, einem Vater, einem älteren Geschwister, aber hier war niemand außer ihnen beiden, den sich verdunkelnden Wolken und dem anschwellenden Wind. Sie erwiderte den Blick der Kleinen und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Das Mädchen folgte ihren Augen, keine Miene dabei verziehend. Sie trug ein dünnes Jäckchen über dem leichten Pullover, die Beine mit pinken Leggings bekleidet, an den Füßchen flache Turnschuhe – normale Kinderkleidung, soweit Kerstin das einschätzen konnte, passend für die Frühlingszeit. Keine Tasche, kein Ranzen, keine Tüte, nichts, worin etwa Stifte, Proviantbüchse, Hefte oder Trinkflasche sein könnten. In den Taschen ihrer Hose und auch der Jacke zeichnete sich nichts ab, was nach Telefon oder Schlüssel aussah. Auch eine Uhr trug sie nicht, keinen Brustbeutel, keine Kette, kein Portemonnaie.

Kerstin hielt ihr Lächeln und fragte: „Wo ist denn Deine Mama?“ Das Mädchen gab keine Antwort und musterte Kerstin weiter, ihr Gesicht war dabei unbeweglich, es wirkte ernst und still. „Kannst Du mich verstehen?“, fragte Kerstin, bereits mit einem unsicheren Unterton in der Stimme. Wieder antwortete die Kleine nicht, stattdessen erklomm sie die Bank und saß nun neben Kerstin, die Füße schlenkerten weit oberhalb des Bodens, der Kopf war nun schräg nach oben gewandt, als wollte sie Kerstin keinesfalls aus ihrem Blick entlassen. Kerstin fragte die Kleine auf Englisch und Französisch, keine Reaktion. Sie versuchte es auf Russisch und auf Spanisch, wiederum vergeblich. Türkisch und Arabisch konnte sie in groben Brocken verstehen, zum Sprechen reichte es nicht. Sie sah der Kleinen ins Gesicht und sagte schlicht: „Sharai“, dabei die Stimme fragend nach oben ziehend. Die Kleine drehte den Kopf schräg und öffnete leicht den Mund, weiße Zähnchen perlten.

Der Wind griff sich die Äste der Platanen, das Laub rauschte, es würde gleich anfangen, zu donnern und zu regnen. Erneut wanderte Kerstins Blick durch den Park, nicht einmal Spaziergänger mit ihren Hunden waren noch unterwegs. Was machte das Mädchen hier, wo kam sie her, wartete sie auf jemanden? Was auch immer, sie schien fest entschlossen, Kerstin nicht ohne sie weggehen zu lassen. Soll ich die Polizei rufen, fragte sich Kerstin. Die Beamten werden sie mit auf die Wache nehmen und mit dem Jugendamt telefonieren, damit die Kleine die Nacht unterkommen kann. Vielleicht ist sie ausgerissen und die Eltern suchen sie bereits verzweifelt. Sie spürte die weiche Hand des Mädchens auf ihrem Schenkel, erstmals lächelte sie, die großen Augen blickten sanft und flehend zugleich. Kerstin musste sich entscheiden, angesichts des drohenden Gewitters konnten sie hier nicht bleiben.

Sie stand auf und schloss ihren Mantel. Sofort sprang die Kleine von der Bank und fasste Kerstins Hosenbein. „Ist ja gut, Sharai“, sagte Kerstin instinktiv, als spräche sie zu einem Tier, „wir gehen zu mir, ich wohne gleich um die Ecke.“ Kerstin schulterte ihre Tasche und nahm das Mädchen an die andere Seite. Im Gehen hörte sie den fliegenden Atem der Kleinen, die mit ihren Schrittchen kaum mitkam. Ihre Finger hielten Kerstins so fest, wie es irgend ging. Kerstin blieb stehen, ging in die Hocke und blickte dem Mädchen offen ins Gesicht. „Wir gehen zu mir und essen etwas. Du kannst etwas trinken und Dir die Hände waschen. Und dann sehen wir weiter und kümmern uns um Deine Eltern, Sharai. Okay?“ Das Mädchen blieb stumm, nichts deutete darauf hin, dass sie die Worte und ihren Sinn verstanden hatte. Aber offenbar spürte sie die Wärme und die Sorge, die in den Silben mitschwangen. Als wollte sie Kerstin vertrauen.

Artig warteten sie, bis die Ampel auf Grün umsprang, bevor sie die Straße überquerten. Im Treppenhaus begrüßte sie eine Nachbarin, die sie noch nie mit einem kleinen Kind an der Hand gesehen hatte. Die Stufen waren für die kurzen Beine besonders hoch, das Mädchen schien schlagartig erschöpft zu sein. Kerstin beugte sich hinab und nahm sie auf den Arm, sofort schmiegte sie den Kopf an ihre Schulter, sie wog vielleicht 15 Kilogramm. Vor ihrer Wohnungstür ließ sie das Mädchen auf den Boden herab und schloss auf, öffnete die Tür und sagte: „Willkommen, Sharai.“ Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe und half der Kleinen, ihre Jacke auszuziehen. Kein Ausweis in den Taschen, keine Karte, kein Zettel mit einem Namen oder einer Telefonnummer. Sie zog ihr die Schuhe aus und stülpte ihr Socken über die Füße, noch immer viel zu groß. Draußen krachte es vernehmlich, das drohende Gewitter brach los. Kerstin machte Licht.

Sie führte die Kleine ins Bad. Sie hatte keine Ahnung, ob sie schon allein die Toilette benutzen konnte, das Waschbecken war wohl zu hoch für sie. Als sie Anstalten machte, sie allein zu lassen, protestierte sie nicht; Kerstin schloss die Tür von außen und setzte sich in die Küche. Als sie die Spülung rauschen hörte, lächelte sie innerlich; gut, die Kleine ist offenbar passabel entwickelt, wenn ich nur wüsste, ob sie mich versteht. Sie klopfte an die Badezimmertür und trat nach einem Moment ein; das Mädchen stand verloren vor dem hohen Waschbecken. „Gut, Sharai, ich hebe Dich hoch, dann kannst Du Dir die Hände waschen.“ Sie fasste der Kleinen unter die Achseln, was sie sich gefallen ließ; nun konnte sie den Wasserhahn aufdrehen und die Seife in die Hände nehmen. Das Handtuch an der Wand konnte sie bequem im Stehen erreichen.

Kerstin ging in die Küche und setzte einen Topf mit Milch auf, die Kleine folgte ihr lautlos und kauerte sich auf einen Küchenstuhl, auf den Kerstin vorher ein dickes Kissen gelegt hatte. Sie rührte Kakao in die kochende Milch, schnitt etwas Weißbrot ab und stellte es mit Honig, Butter, Käse und einem Becher Joghurt auf den Tisch. Sie goss den Kakao in zwei Tassen, füllte zwei Gläser mit Wasser und schnitt Gurken, Tomaten und Oliven zu einem Salat in eine Schüssel. Die Kleine folgte ihren Bewegungen mit den Augen, die sie wieder offen halten konnte, wahrscheinlich hielt sie der Hunger wach. Kerstin wusste nicht, ob die Kleine schon mit Kuchengabel und Teelöffel umgehen konnte, auch konnte sie nicht abschätzen, wieviel ein Mädchen in dem Alter essen würde. Egal, wenn sie noch mehr wollte, würde sie noch mehr Brot schneiden, auch gab es noch Bananen, Äpfel und Mangos im Obstkorb. Es war derweil dunkel geworden, an der Fensterscheibe liefen die Wassertropfen in Schlieren herab.

Die Kleine aß mit großem Appetit und mit merkwürdigem Ernst, die gereichten Speisen schienen ihr zu schmecken, auch konnte sie mit dem Besteck leidlich umgehen. Sie tunkte den Teelöffel in das Honigglas und ließ einen Klecks in den Kakao rinnen; mit beiden Händchen umfasste sie die Tasse und trank die warme, mit braunem Pulver versetzte Milch mit schmatzenden Schlucken. Kerstin kaute inzwischen auf ihrem Salat und beobachtete ihren kleinen Gast. Wo kam sie her, wo waren ihre Eltern, warum war sie so spät allein auf dem Spielplatz, war sie gesund? Auf diese Fragen hatte sie keine Antwort, doch schien es dem Mädchen jetzt in ihrer Wohnung gut zu gehen. „Sollen wir Deine Eltern anrufen, Sharai?“, fragte sie. Wiederum antwortete sie nicht, doch der Klang des Namens Sharai schien ihr vertraut, rührte etwas in ihr an.

Die Küchenuhr zeigte gleich acht Uhr. Was sprach dagegen, das Mädchen heute Nacht bei ihr schlafen zu lassen? Kerstin nahm ihr Telefon und schaute auf Twitter, Facebook und dem Portal der Stadt nach, keine Nachricht der Polizei, dass ein kleines Mädchen vermisst wurde. Als sie wieder hochschaute, hatte das Mädchen den Kopf auf den Tisch gelegt, gestützt durch die Unterarme. Kurzerhand breitete Kerstin auf der Couch im Wohnzimmer ein Laken aus und holte zwei warme Wolldecken aus dem Wäscheschrank. „Sharai, Du bist wohl müde. Möchtest Du hier schlafen?“ Als Antwort bekam sie ein Lächeln, das wohl ein Ja sein sollte. Ohne Umschweife ging die Kleine ins Wohnzimmer, rollte sich auf der Couch zusammen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf, nicht einmal ausgezogen hatte sie sich. Kerstin deckte sie zu, öffnete leise die Balkontür und ging mit einer Zigarette nach draußen. Sie hatte schon gehört, dass Katzen manchmal Menschen zulaufen, aber Kinder? Doch es schien ihr vertretbar, sie eine Nacht bei sich zu behalten, morgen früh würden sie dann weitersehen. Sie atmete den Rauch aus und blickte in das Zucken der Blitze, der Donner grollte von ganz nah.