Singapur

Gut ist, wenn das Eröffnungsarsenal Varianten enthält, gegen die man sich in der relativ kurzen Zeit zwischen den Partien nicht so leicht vorbereiten kann. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Kramniks Wahl der Berliner Verteidigung gegen Kasparow, die Garris Angriffsdrang den Wind aus den Segeln nahm. – Judit Polgar

1978 duellierten sich Anatoli Karpow und Viktor Kortschnoi in Baguio auf den Philippinen, nun richtet mit Singapur zum zweiten Mal ein Land in Südasien ein Match um die Schachweltmeisterschaft aus. Der Stadtstaat inmitten der Inselwelt von Malaysia bietet eine neutrale Bühne für den chinesischen Titelverteidiger Ding Liren und seinen indischen Herausforderer Gukesh Dommaraju; er zeigt auch, wo im 21. Jahrhundert die Wachstumsraten für das Schachspiel liegen. Die sowjetische und danach russische Dominanz des 20. Jahrhunderts ist passé, Indien und China sind die bestimmenden Schachnationen dieser Tage.

Der Wettkampf wird im luxuriösen Resorts World Sentosa ausgetragen, einem ausladenden Hotelkomplex auf einer Insel an der Südküste Singapurs; den Titel des Weltmeisters holt derjenige Spieler, der zuerst 7,5 Punkte aus maximal 14 Partien holt. Für die ersten 40 Züge, während derer kein Remisangebot zulässig ist, haben die Spieler jeweils 120 Minuten Zeit, danach bleiben ihnen 30 Minuten für den Rest der Partie; eine Zugabe von 30 Sekunden pro Zug gibt es erst ab Zug 41. Sollte es nach 14 Partien noch unentschieden stehen, wird der Weltmeister in einer Verlängerung im Schnellschach ausgemacht. Die Preisbörse liegt bei 2,5 Mio. USD, für jeden Sieg erhalten die Spieler 200.000 USD, das verbleibende Geld wird danach hälftig geteilt.

Schachlich hat der Titelverteidiger Ding Liren, Jahrgang 1992, ein katastrophales Jahr hinter sich. Im April 2023 holte er sich in Astana die Krone gegen den Russen Ian Nepomniachtchi und spielte danach ein halbes Jahr keine klassische Partie mehr. Als er dann wieder bei Turnieren antrat, waren seine Ergebnisse am Brett schaurig; er machte leichte Fehler, wirkte fahrig und konnte deutlich bessere Stellungen nicht zum Gewinn führen. Er sprach offen über seine Depressionen, seine Schlafstörungen und seine Schwierigkeit, sich zu motivieren; in der Weltrangliste ist er auf Rang 22 abgerutscht. In das Match von Singapur geht er als krasser Außenseiter, von seinem soliden, kreativen und energischen Schach der Jahre 2018 bis 2020 scheint er irreal weit entfernt.

Ganz anders Herausforderer Gukesh Dommaraju. Der junge Mann, der deutlich älter wirkt als seine 18 Jahre und der bei aller Bescheidenheit den Charme eines Bollywoodstars verströmt, notiert mittlerweile auf Platz fünf der Weltrangliste. Das Kandidatenturnier in Toronto im April dieses Jahres gewann er überzeugend, bei der Schacholympiade im September in Budapest führte er die indische Mannschaft am Spitzenbrett zur Goldmedaille, ohne eine Partie zu verlieren. Er ist wie sein großes Vorbild Viswanathan Anand ein Rechenkünstler, der sich in taktischen Stellungen souverän zurechtfindet, seine Eröffnungsvorbereitung mit beiden Farben gilt als tief und originell. Der jüngste Herausforderer ist er bereits, lediglich die Chinesin Hu Yifan war mit ihren 16 Jahren beim Titelgewinn 2010 noch jünger.

Der Technologiekonzern Google ist sogenannter Titelsponsor des Matches. Dieses Investment hat seinen Sinn, hat die Google-Tochter DeepMind doch mit AlphaZero das bislang stärkste Schachprogramm der Geschichte vorgelegt. Google nutzt sein Engagement, um während der stundenlangen Live-Übertragungen der Partien auf seine Künstliche Intelligenz Gemini hinzuweisen. So sollte Gemini dem Publikum den Unterschied zwischen blunder und sacrifice erklären: Ein blunder beziehungsweise Patzer ist ein grobes Versehen, also ein Fehler, der zu einem meist spielentscheidenden Minus an Material, Raum oder Zeit führt; ein sacrifice beziehungsweise Opfer hingegen ist eine absichtliche Preisgabe an Material, die auf einen starken Angriff oder Zeitgewinn abzielt, im Wissen um das damit verbundene Risiko.

Allerdings tut sich Gemini mit Alltagsaufgaben schwer. So werden die gesprochenen Kommentare der Großmeister Jovanka Houska und David Howell synchron verschriftlicht, dabei ist die Sprache-zu-Text-Übertragung unfreiwillig komisch: Gukesh wird mal als „your cash“ wiedergegeben, der Knight wird zur „night“, rook takes c4 wird zu „rotates c4“. Die oft beschriebene Schwäche großer Sprachmodelle zeigt sich hier erneut: Die Algorithmen können verschiedene Sprachebenen nicht präzise auseinander halten, beim Schachspiel offenbart sich zudem neben Unsicherheit im fachlichen Vokabular ein Unverständnis des Zusammenhangs. Vielleicht lernt die KI im weiteren Verlauf des Matches noch, nach dem heutigen Remis in der sechsten Runde sind ja noch maximal acht Partien zu spielen.

Zwei ehemalige Champions äußern sich auffallend kritisch zum Wettkampf in Singapur. Magnus Carlsen, Weltmeister von 2013 bis 2023 und nach seinem freiwilligen Verzicht auf den Titel weiterhin die Nummer Eins der Welt sowie unbestritten stärkster Spieler der Gegenwart, moniert die Leichtigkeit, mit der die Spieler zu ihren Chancen am Brett kommen; hier sieht er ein Zeichen für ein dürftiges Niveau der Partien. Garri Kasparow, Weltmeister von 1985 bis 2000 und in den Augen vieler Schachfans der beste Spieler der Geschichte, geht gar so weit, dem Match den Status eines WM-Kampfes abzusprechen. Für ihn ist Magnus Carlsen der letzte Weltmeister der Tradition, in Singapur gehe es gerade noch um einen „FIDE-Titel“.

Der bisherige Verlauf des Wettkampfs straft derart wegwerfende Einschätzungen Lügen. In der ersten Partie wählte Ding mit Schwarz die auf Großmeisterniveau als halbseiden geltende Französische Verteidigung, trieb Gukesh erfolgreich aus seiner Vorbereitung, konterte seinen Opponenten überlegen aus und brachte den vollen Punkt nach Hause. Nach einem farblosen Remis in der zweiten Partie ließ sich Ding dann in der dritten Partie überraschen und büßte durch eine eklatante Unachtsamkeit einen ganzen Läufer ein, dieser Fehler kostete ihn die Partie. In der fünften Partie hatte Ding mit Schwarz wiederum einen beträchtlichen Vorteil, ließ aber Gukesh mit einer mutigen Vorwärtsverteidigung in die Punkteteilung entwischen.

Exweltmeister Viswanathan Anand, im Ehrenamt Vizepräsident der FIDE, ist regelmäßig zu Gast bei den Kommentatoren, seine Bemerkungen zu den Partien werden en passant zu einem Schachunterricht der Extraklasse. Anand ist Co-Gründer einer Schachakademie, die indische Talente frühzeitig erkennen und ganz nach oben führen will. Gukesh als einer der Absolventen dieser Akademie ist ein formidables Aushängeschild für diese Frühförderung nach sowjetischem Vorbild. Noch ist Cricket der Nationalsport in Indien, die junge Generation der Schachspielerinnen und Schachspieler könnte hier für eine Verschiebung der Publikumsgunst sorgen. Nach ihrem Doppelerfolg bei der Schacholympiade in Budapest wurden das Männer- und das Frauenteam vom begeisterten Ministerpräsidenten Narendra Modi empfangen. Sollte Gukesh nun den WM-Titel bei den Männern folgen lassen, würde in seiner Heimatstadt Chennai bis zum Platzen gefeiert werden – auch in Erwartung einer goldenen Ära.